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Zenon, Achilles und die Schildkröte PDF

191 Pages·2008·1.55 MB·German
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Wolfram Heinrich ZZeennoonn,, AAcchhiilllleess uunndd ddiiee SScchhiillddkkrrööttee Anmerkungen zu Zenon und Achilles, Ödipus und Altstadtklo und zu Mobilen Einsatzpoeten Autor: Wolfram Heinrich Via Casale 59 Tel. 00390974/967506 I-84048 Castellabate (SA) Website: www.theodor-rieh.de/heinrich/ E-Mail: [email protected] 2 Essays Inhaltsverzeichnis In dieser Zusammenstellung finden Sie Aufsätze und Artikel, die ich im Laufe der Jahre ge- schrieben habe. Kultur.............................................................................................................4 Zenon, Achilles und die Schildkröte.........................................................................................4 Von der Weisheit des Mythos und der Demut des Theaters.................................................13 Ein Jud bleibt immer ein Jud..................................................................................................26 Kaspar Hauser + 17. 12. 1833.........................................................................................33 Ein Volk, ein Durst, ein Cola..................................................................................................55 Steter Tropfen höhlt das Wort................................................................................................58 De Senectute - Vom Greisenalter..........................................................................................63 Die rasenden Dichter.............................................................................................................67 Rainer Werner F as s bi nder Der Macher von Verzweiflungs-Klamotten....................71 Vor der Grieb - Wo Altstadtkacken wieder Spaß macht........................................................76 Stellt euch vor, sie gäben einen Krieg...................................................................................80 Wie mir einmal der Landesvater erschienen ist.....................................................................84 "...fragt nicht nach Sitte, nicht nach Recht und Macht"..........................................................89 Ran an den Haken.................................................................................................................91 Politik...........................................................................................................94 Soldaten sind keine Mörder?.................................................................................................94 Gefährliche Ausreden..........................................................................................................100 Spenden?.............................................................................................................................104 Von Maßkrügen und Bomben..............................................................................................107 Der alternative Krieg............................................................................................................110 Offener Brief an Peter Gauweiler.........................................................................................114 Hohe Renditen bei der Firma Schloß & Riegel....................................................................115 Offener Brief der Mafia.........................................................................................................119 Zwei Systeme - Zweierlei Polizei.........................................................................................121 Strafanzeige gegen Springer-Kolumnist..............................................................................125 Meine Fresse, deine Fresse................................................................................................128 Türkische Ringermentalität..................................................................................................130 Der Geschmack von Freiheit und Abenteuer.......................................................................133 Das Hohe Lied vom braven Franz.......................................................................................135 3 Essays Straßenverkehr.........................................................................................148 Die Gefahren des Straßenverkehrs.....................................................................................148 Warum ich betrunken fahre..................................................................................................160 Betrunken fahren?...............................................................................................................163 Suchen, wo das Licht am hellsten.......................................................................................176 ...und links, zwei, drei...........................................................................................................186 Darennt................................................................................................................................190 4 Essays Kultur Zenon, Achilles und die Schildkröte Der vergessene Denker Costabile Matarazzo und Zenons Paradox von Achilles und der Schildkröte 1869 veröffentlichte der botanisierende Mönch Gregor Mendel einen Aufsatz über Experimente, bei welchen er die Gesetze der Vererbung entdeckt hatte. Der Aufsatz des wissenschaftlichen Außenseiters Mendel blieb 25 lange Jahre lang unbeachtet. 1959 veröffentlichte der philosophierende Journalist Costabile Matarazzo einen Aufsatz über seine verblüffenden Überlegungen zum Zenon’schen Paradox von Achilles und der Schildkröte. Der Aufsatz des wissenschaftlichen Außenseiters Matarazzo blieb bis heute unbeachtet. Um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, hat uns der griechische Philosoph Epimenides eine erlogene Geschichte überliefert. Ein Kreter habe einmal zu ihm gesagt: "Alle Kreter sind Lügner." Epimenides weist nach, daß diese Aussage eines Kreters über die Kreter in ein logisches Dilemma führt. Wenn es nämlich stimme, daß alle Kreter Lügner seien, dann müsse sein kretischer Gewährsmann selber einer sein, sei dessen Aussage folglich erlogen. Dann aber seien nicht alle Kreter Lügner, der kretische Gewährsmann könne also selbst einer dieser wahrheitsliebenden Kre- ter sein, was wiederum hieße, daß seine Aussage stimme, er selber also doch ein Lügner sei. Diese kleine Geschichte mit der sich im Kreise drehenden Schlußfolgerung verfolgt die abendländische Philosophie seit zweieinhalb Jahrtausenden. So richtig zufrieden ist man mit den vorgeschlagenen Lösungen bis heute nicht. Achilles und die Schildkröte Die lügnerischen Kreter sind ein Klacks im Vergleich zu dem Ärger, den ein Kollege des Epi- menides, Zenon von Elea, mit seiner Geschichte von Achilles und der Schildkröte der Phi- losophie beschert hat. Sie kennen die Geschichte natürlich, werden sie aber wahrscheinlich nicht mehr in allen Einzelheiten parat haben. Achilles, der große Krieger, läuft mit einer Schildkröte über - sagen wir mal - 200 m um die Wette. Da Achilles zehnmal schneller läuft als die Schildkröte, bekommt diese der Fairness 5 Essays halber einen Vorsprung von 100 m. Der Gesunde Menschenverstand beharrt darauf, und ist durch nichts von dieser Überzeugung abzubringen, daß Achilles die Schildkröte sehr bald eingeholt haben wird und damit den Wettlauf gewinnt. Und wenn der Gesunde Menschen- verstand soweit reicht, lineare Gleichungen mit zwei Unbekannten zu lösen, dann wird er bei unseren Ausgangszahlen errechnen können, daß Achilles die Schildkröte nach 111,111... m eingeholt haben wird. In diese Selbstverständlichkeit bricht Zenon ein und beweist mit logikscharfem Besteck, daß Achilles die Schildkröte niemals einholen wird, niemals einholen kann. In dem Moment nämlich, argumentiert Zenon, da Achilles den Startpunkt der Schildkröte erreicht hat, ist die- se ihrerseits 10 m weiter, also bei 110 m. Hat Achilles die 110 m erreicht, so ist er immer noch nicht bei der Schildkröte, denn die ist inzwischen wiederum 1 m weiter gekrochen, auf 111 m. Ist Achilles bei 111 m, so ist die Schildkröte bei 111,10 m, und so weiter, und so fort. Immer dann, wenn Achilles jenen Punkt erreicht hat, an dem die Schildkröte zuletzt war, ist die Schildkröte jeweils wieder ein Stück weiter, so daß Achilles im Laufe des Wettkampfes der Schildkröte zwar sehr, sehr nahekommen wird, sie aber niemals vollständig erreichen und - logischerweise - also auch niemals überholen kann. Denn die Schildkröte bleibt immer um ein winziges - wenn auch mit jedem Schritte winziger werdendes - Stück vor Achilles. Der Vorsprung der Schildkröte wird, so schlußfolgert Zenon, im Laufe der Zeit zwar unend- lich klein, völlig verschwinden aber wird er nie. Der schnelle Achilles bleibt also bei allem Strampeln stets hinter dem gemächlichen Tier. Dampfplaudereien Nicht nur Wissenschaftler, Mathematiker und Philosophen, haben sich im Laufe der Zeit mit dieser Geschichte befaßt. Anspruchsvollere Zeitschriften für das allgemeine Publikum grei- fen im Rahmen von philosophischen Plaudereien Zenons Rätsel gerne auf, wobei die kon- servativeren Blätter es häufig als Beispiel für die Begrenztheit menschlicher Vernunft be- nutzen. Aber auch in den seriöseren Blättern ziehen sich die Autoren gerne mit einigen all- gemeinen Bemerkungen über "Paradoxien" und "Gesunden Menschenverstand" aus der Af- färe. Zenons Paradox sei "nun mal nicht" (eine beliebte Floskel, wenn das Denken aussetzt) befriedigend aufzulösen, das habe noch keiner gekonnt, da könne man nichts machen. Aber immerhin sei es Zenons Verdienst, durch den Stachel seines Paradoxes die Entwicklung der Infinitesimalrechnung angeregt zu haben. Die Wissenschaft geht gründlicher an die Sache heran. Ein behördlich anerkannter Philo- soph rückt der Sache mathematisch zu Leibe und verkündet zuversichtlich, Zenons Parado- xie von Achill und der Schildkröte sei schon lange gelöst. "Achill holt die Schildkröte nach 6 Essays 111,111... m = 100+10+ m ein. Der Anschein einer Paradoxie entsteht dadurch, daß Achill sich auch nach Zurücklegung beliebig vieler der positiven Strecken 100, 10, 1, 1/10, 1/100,... immer noch hinter der Schildkröte befindet. Aber die Länge dieser Strecken wird eben immer kleiner und konvergiert gegen 0." Da hat er recht, der Philosoph. Die obige Formel ist so richtig, wie sie allbekannt ist. Kein Lehrbuch der Infinitesimalrechnung kann es sich verkneifen, einen Hinweis auf Achilles und seine Schildkröte einzuschieben. Stolz, den Trick mit der Unendlichkeit endlich kapiert zu haben, rechnet der Schüler die Gleichung nach, kommt zum richtigen Ergebnis und findet auf der nächsten Seite seines Lehrbuchs eine verschämte Anmerkung des Autors, ihm sei das Ganze trotz der mathematisch sauberen Rechnung immer noch irgendwie unheimlich. Das Unheimliche an Zenons Schilderung des Wettlaufs ist nämlich der - jeder Lebenserfah- rung Hohn sprechende - Eindruck von unglaublicher Mühseligkeit und Anstrengung, mit der Achilles einen Wegabschnitt nach dem anderen läuft und läuft und dabei der Schildkröte im- mer nur näher und näher kommt, sie aber lange und lange nicht erreicht. Ein Eindruck, der auch mit der Infinitesimalformel im Kopf nicht verschwindet. Vom Sein und der Verlegenheit In meinem Lehrbuch der Infinitesimalrechnung war zu lesen, daß die "Paradoxie des Zenon vom mathematischen Standpunkt aus nur so verstanden werden ...(kann)..., daß Achilles die Schildkröte zwar zu keinem Mal (niemals) innerhalb der unendlichen Folge einzelner Weg- und Zeitintervalle einholt, aber sie dennoch nach einer endlichen Zeitspanne, also nicht ‘nie’, tatsächlich erreicht." Diese Erklärung ist nun alles andere als zufriedenstellend. Sie läuft, in Alltagsdeutsch über- setzt, auf die Feststellung hinaus, daß Achilles die Schildkröte bestimmt irgendwann, vor dem Ende der Unendlichkeit, erreicht - aber: das kann dauern. Und: Auch dieser Schluß stimmt ganz offensichtlich nicht mit der Beobachtung überein, denn in der Realität wäre das ganze Rennen eine Sache von Sekunden. Auch den Lehrbuchautoren ist klar, daß dies nicht das Gelbe vom Ei ist, denn sie sprechen anschließend, sichtlich verlegen, von der "kontinuierlichen, bzw. diskontinuierlichen Struktur von Raum und Zeit", und von der "Unendlichkeit als potentieller Denkmöglichkeit, bzw. ak- tualer Wirklichkeit", flüchten sich also in das Seins–Gebrabbel des Irgendwie. Und weil ihnen diese Flucht in die Unverbindlichkeit der Ontologie durchaus bewußt ist fahren sie fort, die "verschiedenen Deutungsversuche im Laufe der Geistesgeschichte" hätten "letztlich nur er- kenntnistheoretische Bedeutung, während die reine Mathematik auch ohne sie" auskomme. "Denn die Mathematik schafft sich die Welt ihrer Wirklichkeit selbst." 7 Essays Entnervt erklären sich also die philosophierende Mathematiker - sicherheitshalber - für unzu- ständig und reichen den Schwarzen Peter an die Philosophie weiter, die es sich aber an- scheinend mit der mathematischen Formel ganz kommod eingerichtet hat. Alle Welt scheint sich um das Zenon’sche Paradox von Achilles und der Schildkröte herum- zudrücken. Letztlich versucht man uns einzureden, als denkender Mensch müsse man sich damit abfinden, daß logisches Denken zwar wunderbare Gebäude zu erzeugen vermag, die- se Gebäude aber gelegentlich unter einem sanften Fußtritt einfach zerbröseln. Paradoxien sind logischer Sprengstoff Paradoxien oder Antinomien sind die Hofnarren der Philosophie. Sie nehmen Prämissen, (inhaltlich) unstreitige Grund–Sätze, von denen jeder vernünftige Mensch ausgehen kann, ausgehen muß. Dann greifen sie sich - ebenso unstreitige - (formal–)logische Verknüpfungs- regeln. Der Baukasten ist komplett: Aus wahren Prämissen und richtigen Verknüpfungsre- geln kann - nein muß! - jeder vernünftig denkende Mensch zu wahren, d. h. mit der Realität übereinstimmenden Aussagen kommen. Fein. Und dann kommt die Realität aus ihrem Loch gekrochen und hat die Stirn, mit den aus wah- ren Prämissen korrekt abgeleiteten Sätzen nicht übereinzustimmen. Und das war’s dann? Darüber kann man mit einem schief–verlegenen Lächeln hinwegge- hen? Man kann es nicht! Solange eine logische Paradoxie unerklärt im Raum stehen bleibt, kann das nur dreierlei heißen: * Entweder ich bin nicht in der Lage, richtig zu beobachten, d. h. die scheinbar so evidente Realität ist gar nicht so, wie sie meinen menschlichen Augen erscheint. * Oder die Prämissen sind Makulatur. * Oder - wer wagt es, zu denken? - meine schöne Logik ist an einer Stelle undicht. So un- dicht, daß sie das Wasser der Wahrheit nicht halten kann. Wie auch immer: Wer denkt, weil er - abgesehen vom Genuß des Denkens an sich - irgend- wann auch ein Ergebnis mit nachhause nehmen will, der kann über Zenons Paradox nicht locker hinweghüpfen, den werden solche Paradoxien beunruhigen bis ins Mark. Denn - ma- chen wir uns das mal in aller Schärfe klar: * Daß Zenons Beweisführung falsch sein muß, wissen wir. * Wir wissen es aber nur deswegen, weil das Ergebnis der Beweisführung an diesem ei- nen Beispiel absolut absurd ist. So falsch - das ist allen klar - kann unsere Beobachtung gar nicht sein, Achilles wird zweifel- los die Schildkröte überholen. 8 Essays Solange wir jedoch nicht wissen, warum Zenons Argumentation falsch ist, bleibt ein folgen- schwerer Stachel im Gehirn. Was, so bleibt zu fragen, ist in jenen Fällen, in denen die lo- gisch so eindeutig scheinende Beweisführung ebenfalls falsch ist, das falsche Ergebnis die- ser fehlerhaften Beweisführung aber plausibel bleibt, der Fehler im Ansatz also nicht eindeu- tig und evident ins Auge springt? Können wir uns unter diesen Umständen noch auf unser wichtigstes Denkinstrument, die Logik, verlassen? Das Problem, das sich stellt, ist mit einem Computer vergleichbar, der eigentlich immer zu- verlässig arbeitet, bei einer bestimmten einfachen, leicht nachzuprüfenden Berechnung aber immer das falsche Ergebnis errechnet und keiner der Hard– und Softwarespezialisten kommt darauf, warum diese eine Sache immer falsch errechnet wird. Wirklich wichtige Be- rechnungen wird man diesem Computer nicht anvertrauen können, sondern einen anderen nehmen. Wir haben aber nur diese eine und einzige Logik. Costabile Matarazzo Elea, in dem Zenon als Philosoph wirkte, war 500 v. Chr. eine griechische Stadt. Es liegt in Süditalien, knapp 150 km südlich von Neapel. Knapp 30 km nördlich von Elea und zweieinhalb Jahrtausende nach Zenon wurde 1911 in Castellabate Costabile Matarazzo geboren. Er studierte in Neapel, später in Rom, Jura, Lite- raturgeschichte und Philosophie. In seiner Studentenzeit geriet er mehrmals wegen kriti- scher Äußerungen und Zeitungsbeiträge mit den Behörden des faschistischen Italien in Kon- flikt, so daß er schließlich Italien verließ, um sich in Brasilien niederzulassen. 1946 kehrte er nach Italien zurück, wo er als Freier Mitarbeiter für die Feuilletons verschie- dener italienischer Zeitungen und Zeitschriften schrieb. Er schrieb vor allem Theater– und Buchkritiken, versuchte sich hin und wieder auch als scharfsinniger und einfühlsamer Ge- richtsreporter bei Strafprozessen. 1959 hielt er in Vallo della Lucania - in Sichtweite des antiken Elea, was wörtlich zu verste- hen ist - einen Vortrag, in welchem er behauptete, das Zenon'sche Paradox von Achilles und der Schildkröte aufgelöst zu haben. Der Vortrag wurde unter dem Titel "Achilles, die Schild- kröte und die Zeitlupe - Das Paradox von ZENON im Lichte der modernen Kinematographie" in der "Rivista Scientifica Lucana" veröffentlicht. Wiewohl Matarazzo als Journalist italienweit einen gewissen Ruf genoß, wurde er als philo- sophierender Journalist offensichtlich nicht recht ernst genommen. Dazu mag beigetragen haben, daß Matarazzo das schwierige Thema auf eine leicht verständliche, angenehm les- bare Art und Weise dargestellt hat, ein Umstand, der auch einen ausgewiesenen Wissen- schaftler schnell in den Verdacht bringt, nichts Substantielles gesagt zu haben. 9 Essays Tatsache ist, daß weder Matarazzos Vortrag noch sein Aufsatz in der Folgezeit irgendeine Beachtung fanden.. 1996 ist Costabile Matarazzo in seinem Heimatort Castellabate gestorben. Die meisten Dinge sind einfach Nachdem Matarazzo das Problem dargestellt, seine Bedeutung herausgestrichen und die Grenzen der bisherigen Lösungsversuche aufgezeigt hat, kommt er zum Kern. "Unser Mathematiklehrer, hatte uns, die wir kurz vor dem Abitur standen, eine Hausaufgabe gegeben: Ein Spaziergänger will von Punkt A zum 5 km weit entfernten Punkt B gehen. Auf seinem Wanderhut sitzt eine Amsel, bereit, ebenfalls nach B zu fliegen. Der Spaziergänger geht mit einer gleichmäßigen Geschwindigkeit von 5 km/h, während die Amsel mit der zehnfachen Geschwindigkeit fliegt. In dem Moment, da der Fußgänger zu seiner Wanderung nach B aufbricht, erhebt sich auch die Amsel von seinem Hut. Wenn die Amsel bei B angekommen ist, dreht sie sofort um und fliegt zum Wanderer zurück. Ist die Amsel beim Wanderer, der inzwischen seinerseits ein Stück Weg zurückgelegt hat, angekommen, dreht sie sofort wieder um, fliegt nach B, dreht dort um, fliegt bis zum - inzwi- schen noch näher gekommenen - Spaziergänger usw. usf. - bis schließlich auch der Wande- rer bei B angekommen ist. Die Frage lautete nun: Wieviel Kilometer hat die zwischen dem festen Punkt B und dem ständig sich verändernden Punkt F (gleich Fußgänger) hin– und herpendelnde Amsel zu- rückgelegt? Vor Eifer glühend schloß ich mich an diesem Nachmittag in meinem Zimmer ein, konzen- trierte mich darauf, Bewegungsgleichungen für Fußgänger und Amsel aufzustellen. Mehrere Stunden lang hatte ich einen winzigen, aber entscheidenden Fehler im Ansatz, machte dann noch ein, zwei Rechenfehler und war schließlich - es war bereits weit nach Mitternacht - zum, wie sich herausstellte, richtigen Ergebnis gekommen. Unser Mathematiklehrer lobte mich am nächsten Tag für meinen Fleiß und meine Ausdauer, immerhin war ich der einzige in der Klasse gewesen, der das richtige Ergebnis gefunden hatte. Dann lächelte er uns an und meinte, es gebe noch einen anderen Ansatz. Der Fuß- gänger sei doch eine Stunde unterwegs? Wir nickten - ganz leicht auszurechnen. Also fliege logischerweise auch die Amsel eine Stunde. Wir mußten wieder nicken. Die Amsel erreiche 50 km/h, also müsse sie in der einen Stunde 50 km zurücklegen. Damals ging ich weinend von der Schule nachhause. Meine bleibende Erkenntnis aus dieser ebenso bitteren wie prägenden Erfahrung läßt sich so formulieren: 10 Essays Die meisten Dinge sind einfach. Sie werden erst durch schlaue Leute zum Problem. Zenon und die Zeitlupe Und dann fährt er fort: Es wird nun Zeit, sich endlich auf das Problem selbst zu konzentrieren. Lassen wir das Ren- nen mehrmals - unter verschiedenen Blickwinkeln - vor unserem geistigen Auge ablaufen. Wie würde ein unbefangener, philosophisch oder physikalisch nicht vorgebildeter Beobach- ter die Szene beschreiben? * Beide Sportler laufen los, die Schildkröte langsam, Achilles erheblich schneller. Bald hat Achilles die Schildkröte eingeholt, überholt und wird schließlich überlegener Sieger. Nun stellen wir uns einen physikalisch geschulten Beobachter vor und bitten ihn, den Ablauf des Rennens möglichst präzise festzuhalten: * Achilles ist anfangs bei Punkt 0, die Schildkröte bei Punkt 100 und beider Ziel ist Punkt 200. Nach einer gewissen Zeitspanne t ist Achilles bei 50, die Schildkröte dagegen (sie hat nur ein Zehntels des Weges von Achilles zurückgelegt) bei 105. Nach der doppelten Zeit 2·t ist Achilles bei 100, die Schildkröte bei 110. Nach der dreifachen Zeit 3·t ist Achil- les bei 150 und die Schildkröte bei 115. Achilles hat also die Schildkröte bereits überholt. Den Rest des Beobachtungsprotokolls kön- nen wir uns sparen. Zu guter Letzt lassen wir Zenon das Rennen beschreiben. * Achilles ist anfangs bei Punkt 0, die Schildkröte bei Punkt 100 und beider Ziel ist Punkt 200. Nach einer gewissen Zeitspanne t ist Achilles bei 100, die Schildkröte dagegen bei 110. Nach einer weiteren Zeitspanne 1/10·t ist Achilles bei 110, die Schildkröte dagegen bei 111. Nach wiederum einer Zeitspanne 1/100·t ist Achilles bei 111, die Schildkröte da- gegen bei 111,10, zum Zeitpunkt 1/1000·t, schließlich ist Achilles bei 111,10, die Schildkröte dagegen bei 111,11 usw. usf. Achilles wird die Schildkröte niemals einholen. Merken Sie was? Merken Sie den Unterschied? Der normale, physikalisch geschulte Beob- achter benutzt für seine Beschreibung gleiche Zeitabstände, Zenon dagegen wählt ein Beob- achtungsintervall, das von Meßpunkt zu Meßpunkt kleiner wird. Lassen Sie es mich Ihnen noch etwas anschaulicher darstellen: Stellen Sie sich vor, das Rennen zwischen Achilles und der Schildkröte wäre mit einer Filmkamera aufgenommen worden und unsere Beobachter sehen sich jetzt den Film an. * Der naive Beobachter läßt den Film einfach ablaufen und freut sich dran.

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Achilles die Schildkröte niemals einholen wird, niemals einholen kann Alle Welt scheint sich um das Zenon'sche Paradox von Achilles und der aller Öffentlichkeit treiben, aber, bitteschön, solange ihre Sado-Maso-Spiele auf.
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