Theologie im Dialog herausgegeben von George Augustin, Klaus Krämer und Markus Schulze unter Mitwirkung des Kardinal Walter Kasper Instituts für Theologie, Ökumene und Spiritualität an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar Band 10 Joachim Söder / Hubertus Schönemann (Hg.) Wohin ist Gott? Gott erfahren im säkularen Zeitalter © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013 Alle Rechte vorbehalten www.herder.de Umschlaggestaltung: Verlag Herder Satz: dtp studio mainz | Jörg Eckart Herstellung: KN Digital Printforce, Erfurt Printed in Germany ISBN 978-3-451-30745-4 (cid:40)(cid:16)(cid:44)(cid:54)(cid:37)(cid:49)(cid:3)(cid:28)(cid:26)(cid:27)(cid:16)(cid:22)(cid:16)(cid:23)(cid:24)(cid:20)(cid:16)(cid:27)(cid:19)(cid:25)(cid:19)(cid:27)(cid:16)(cid:26) Erzbischof Robert Zollitsch zum 75. Geburtstag Inhalt Joachim Söder / Hubertus Schönemann Säkularität als Bedingung des Religiösen in den west- und mitteleuropäischen Gesellschaftn der entfalteten Moderne .................................. 9 Joachim Söder Säkularisierung als Herausforderung .................... 14 Ludger Honnefelder Religion in der Moderne ............................... 31 Michael Hochschild Der Flug durch die Wolken – Von Religion in postmoderner Gesellschaft ......................................... 49 Matthias Sellmann Säkularität: Die große Chance modernen Christseins ...... 64 Guido Bausenhart „Der neue Mensch“ – Perspektiven Josef Kentenichs ....... 86 Hubertus Schönemann Der Ruf und sein Echo – Zur Hermeneutik des Evangeliums nach dem „linguistic turn“ .............................. 121 Maria Widl Pastoraltheologie für säkulare Zeitgenossen – Eine praktisch- theologische Herausforderung .......................... 137 Hubertus Brantzen Der Gott des Lebens – Eine Spurensuche ................. 150 8 Inhalt Hans-Joachim Sander Jenseits des Gottes der Oblaten und diesseits eines überraschenden Gottes – Loci theologici an den Andersorten säkularer Rationalität ...................... 183 Lothar Penners Die Kunst, im Diesseits zu Glauben – Grundlinien einer psychologisch reflektierten Theologie .................... 212 Magnus Striet Kommen wir zur Sache! Glauben in einer entsicherten Welt ..................................... 235 Erzbischof Robert Zollitsch Gott erfahren in einer säkularen Welt .................... 250 Autorenverzeichnis ................................... 283 Joachim Söder / Hubertus Schönemann Säkularität als Bedingung des Religiösen in den west- und mitteleuropäischen Gesellschaften der entfalteten Moderne „Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sa- gen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder!“ Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft III 125 Nicht erst seit den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts – aber seitdem mit sich zunehmend beschleunigender Dynamik – lau- fen in den mittel- und westeuropäischen Gesellschaften, die seit dem 18. Jahrhundert von politischen, ökonomischen und geistesge- schichtlichen Revolutionen geprägt sind, gesellschaftliche Prozes- se ab, die unter dem Begriff Modernisierung zusammengefasst wer- den können. Sie bringen spezifische gesellschaftliche Wandlungen und Veränderungen mit sich, die insbesondere den Bereich des Ver- ständnisses und der Praxis des Religiösen und seiner Akteure und Institutionen in der Gesellschaft betreffen.1 Ungefähr bis zur letzten Jahrtausendwende sind diese Prozesse von der Soziologie mehrheit- lich als Säkularisierung im Sinne eines eindimensional und mono- polistisch verstandenen, linear ablaufenden und irreversiblen Pro- zesses des Bedeutungsverlustes von Religion beschrieben worden. In den vergangenen Jahren wächst mit dem Blick auf die Grenzen und Schattenseiten der Modernität (Postmoderne, entfaltete oder re- 1 Vgl. Hermann Lübbe: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Be- griffs, Freiburg i.Br.: Alber 1965; ders.: Religion nach der Aufklärung, Graz: Styria 1986; Jürgen H. Franz: Religion in der Moderne, Berlin: Frank & Timme 2009. 10 Joachim Söder / Hubertus Schönemann flexive Moderne) jedoch einerseits das Bewusstsein, dass die bishe- rige Säkularisierungsthese durch Theorieelemente der Individua- lisierung oder des Marktmodells des Religiösen zumindest ergänzt werden muss.2 Andererseits werden die gesellschaftlichen Entwick- lungen der ,späten Moderne‘ nicht mehr als einlinig ablaufender Pro- zess, sondern zunehmend als Differenzierung im Sinne der Gleich- zeitigkeit des Ungleichzeitigen, als „multiple Moderne“ (Karl Gabriel) gedeutet. Ohne der These von der Wiederkehr der Religion oder der „Wiederkehr der Götter“ zu verfallen, lassen sich vielmehr mindes- tens drei ursprünglich voneinander unabhängige Unterprozesse identifizieren, die in ihrem komplizierten Zusammenspiel den Pro- zess neuzeitlicher Säkularisierung ausmachen und charakterisieren: Neben der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilbereiche nach je eigenen Gesetzmäßigkeiten kann zweitens die Dispersion des Religiösen3, also die „Auswanderung“ und das Weiterwirken religiö- ser Symbolik und Deutungsmodelle in säkularen Lebensbereichen, und schließlich der Prozess des Abschmelzens kirchlich-institutio- neller Bindung und von der Institution eindeutig normierter religiö- ser Praxis (Entkirchlichung) beschrieben werden.4 In dem Maße, wie in der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme die In- stitution Kirche alle religiösen Bezüge auf sich zu vereinigen such- te, also eine Verkirchlichung des Religiösen stattfand, scheint in der Gegenwart die Entdeckung des Religiösen im „weltlichen Gewan- de“ eine neue Herausforderung zu sein. Eine solche Sichtweise von Modernisierung und damit verbundener Säkularität, wie sie sich im Weltkontext für West- und Mitteleuropa spezifisch darstellt, macht es möglich, einerseits Veränderungen und Abbruchprozesse zu be- schreiben, was die herkömmlichen Formate und Plausibilitäten tra- 2 Vgl. Danièle Hervieu-Léger: Religion und sozialer Zusammenhalt in Europa, in: Transit 26 (2003), 101–119; Grace Davie: Religion in Britain since 1945. Believing without Belonging, Oxford: Blackwell 1994; dies.: From Believing without Belon- ging to Vicarious Religion. Patterns of Religion in Modern Europe, in: Detlev Pol- lack / Daniel Olson (Hrsg.): The Role of Religion in Modern Societies, New York: Routledge 2008, 165–175; dies.: Why is Europe the most Secularized Continent?, in: Wilhelm Gräb / Lars Charbonnier (Hrsg.): Secularization Theories, Religious Identity and Practical Theology, Münster: Lit 2009, 63–74. 3 Vgl. Hans-Joachim Höhn: Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn: Schöningh 2007. 4 Vgl. Ulrich Ruh: Säkularisierung, in: CGG 18 (1982), 59–100.