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Wilfried Nippel Antike und moderne Freiheit PDF

20 Pages·2006·0.12 MB·German
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Wilfried Nippel Antike und moderne Freiheit Der Vergleich von antiker und moderner Freiheit ist durch einen berühmten Vor trag von Benjamin Constant von 1819, De la liberté des anciens comparée à celle des modernes, zum Bildungsgut geworden. Constant faßte darin prägnant eine seit dem späteren 18. Jahrhundert erkennbare Distanzierung von der politischen Vorbild- haftigkeit der Antike zusammen und bestimmte seinerseits den Fortgang dieser Diskussion bis in die Gegenwart. Dieser Strang der Rezeptions- und Wissenschafts geschichte soll im folgenden kurz skizziert werden. Seit dem Spätmittelalter ist das abendländische politische Denken durch die Auseinandersetzung mit der Antike geprägt worden. Im Vordergrund standen die Beispiele Spartas und Athens im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. sowie des republika nischen Roms. Die Einschätzungen wurden in einem hohen Maße von den Urtei len geprägt, die sich in der antiken Verfassungstheorie niedergeschlagen hatten. So wurde die athenische Demokratie vornehmlich im Lichte der Ausführungen bei Piaton und Aristoteles gesehen, die das Bild einer Massenherrschaft nahelegten, in der die Volksversammlung unter dem Einfluß von Demagogen zu einer rationalen Politik unfähig war und keine Beschränkung des Mehrheitswillens gelten lassen wollte.1 Demokratie galt nur als akzeptabel im Kontext einer Mischverfassung, ei ner in der Antike an den Beispielen von Sparta und Rom entwickelten Theorie, die in der Rezeption immer herangezogen wurde, wenn es um Konzepte einer in stitutionellen Machtverschränkung zur Verhinderung einer Tyrannis ging.2 1 Vgl. Jennifer Tolbert Roberts, Athens ort Trial. The Antidemocratic Tradition in Western Thought, Princeton 1994. 2 Dazu Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neu zeit, Stuttgart 1980; ders., Ancient and Modern Republicanism: ,Mixed Constitution' and ,Ephors', in: Biancamaria Fontana (Hrsg.), The Invention of the Modern Republic, Cambridge 1994, S. 6-26. 50 Wilfried Nippel Die Antike im Fortchrittsdenken des 18. Jahrhunderts Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde die Differenz zwischen Antike und ei gener Gegenwart hinsichtlich der Größenverhältnisse und der sozialen und öko nomischen Strukturen immer stärker betont. So ist in der schottischen, amerika nischen und französischen politischen Theorie immer wieder ventiliert worden, daß die Selbstregierung antiker Bürgerschaften auf kleinräumigen Bedingungen beruht habe, unter denen es möglich gewesen sei, daß sich alle Bürger zu einer Versammlung einfinden konnten. Unter den Voraussetzungen eines Flächenstaats sei dies nicht wiederholbar, hier könnten die Bürger nur auf dem Weg über Ver treter mitwirken. Die Diskussion um die notwendige Ersetzung einer Versammlungsdemokratie durch ein Repräsentativsystem bezog sich auch darauf, daß die ständige Partizipa tion aller Bürger mit den Bedingungen einer sich kommerzialisierenden Gesell schaft unvereinbar sei. In dieser erfolge der Erwerb auf friedlichem Wege, und die eigennützige Verfolgung ökonomischer Interessen durch die Bürger fördere den gesamtgesellschaftlichen Nutzen. So werde ein ökonomisches Niveau erreicht, das für auf ständige Kriegführung ausgerichtete Gesellschaften wie diejenigen der An tike jenseits aller Möglichkeiten gelegen habe.3 Allerdings konnte (von Verfechtern eines frugalen Lebensstils wie Mably und Rousseau abgesehen) Athen erheblich positiver bewertet werden als Sparta mit seiner Kriegergesellschaft, für die französi sche Autoren gern die Metapher vom „militärischen Kloster" verwendeten.4 Einer ungebrochenen Wertschätzung der athenischen Gesellschaftsordnung stand aber wiederum die von David Hume und Adam Smith begründete Kritik an der Insti tution der Sklaverei gegenüber, wobei die Sklaverei nicht primär aus ethischen Gründen verworfen wurde, sondern vor allem, weil sie dem ökonomischen Fort schritt abträglich sei.'' 3 Vgl. u. a. Luciano Guerci, Liberia degli Antichi e libertà dei Moderni. Sparta, Atene e i „philoso- phes" nella Francia del 700, Neapel 1979: Helmuth Schneider, Schottische Aufklärung und an tike Gesellschaft, in: Alte Geschichte und Wissenschaftsgeschichte. Festschrift Karl Christ, Darm stadt 1988, S. 431-464; Giuseppe Cambiano, Polis. Un modello per la cultura europea, Rom 2000, S. 260 ff. 4 So Diderot, zitiert bei Elizabeth Rawson, The Spartan Tradition in European Thought, Oxford 1969, S. 254; d'Holbach, zitiert bei Guerci (wie oben, A.3), S. 195. 5 Vgl. Moses I. Finley, Die Sklaverei in der Antike, München 1981, S. 31 ff. Heutige Wirtschafts historiker bezweifeln die These von der geringeren Produktivität der Sklavenarbeit, die zu ei nem der schlagendsten Argumente des Abolitionismus wurde; vgl. Jürgen Osterhammel, Skla verei und die Zivilisation des Westens, München 2000 (Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Themen, Bd. 70), S. 54. Antike und moderne Freiheit 51 Die Emanzipation der amerikanischen Gründerväter vom antiken Vorbild Eine ambivalente Einstellung zur Antike zeigt sich während der amerikanischen Revolution seit 1776. Hier wurde der rhetorische Rekurs auf die Vorbildlichkeit der Antike durch eine zunehmende Betonung der fundamentalen Differenz abgelöst. 6 Im höheren Bildungssystem der Kolonien hatte der Unterricht in der lateinischen und griechischen Sprache und Literatur eine herausragende Rolle gespielt; insofern waren Beispiele aus der Antike stets präsent,7 wobei man an Sparta (von einigen speziellen Punkten abgesehen) wenig Interesse zeigte. Besonders beliebt war es, po litische Pamphlete unter Pseudonymen zu publizieren, für die Namen aus der An tike gewählt wurden (Aristides, Phokion, Brutus, Cato, Helvidius Priscus, Publius, Publicola und viele andere).8 Für die Diskussion der Bundesstaatsproblematik be diente man sich gern vermeintlich antiker Beispiele (Achäischer, Aitolischer, Lyki- scher Bund), auch wenn man kaum Substantielles über sie wußte.9 Die Vorstellung von der Mischverfassung erfreute sich in unterschiedlichen Versionen großer Be liebtheit; die Stoßrichtung dieser Theorie zielte nicht mehr — wie in den englischen Verfassungskonflikten des 17. Jahrhunderts - auf die Beschränkung monarchischer Vollmacht, sondern auf die Kontrolle des Mehrheitswillens in der Legislative.10 Der unmittelbaren Demokratie nach dem Muster Athens wurde im allgemeinen (von Ausnahmen wie Thomas Paine abgesehen) eine Tendenz zur Tyrannei der Mehrheit unterstellt, die sich über individuelle Freiheitsrechte und das Privateigen tum hinwegsetze; die in einem solchen System unvermeidbaren Parteikämpfe 6 Vgl. Paul A. Rahe, Republics, Ancient and Modern. Classical Republicanism and the American Re volution, Chapel Hill, N. C, 1992. 7 Vgl. u. a. Louis Cohn-Haft, The Founding Fathers and Antiquity: A Selective Passion, in: The Survival of Antiquity. Smith College Studies in History, vol. XLV1II in Honor of Phyllis William Lehmann, Northampton, Mass., 1980, S. 137-153; Meyer Reinhold, Classica Americana. The Greek and Roman Heritage in the United States, Detroit 1984; Carl J. Richard, The Founders and the Classic. Greece, Rome, and the American Enlightenment, Cambridge, Mass. 1994. 8 Vgl. M. N. S. Seilers, American Republicanism. Roman Ideology in the United States Constitution, Washington Square, N.Y., 1994, S. 8 f. 9 Vgl. Gustav Adolf Lehmann, Die Rezeption der achaiischen Bundesverfassung in der Verfas sung der USA, in: Wolfgang Schuller (Hrsg.), Antike in der Moderne, Konstanz 1985, S. 171-182. - Die Kenntnisse über den Lykischen Bund beruhten allein auf einer Stelle bei Strabo(14, 3, 3 = 664C). 10 Vgl. Paul Nolte, Aristotelische Tradition und Amerikanische Revolution. John Adams und das Ende der klassischen Politik, in: Der Staat 27 (1988), S. 209-232; Harald von Bose, Republik und Mischverfassung — zur Staatsformenlehre der Federalist Papers, Frankfurt am Main 1989; Alois Riklin, John Adams und die gewaltenteilige Mischverfassung, in: Zeitschrift für Politik 38 (1991,) S. 274-293. 52 Wilfried Nippel schlössen Stabilität notwendig aus." John Adams ging so weit, in der grausamen Herrschaft der „Dreißig Tyrannen" in Athen 404/3 v. Chr. nicht das Gegenbild zur athenischen Demokratie, sondern die unvermeidliche Konsequenz des Systems ei ner Versammlungsregierung zu sehen. 12 Bei James Madison heißt es: „In allen Ver sammlungen mit sehr vielen Teilnehmern [...] gelingt es der Leidenschaft doch im mer, der Vernunft das Szepter zu entreißen. Wäre auch jeder athenische Bürger ein Sokrates gewesen, so wäre doch immer noch jede Versammlung der Athener eine des Pöbels gewesen."13 Wenn das athenische Volk über effektive Vorkehrungen „zum Schutz vor der Tyrannei seiner eigenen Leidenschaften" verfügt hätte, hätte es (wie es im Hinblick auf das Schicksal des Sokrates und die anschließende Reue der Athe ner14 heißt) dem „Vorwurf entgehen können, denselben Bürgern an einem Tag den Schierlingsbecher zu verordnen und ihnen am nächsten Tag Statuen zu weihen."15 Weil die Demokratien in der Vergangenheit an der in den Volksversammlungen herrschenden Konfusion und Ungerechtigkeit zugrunde gegangen waren, galt es für die Union eine Verfassung zu schaffen, die ein „republikanisches Heilmittel für die Krankheiten, die die republikanische Ordnung am ehesten befallen", darstellte.16 Mit dem Fortgang der Diskussion um eine Bundesverfassung, die schließlich 1787 verabschiedet wurde, wurde immer stärker die Kluft zwischen den antiken po litischen Organisationsformen und der in den Vereinigten Staaten von Amerika zu verwirklichenden politischen Ordnung betont, die eben auch dadurch bedingt war, daß die „betriebsame Lebensweise der modernen Menschen, die ganz vom Streben nach Gewinn in Anspruch genommen und mit der Verbesserung der landwirtschaft lichen und kommerziellen Erträge beschäftigt sind, [...] unvereinbar [ist] mit den Le bensbedingungen einer soldatischen Nation, wie sie in jenen [altgriechischen] Re publiken geherrscht haben" (so Alexander Hamilton).17 Hamilton hatte schon 1782 erklärt, daß angesichts der viel komplexeren gesellschaftlichen Strukturen eine Suche nach Modellen in der griechischen und römischen Antike genauso lächerlich sei, wie wenn man sich in der Gegenwart an Hottentotten oder Lappen orientierte.18 11 Z. B. The Federalist Nr. 10. Die Federalist Papers werden im folgenden zitiert nach: Alexander Hamilton, James Madison, John Jay, Die Federalist Papers, übers. u. hrsg. von Barbara Zehn pfennig, Darmstadt 1993. 12 John Adams, Defence of the Constitutions of Government of the United States of Amerika, in: The Works of John Adams, hrsg. von Charles Francis Adams, Bd. 6, Boston 1851, S. 102. 13 The Federalist Nr. 55 (S. 339). 14 Diogenes Laertius 2, 43. 15 The Federalist, Nr. 63 (S. 379), wahrscheinlich Madison. 16 The Federalist, Nr. 10 (S. 100), Madison. 17 The Federalist, Nr. 8 (S. 86). Antike und moderne Freiheit 53 Die Verfassungsväter verglichen sich zwar gerne mit den großen Gesetzgebern der Antike wie Solon und Lykurg, fühlten sich entsprechend der Verehrung, die diese in der Antike genossen hatten, als eine „Versammlung von Halbgöttern"," verstanden sich aber zugleich als Architekten einer völlig neuen Weltordnung. Die das Staatswappen zierende Formel vom novus ordo seclorum spielt auf Vergils 4. Ekloge an, die in einer langen christlichen Tradition als Vorhersage des durch das Erscheinen Christi begründeten neuen Weltzeitalters gegolten hatte.20 Thomas Pai ne schrieb 1776: „Wir haben die Möglichkeit, uns die edelste und reinste Verfas sung auf dieser Erde zu geben. Es liegt in unserer Hand, die Welt noch einmal zu beginnen. Eine solche Situation hat es seit den Tagen Noahs nicht mehr gege ben".21 Für Paine stellte sich dies 1792 im Rückblick als eine Konstellation dar, die jede Suche nach Informationen aus dem „obskuren Gebiet des Altertums" überflüs sig gemacht hatte.22 Alexander Hamilton und James Madison erklärten, man habe - entgegen der Behauptung Montesquieus, die sich immer noch die Gegner einer Bundesverfas sung zu eigen machten — erstmals zeigen können, daß sich dank des Repräsenta tionsprinzips eine Republik auf einem ausgedehnten Territorium errichten lasse und eine Stabilität gewinnen könne, die den reinen Demokratien des antiken Mo dells unerreichbar gewesen sei.23 Die Wahl von Repräsentanten ist für sie nicht nur ein praktisches Mittel, mit dem kompensiert wird, daß sich unmöglich alle Bürger an einem Platz versammeln können. Wäre es allein um das technische Problem ge gangen, hätte man genauso im Anschluß an die Verfahren der athenischen Demo kratie das Entscheidungsgremium durch Losverfahren bestellen können.24 Die Übertragung der Entscheidung auf gewählte, geeignete Vertreter gebe vielmehr auch eine weit größere Chance auf eine dem Gemeinwohl dienende Politik, als es bei einer ungefilterten Artikulation des Volkswillens der Fall sein könne. In einer Republik dieses neuen Typus, in der es keinen Platz für eine unmittel bare Ausübung von Regierungsfunktionen für das Volk in seiner Gesamtheit gab,25 waren Kontrollmechanismen zwischen den aus der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes hergeleiteten Verfassungsorganen nötig, bei denen das Eigeninteresse von Amtsinhabern an der Bewahrung ihrer Kompetenzen zugleich dem Schutz der Bürger dient. Die Idee der Mischverfassung wurde entsprechend in das Konzept ei- 19 Thomas Jefferson 1787, zitiert bei Rahe (wie oben, Anm. 6), S. 567. 20 Rahe (wie oben, Anm. 6), S. 336. 21 Thomas Paine, Common Sense, in: Thomas Paine, Rights of Man, Common Sense and other Po- litical Writings, hrsg. von Mark Philp, Oxford 1995, S. 53. 22 Thomas Paine, Rights of Man (wie oben, Anm. 21), S. 238. 23 The Federalist Nr. 9, 10, 14. 24 Vgl. Bernard Manin, The Principles of Representative Government, Cambridge 1997, S. 8 ff. 25 The Federalist, Nr. 63 (S. 381), wahrscheinlich Madison. 54 Wilfried Nippel ner funktionalen Gewaltenverschränkung („checks and balances") transformiert, das einerseits dem „Schutz des Volkes vor seinen eigenen zeitweiligen Irrtümern und Täuschungen"26 dienen und andererseits die Verknüpfung von Einzelstaaten und Bundesstaat in einer Ordnung, die „weder eine nationale noch eine föderative Verfassung, sondern eine Kombination beider" sein müsse,27 ermöglichen sollte. Bei einer solchen Ordnung hielten die Verfechter der neuen Bundesverfassung wie Hamilton und Jefferson einen Grundrechtekatalog im übrigen zunächst für über flüssig; die Verabschiedung der „Amendments" zur Verfassung stellte für sie einen Kompromiß dar, der angesichts anhaltender Kritik die Annahme des Verfassungs entwurfs sicherstellen sollte.28 Den Bruch mit den antiken Vorbildern hat Thomas Jefferson im Rückblick 1816 auf die Formel gebracht, daß man in der Antike zwar den Wert der persönli chen Freiheit gekannt, aber keine Vorstellung davon gehabt habe, wie man am be sten diese Freiheit erhalten könne. Mit dem in Amerika verwirklichten neuen Prin zip der Repräsentation habe die antike politische Theorie jegliche praktische Be deutung verloren.29 Dieses System hatte man zuvor ganz überwiegend als „Repu blik" - in Abgrenzung von „Demokratie" als Terminus für eine Versammlungsre gierung - bezeichnet. Nachdem es an diesem fundamentalen Unterschied zur An tike keinen Zweifel mehr gab, konnte auch der Demokratiegedanke mit dem Re präsentationsprinzip versöhnt werden, wie sich z. B. in einer weiteren Äußerung von Jefferson ebenfalls aus dem Jahre 1816 zeigt: „We of the United States [...] are constitutionally and conscientiously Democrats".30 Der neue Sprachgebrauch schlug sich dann auch in der berühmten Beschrei bung der USA durch Alexis de Tocqueville unter dem Titel De la Démocratie en Amérique (1835/40) nieder. Die Vereinigten Staaten erscheinen als Modell für die Erfolgschancen wie die Gefährdungen einer repräsentativen Demokratie, die auf von der Antike so grundsätzlich verschiedenen politischen und sozialen Strukturen basiert, daß jede Analogiebildung über die Epochen hinweg als völlig unangemes- 26 Ebd. (S. 379). 27 The Federalist, Nr. 39 (S. 249), Madison. 28 Vgl. Bernard Schwanz, The Great Rights of Mankind. A History of the American Bill of Rights, New York 1977; Ralph A. Rossum, The Federalist's Understanding of the Constitution as a Bill of Rights, in: Charles R. Kesler (Hrsg.), Saving the Revolution: The Federalist Papers and the American Founding, New York 1987, S. 219-233; S. 313-316; Lance Banning, The Sacred Fire of Liberty. James Madison and the Founding of the Federal Republic, Ithaca, N.Y. 1996, S. 281 ff.; zur Position der Gegner des Verfassungsentwurfs: Cecilia M. Kenyon, Men of Little Faith: The Anrifederalists on the Nature of Representative Government, in: William and Mary Quarterly 12 (1955), S. 3-43. 29 Zitiert nach Rahe (wie oben, Anm. 6), S. 18. 30 Brief an Dupont de Nemours; in: The Life and Writings of Thomas Jefferson, hrsg. von S. E. For- man, Indianapolis 1900, S. 191. Antike und moderne Freiheit 55 sen erscheinen muß: „Vergleiche ich die griechischen und römischen Republiken mit denen Amerikas [...]; und bedenke ich dann die Anstrengungen, mit denen man dieses [das amerikanische Volk] auf Grund von jenen zu beurteilen sucht, und wie man aus dem, was vor zweitausend Jahren geschah, das Kommende unserer Zeit voraussehen will, so möchte ich am liebsten meine Bücher verbrennen, um auf einen so neuartigen Zustand nur neue Gedanken anzuwenden".31 Die französische Revolution und die Antike Auch in der Zeit der französischen Revolution läßt sich ein Weg von der Antikebe- geisterung zur Antikekritik nachvollziehen, wobei die Entwicklung mit den Phasen der fortschreitenden Radikalisierung einerseits, der Reaktion auf den Terror der Ja kobiner andererseits korrespondiert.32 Eine durch die Plutarch- und Livius-Lektüre vermittelte Begeisterung für die tu gendhaften Staatsmänner der Antike gehörte zur Bildung der Revolutionäre und wirkte in ihrer Rhetorik nach. Besonders identifizierte man sich mit den Antagoni sten der Tyrannis. Die größte Popularität genoß Brutus, der am Sturz des letzten rö mischen Königs Tarquinius Superbus beteiligt gewesen, danach einer der ersten beiden Consuln der Republik geworden war (509 v. Chr.) und sich in dieser Eigen schaft nicht gescheut hatte, seine eigenen Söhne, die mit den Tarquiniern konspi riert hatten, hinrichten zu lassen, da er das Wohl der Republik über alles stellte. Brutus war der Titelheld eines nun immer wieder gespielten Dramas von Voltaire (von 1730) und Sujet eines großen Gemäldes des Revolutionsmalers David. Bru tus-Darstellungen nahmen einen zentralen Platz bei den öffentlichen Festen ein; sein Vorbild wurde in den öffentlichen Reden ständig beschworen, sein Name (wie auch diejenigen zahlreicher anderer antiker Figuren) wurde Straßen ebenso wie Kindern gegeben oder von Revolutionären (wie Camille Desmoulins) als Kampf name verwendet. Die Assoziation mit seinem späten Nachkommen, dem Caesar mörder Brutus (vergegenwärtigt durch ein weiteres, nun ständig aufgeführtes Stück Voltaires, La Mort de César), erhöhte noch die Resonanz in der Öffentlichkeit. Im Sitzungssaal des Konvents wurde seine Büste zusammen mit den Büsten von Ca- 31 Über die Demokratie in Amerika I, 2, Kap. 9; übers. von Hans Zbinden, Zürich 1987, Bd. 1, S.456 f. 32 Vgl. zum folgenden Harold T. Parker, The Cult of Antiquity and the French Revolutionaries. A Study in the Development of the Revolutionary Spirit, Chicago 1937; Claude Mossé, L'antiquité dam la révolution francaise, Paris 1989; weitere Literaturnachweise bei Wilfried Nippel, Repu blik, Kleinstaat, Bürgergemeinde. Der antike Stadtstaat in der neuzeitlichen Theorie, in: Peter Blickle (Hrsg.), Theorien kommunaler Ordnung in Europa, München 1996, S. 225-247, hier 56 Wilfried Nippel rnillus, Poplicola, Cincinnatus sowie denen von Solon, Lykurg, Piaton und Demo- sthenes aufgestellt.33 Auch Cicero erfreute sich großer Popularität. Sein Verhalten als Consul des Jah res 63 v. Chr., der bei der Niederwerfung der Catilinarischen Verschwörung das Heil der Republik über alle legalistischen Erwägungen gestellt hatte, wurde ver schiedentlich beschworen. Auf Ciceros Rechtfertigungsformel, das Wohl des Volkes müsse das oberste Gesetz sein (salus populi suprema lex), 34 berief man sich unter an derem zur Rechtfertigung der Hinrichtung des Königs,35 letztlich aber auch zur Si cherung der revolutionären Errungenschaften mit allen Mitteln, wie sinnfällig auch in der Bezeichnung des Hauptinstruments der jakobinischen Schreckensherrschaft (seit Oktober 1793) als Comité de Salut public („Wohlfahrtsausschuß") zum Aus- druck kam. Figuren der griechischen Geschichte wie Solon und Lykurg interessierten als Prototypen des Gesetzgebers. Wenn man bei der Verfassungsdebatte 1793 vergeb lich in der Nationalbibliothek nach einer Ausgabe der Gesetze des kretischen Kö nigs Minos suchen ließ,36 zeigt dies, daß man nicht unbedingt mit vertieften histo rischen Kenntnissen rechnen konnte. Zu den Revolutionsführern, die vergleichs weise gut mit der Antike vertraut waren, zählte Camille Desmoulins. Er brachte sei ne Vorliebe für Athen zum Ausdruck, weil hier, wie die Komödie zeige, völlige Frei heit der Meinungsäußerung geherrscht habe, wie sie für die Gegenwart vor allem in Form der Pressefreiheit gesichert werden müsse.37 Bei anderen, so bei Saint-Just, gab es eine Präferenz für das spartanische Modell, die sich in der Forderung nach ei nem nationalen Erziehungsprogramm niederschlug.38 Den Rückbezug auf die Antike sollte man in seinen praktischen Auswirkungen auf die Politik jedoch nicht überschätzen. Ernsthaft hat wohl keiner der Protagoni sten die Vorstellung gehabt, antike Modelle einfach auf die Gegenwart transponie ren zu können; für Robespierre liegt die Bedeutung von Primärversammlungen der Wähler in der Kontrollmöglichkeit gegenüber den Abgeordneten, er sieht dar- 33 Vgl. u. a. Josef Eberle, Die Toga der Bürgertugend. Römisches in der Französischen Revolu tion, in: ders., Lateinische Nächte, Stuttgart 1966, S. 258-280; Lothar Schuckert, Citoyen Bru tus: Aktualisierung der Antike in der französischen Revolution, in: Der Altsprachliche Unterricht 32, 4 (1989), S. 5-21; Antoinette u. Jean Ehrard, Brutus et les lecteurs, Cahiers Vilfredo Pareto. Revue européene des sciences sociales 27, no. 85 (1989), S. 103—113. 34 Cicero, De Legibus 3, 8. 35 Vgl. Rolf Reichardt, Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur, Frankfurt am Main 1998, S. 149. 36 Vgl. Pierre Vidal-Naquet, La place de la Grèce dans l'imaginaire des hommes de la révolution, in: ders., La démocratie grecque vue d'ailleurs, Paris 1990, S. 211-235, hier S. 221. 37 Camille Desmoulins, Le Vieux Cordelier, hrsg. von Pierre Fachet, Paris 1987, S. 124 f. 38 Vgl. u. a. Robert R. Palmer, The Improvement of Humanity. Education and French Revolution, Princeton 1985. Antike und moderne Freiheit 57 in aber keine grundsätzliche Alternative zum Repräsentativsystem.39 Eine Ausnah me stellt vor allem „Gracchus" Babeuf dar, der sein Programm einer revolutionä ren Neuverteilung des Bodens als eine Wiederbelebung antiker Traditionen ver stand.40 Wie immer man die tatsächliche Bedeutung der Antikerezeption für die Verfas sungsentwicklung im revolutionären Frankreich auch gewichtet, unmittelbar nach dem Sturz der Jakobinerherrschaft Ende Juli 1794 wurde von der Gegenseite be hauptet, die Jakobiner hätten als „Kopisten der Antike"'" antike Verhältnisse der Gegenwart aufzwingen wollen. Man habe zwar vorgegeben, die Franzosen zu Spar- tiaten machen zu wollen, tatsächlich aber wären sie zu einer großen Masse von He loten degradiert worden.42 Volney hat 1795 in seinen Vorlesungen an der École Normale die antiken politischen Ordnungen, in denen eine kleine Minderheit von Bürgern über große Massen von Sklaven geherrscht habe, mit orientalischen Des potien gleichgesetzt. Von allen Vorstellungen über eine Vorbildlichkeit der Antike müsse man sich daher definitiv verabschieden.43 Antike und moderne Freiheit - von Benjamin Constant zu Max Weber Die Topoi der Antike-Kritik des 18. Jahrhunderts finden sich in Schriften von Ben jamin Constant wieder, besonders in der eingangs erwähnten von 1819 über die Freiheit bei den Alten und den Modernen.44 Constant wiederholt einerseits die auf Hume zurückgehende Kritik an der völligen Ausrichtung der antiken Gesellschaf ten am Krieg; andererseits nimmt er die nachrevolutionäre Polemik gegen die Jako biner auf, sie hätten ihr Bild des „Klosters" Sparta als Vorlage für eine, mit Gewalt durchzusetzende, neue Gesellschaftsordnung genommen. Diesen Bestrebungen lag 39 Vgl. die Rede vom 10.5.1793 im Konvent über die Repräsentativregierung, in: Maximilien Ro bespierre, Ausgewählte Texte, übers. von Manfred Unruh, Hamburg 1989, S. 408 ff. 40 Vgl. Manfred Clauss, Die Rezeption der Antike bei Francois-Noël (Camille-Gracchus) Babeuf, in: Gymnasium 86 (1979), S. 81-94; zur Tradition der Agrargesetze: Alfred Heuß, Barthold Ge org Niebuhrs wissenschaftliche Anfange. Untersuchungen und Mitteilungen über die Kopenhagener Manuscripte und zur europäischen Tradition der lex agraria (loi agraire), Göttingen 1981. 41 So im Bericht des Thermidorianers Courtois aus dem Jahre III über die Vorgänge vom 9. Ther- midor mit Bezug auf Saint-Just; zitiert nach Bernard Vinot, Saint-Just, Stuttgart 1989, S. 300. 42 So der Abbé Grégoire wenige Wochen nach dem Sturz Robespierres; zitiert bei Jean-Christian Dumont, La Revolution francaise et Rome, in: Studi italiani di filologia classica 85 = 3. Serie, Bd. 10 (1992), S. 487-512, hier S. 490. 43 Constantin Francois de Volney, Lecons d'histoire, prononcées à l'École Normale en l'an III de la République Francaise, in: CEuvres. Deuxième édition complète, Bd. VII, Paris 1824, S. 1-135, hier S. 124-135. 44 In: Benjamin Constant, Werke in vier Bänden, Bd. 4: Politische Schriften, hrsg. von Lothar Gall, Berlin 1972, S. 363-396. 58 Wilfried Nippel nach Constants Urteil eine Verkennung der fundamentalen Differenz zwischen an tiker und moderner Freiheit zugrunde. Er nahm für sich in Anspruch, diesen Un terschied erstmals in aller Deutlichkeit auf den Begriff zu bringen. In der Gegenwart bedeute Freiheit für die Bürger, den Schutz der Gesetze vor willkürlichen staatlichen Maßnahmen zu genießen, seine Meinung frei äußern, ein Gewerbe nach eigener Wahl ausüben, über sein Eigentum frei verfügen und sich mit anderen zu Vereinen zur Pflege beruflicher, religiöser oder geselliger Zwecke zu sammenschließen zu können. „Schließlich bedeutet Freiheit auch [...] das Recht, auf die Regierung Einfluß zu nehmen, sei es durch Bestellung aller oder bestimmter Beamten, sei es durch Vorstellungen, Eingaben oder Anträge, die die Staatsgewalt zu berücksichtigen mehr oder weniger verpflichtet ist".4*' Ein repräsentatives Regie rungssystem ist die große Errungenschaft der Moderne; nur in diesem ist der Schutz der Individualrechte gewährleistet. Ganz anders sieht das Verhältnis zwischen dem Schutz individueller Rechte und der politischen Partizipation in der Antike aus: „Für sie [die Alten] bestand sie [die Freiheit] darin, gemeinsam mit anderen aber direkt einen erheblichen Teil der ge samten Souveränität auszuüben, auf dem Marktplatz über Krieg und Frieden zu entscheiden, mit fremden Völkern Bündnisse zu schließen, über die Gesetze abzu stimmen, Gerichtsurteile zu fällen, die Rechnungslegung, das Vorgehen im einzel nen, die Amtsführung der politischen Organe einer Prüfung zu unterziehen, sie vor das Volk zu zitieren, anzuklagen, zu verurteilen oder freizusprechen; während aber die Alten das alles als Freiheit bezeichneten, hielten sie die vollständige Unterord nung des einzelnen unter die Herrschaft der Gesamtheit mit dieser kollektiven Frei heit für vereinbar. [...] Alle privaten Handlungen unterliegen einer strengen Auf sicht. Nichts bleibt der persönlichen Selbständigkeit überlassen, weder was die Mei nungsbildung noch was die gewerbliche Betätigung noch was die Religion be trifft."46 Da die „Staatsgewalt" sogar „in die intimsten häuslichen Bereiche" ein dringt, bedeutet dies insgesamt, daß „bei den Alten der einzelne zwar fast durchweg souverän in nahezu allen öffentlichen Angelegenheiten, aber Sklave in allen priva ten Beziehungen [ist], [...] Bei den Modernen hingegen ist das in seinem privaten Dasein so selbständige Individuum selbst in den freiesten Staaten souverän nur dem äußersten Anschein nach",47 Constant betont, daß Athen insofern die große Ausnahme im Altertum darge stellt habe, als hier die Bürger ein weitaus höheres Maß an individueller Freiheit ge nossen hätten, als dies in Sparta oder Rom der Fall gewesen sei. Aber aufs Ganze gesehen, folge doch auch Athen insofern dem antiken Muster, als „der einzelne der 45 Ebd., S. 367 f. 46 Ebd., S. 368. 47 Ebd., S. 368 f.

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