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Zeit deines Lebens PDF

503 Pages·2010·0.95 MB·German
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1 Cecelia Ahern ZEIT DEINES LEBENS Roman Aus dem Englischen von Christine Strüh 2 ÜBER DIESES BUCH Lou Suffern ist ein »BWM«, ein Beschäftigter Wichtiger Mann. So wichtig und beschäftigt, dass er den 70. Ge- burtstag seines Vaters vergisst, seine Frau leichthin be- trügt und seinem kleinen Sohn noch nicht ein einziges Mal die Windeln gewechselt hat. Eines Tages verwickelt ihn ein Obdachloser namens Gabriel in ein Gespräch. Lou fühlt sich dem Unbekannten seltsam verbunden und ver- schafft ihm kurzerhand einen Job – was nun wirklich nicht seine Art ist. Doch auch Gabriel hat ein Geschenk für Lou: ein rätselhaftes Mittel, durch das Lou ein anderer wird … 3 IMPRESSUM Covergestaltung: bürosüd, München Coverabbildung: Ferenc B. Regös Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »The Gift« im Verlag HarperCollins, London © Cecelia Ahern 2008 Fur die deutsche Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009 Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt. ISBN 978-3-10-400637-6 4 Rocco und Jay, ihr seid das größte Geschenk – alle beide, gleichzeitig. 5 1 JEDE MENGE GEHEIMNISSE Wer früh am Weihnachtsmorgen an der Zuckerstangen- Fassade einer Vorstadtsiedlung entlangschlendert, kann wohl kaum umhin wahrzunehmen, wie sehr die Häuser mit ihrem Schmuck und Geglitzer den Päckchen ähneln, die hübsch eingepackt unter den Weihnachtsbäumen drinnen in den Wohnzimmern liegen: Hier wie dort ver- bergen sich Geheimnisse. So wie man versucht ist, am Geschenkpapier herumzuzupfen und die Päckchen zu schütteln, würde man am liebsten durch den Spalt zwi- schen den Vorhängen schauen und einen Blick auf die Familie beim Bescheren erhaschen – ein eingefangener Moment, der neugierigen Blicken sonst verborgen bleibt. In der sanften, geheimnisvollen Stille, die es nur an diesem einen Morgen im Jahr gibt, stehen die Häuser für die Augen der Welt draußen da wie bemalte Zinn- soldaten: Schulter an Schulter, mit geschwellter Brust und eingezogenem Bauch schützen sie stolz das, was sich darin befindet. Häuser am Weihnachtsmorgen sind Schatztruhen versteckter Wahrheiten – ein Kranz an der Tür wie ein auf die Lippen gelegter Finger, heruntergelassene Jalou- 6 sien wie geschlossene Augenlider. Irgendwann, zu ei- nem nicht genauer definierbaren Zeitpunkt, dringt durch die Jalousien und zugezogenen Vorhänge ein warmer Glanz nach draußen, der Hauch einer Ahnung, dass drinnen etwas geschieht. Wie Sterne am dunklen Nachthimmel, die fürs bloße Auge einer nach dem an- deren sichtbar werden, wie die winzigen Goldstück- chen, die zum Vorschein kommen, wenn die Flusskiesel abgesiebt werden, so gehen auch im Halblicht der Mor- gendämmerung hinter den Jalousien und Vorhängen die Lichter an. Und wie der Himmel schließlich im vollen Glanz der Sterne erstrahlt, so beginnt die Straße zu er- wachen, Zimmer für Zimmer, Haus für Haus. Am Weihnachtsmorgen senkt sich eine Atmosphäre tiefer Stille über die Welt draußen. Doch die leeren Straßen machen keine Angst, ganz im Gegenteil. Sie sind ein Inbild von Frieden und Sicherheit, und trotz der Kälte liegt gleichzeitig Wärme in der Luft. Aus vielerlei Gründen verbringen Familien diesen Tag des Jahres lie- ber im Haus, denn draußen ist es trüb, während sich drinnen eine Welt strahlender Farben entfaltet, in der mit solcher Inbrunst das Geschenkpapier aufgerissen wird, dass die buntschillernden Bänder, die zuvor alles 7 zusammengehalten haben, wie im Rausch zu Boden schweben. Weihnachtsmusik und festliche Düfte erfül- len die Luft, Zimt, Gewürze und alle möglichen anderen Wohlgerüche. Überall kommt es zu spontanen Ausbrü- chen von Freude, Zuneigung und Dankbarkeit, bunt und unberechenbar wie losgelassene Papierschlangen. Die Weihnachtstage sind Drinnen-Tage, keine Menschen- seele treibt sich freiwillig draußen herum, alle scheinen ein Dach über dem Kopf zu haben. Nur die Leute, die von einem Haus in ein anderes un- terwegs sind, bevölkern spärlich die Straßen. Autos fah- ren vor und werden ausgeladen. Aus weitgeöffneten Haustüren dringen Begrüßungsworte in die Kälte hi- naus, kurze Kostproben von dem, was drinnen vor sich geht. Und während man noch dabei ist, alles in sich auf- zunehmen, und sich mit dem Gefühl, man wäre hier ebenfalls eingeladen, bereitmacht, als fremder, aber dennoch gerngesehener Gast über die Schwelle zu tre- ten, da schließt sich plötzlich die Haustür und versperrt den Zutritt zum Rest des festlichen Tages – wie eine eindringliche Erinnerung daran, dass nur die Einge- weihten dort drinnen diesen Augenblick für sich in Anspruch nehmen dürfen. 8 In genau dieser Gegend mit ihren Spielzeughäuschen wandert eine einzige Seele einsam durch die Straßen. Diese Seele sieht die Schönheit der geheimnisvollen Häuserwelt nicht, nein, diese Seele hat es auf eine Aus- einandersetzung abgesehen, sie möchte die Schleife lö- sen und das bunte Papier wegreißen, sie möchte allen zeigen, was sich hinter der Tür mit der Nummer vie- rundzwanzig verbirgt. Für uns hat es keinerlei Bedeutung, womit die Be- wohner des Hauses mit der Nummer vierundzwanzig beschäftigt sind, aber wenn ihr es unbedingt wissen wollt: In diesem Augenblick greift ein zehnmonatiges Baby, etwas verwirrt von dem grünen, blinkenden, gro- ßen Gegenstand in der Zimmerecke, der furchtbar piekst, wenn man ihn anfasst, zögernd nach der glän- zenden roten Kugel, in der sich seltsam verzerrt eine vertraute Patschhand und ein zahnloser Mund spiegeln. Derweil rollt eine Zweijährige wohlig im überall he- rumliegenden Geschenkpapier herum, badet im Geglit- zer wie ein Nilpferd im Schlamm. Neben ihnen jedoch legt er eine Kette aus glitzernden Diamanten um ihren Hals. Ihr bleibt fast die Luft weg, sie presst die Hand auf die Brust und schüttelt ungläubig den 9 Kopf, wie man es manchmal bei Frauen in alten Schwarzweißfilmen sieht. Nichts von alldem ist wichtig für unsere Geschichte, aber für den Menschen, der im Vorgarten des Hauses mit der Nummer vierundzwanzig steht und auf die zu- gezogenen Wohnzimmervorhänge starrt, bedeutet es ei- ne Menge. Er ist vierzehn Jahre alt, und ein Dolch steckt tief in seinem Herzen. Was dort drinnen vor sich geht, kann er nicht sehen, aber seine Phantasie ist über- sättigt von den Tränen, die seine Mutter tagsüber weint. Deshalb kann er es erraten. Er hebt die Arme über den Kopf, holt kräftig aus und schleudert das Objekt, das er in den Händen hält, in Richtung der zugezogenen Vorhänge. Dann schaut er mit bitterer Freude zu, wie der fünfzehn Pfund schwere gefrorene Truthahn durch das Fenster von Nummer vie- rundzwanzig kracht. Die zugezogenen Vorhänge funk- tionieren einmal mehr als Barriere zwischen ihm und denen dort drinnen, bremsen den Flug des Vogels durch die Luft, doch sie können ihn nicht mehr aufhalten, und er landet, leblos, aber rasant – samt Innereien – auf dem Holzfußboden, schlittert und kreiselt ein paar Mal und kommt schließlich direkt unter dem Weihnachtsbaum 10

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