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Wie ein Vogel im Aquarium. Aus dem Leben eines Managers PDF

106 Pages·1998·0.42 MB·German
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Daniel Goeudevert Wie ein Vogel im Aquarium Aus dem Leben eines Managers Rowohlt • Berlin Scanbutcher im April 2002 1. - 50. Tausend September bis November 1996 51.-65. Tausend Dezember 1996 Copyright © 1996 by Rowohlt • Berlin Verlag GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung Walter Hellmann Foto: S. H. Darchinger Satz aus der Berling und Frutiger [Linotronic 500) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 87134 281 5 Wer kriecht, kann nicht stolpern. Claude Weets Vorwort «Menschliche Eigenschaften wie Güte, Großzügigkeit, Offenheit, Ehrlichkeit, Verständnis und Gefühl sind in unserer Gesellschaft Symptome des Versagens. Negativ besetzte Charakterzüge wie Gerissenheit, Habgier, Gewinnsucht, Gemeinheit, Geltungsbedürfnis und Egoismus hingegen sind Merkmale des Erfolges. Man bewundert die Qualität der ersteren und begehrt die Erträge der letzteren.» John Steinbeck Eine Autobiographie zu schreiben ist ein schmerzhafter Prozeß. Es ist, als ob man sich selbst am offenen Herzen operiert - ein chirurgischer Eingriff bei vollem Bewußtsein, bei dem der Patient auch noch selbst das Skalpell führt. Warum habe ich mir das dennoch antun wollen? Eine Karriere ist nie die Geschichte einer Person: Sie ist immer die Geschichte von vie- len, Bekannten und Unbekannten, die dazu beigetragen haben, daß einer etwas Besonderes leisten konnte. Der Erfolg ist auch eine Verpflichtung, sich an diejenigen zu erinnern, ohne die das Gelingen nicht möglich gewesen wäre. Ich möchte dieses Buch deshalb auch als Ausdruck meiner Dankbarkeit verstanden wissen. Aber ich wollte mir mit diesem Buch auch Klarheit darüber verschaffen, woher ich ge- kommen bin und wer ich war. Mein Weg hinein in die Welt des sogenannten Topmanagements hat selbst im Rückblick noch etwas Rätselhaftes an sich - ich empfand mich wie eine Märchenfigur, die unab- sichtlich und ohne es zu wollen vom Schicksal vorangeschoben wird und für die sich am Schluß, allen Fährnissen zum Trotz, alles zum Guten wendet. Ganz so märchenhaft endete mein Weg nicht. Mein Ausscheiden bei VW erfolgte eher abrupt. Der Bruch mit einer Welt, die für Jahrzehnte auch meine gewesen war, zeitigte Folgen, die mich zum Nachdenken zwangen und meinen Blick auch auf mein eigenes Tun und Handeln veränderten. Während man über Jahre hinweg nur mit sich selbst konfrontiert und der Weg nach oben auch von einem zunehmenden Maß an Narzißmus und Autismus begleitet war, erzwingt das Schreiben eine andere Art der Selbstwahrnehmung: Man durchschreitet plötzlich den Spiegel der Selbstgefälligkeit, den man vor sich hatte, und sieht sich aus einer neuen, frem- den Perspektive. Man erkennt auch die Beschädigungen, die man sich selbst und anderen auf diesem Weg zugefügt hat. Man entdeckt ein neues, zuweilen prekäres Selbst. Dieses anzunehmen ist eine Form der Selbstliebe, die Oscar Wilde gemeint haben muß, als er so treffend bemerkte, sich selbst zu lieben sei die sicherste Art, sein ganzes Leben geliebt zu werden. 4 Und Liebe braucht jeder, egal ob Manager oder Handwerker. Oft werden zwar andere Begriffe genannt: Da ist die Rede von Verständnis, Sympathie, Achtung oder Respekt. Doch in der Semantik dieser Wörter schwingt immer Emotionales mit, ist Liebe immer mehr oder weniger mit gemeint. Es heißt, Leistung sei die Voraussetzung zu Zufriedenheit und Glück. Das glaube ich nicht. Die Erfahrung hat mich das Gegenteil gelehrt: Nur Menschen, die sich geliebt wis- sen, können große Leistungen vollbringen. Ich mag die Menschen und habe mich wohl deshalb in allen meinen beruflichen Aktivitä- ten immer auch gefühlsmäßig engagiert. Dabei verwechselte ich oft das Subjekt mit seinem Schatten, den Schein mit der Realität. Für bare Münze nahm ich etwa die Reaktionen auf meine Witze oder auch die kom- mentarlose Zustimmung zu meinen Analysen. Ich vermochte das höfische Zeremoniell nicht zu durchschauen, das auf der Vorstands- etage herrscht. Ich erkannte nicht, daß man dem Chef aus Prinzip nicht widerspricht und um ihn herum ein goldenes Gefängnis baut, das ihm unversehens zum Verhängnis werden kann. Der Mächtige weiß oft genug nichts von der schweren Goldkrone, die er trägt, und die Beziehung zu seinen Lakaien scheint ungetrübt - solange er auf dem Thron sitzt. Er be- kommt alles, was er will. Er umgibt sich mit einer Entourage nach seinem Geschmack und empfängt Menschen aus aller Welt, die den Kontakt zu ihm suchen. Im Glauben, daß das alles mit seiner eigenen Per- son zu tun habe, entfernt er sich weiter und weiter von der Realität des menschlichen Le- bens. Sein Schatten wird überlebensgroß, bis dahinter alles verschwindet: die Wirklichkeit, die anderen, und auch er selbst - bis er im wahrsten Sinne des Wortes ein Schatten seiner selbst wird. Wie wirklich ist die Wirklichkeit des Managers noch an dem Tag, da er geht oder gehen muß und glaubt, mit dem Abschied von seinem prächtigen Schreibtisch und anderen äußer- lichen Insignien seiner Herrlichkeit sei die Trennung vollzogen? Als ich bei VW ausschied, glaubte ich zuversichtlich an die Fortdauer zumindest eines großen Teils der Beziehungen, die sich über die Jahre entwickelt hatten. Ich irrte. Ich hatte mir eingebildet, zu denen, um die es mir ging, ganz normale und nicht zu irgendwelchen Zwecken funktionalisierte zwischenmenschliche Beziehungen zu haben. Die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. Schon in den Tagen unmittelbar vor meinem Ausscheiden, als ich auf Wiedersehen sagen wollte, meldete sich dieser oder jener nicht. Ich verstand nicht warum, ich hatte doch nur adieu sagen wollen. Später habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten und aus unterschiedlichen Gründen - aber gewiß nie auf der Suche nach irgendwelchen Vorteilen - versucht, Fäden, die gerissen waren, von neuem zu knüpfen. Und ich mußte die Erfahrung machen, daß was einmal selbstverständlich, mit einemmal unglaublich schwierig, meistens unmöglich geworden war. Beim ersten Anruf meldet sich freundlich die langjährige Sekretärin - der Chef sei leider gerade nicht frei. Dafür hat man Verständnis. Man ruft wieder an und realisiert, wie un- abdingbar ein Sekretariat offensichtlich für den Schutz eines großen Mannes oder einer großen Frau ist. Dieses zweite Telefongespräch wird dann schon nach allen Regeln der Kunst der Ausrede geführt. Kaum einer der Großen hat den Mut, selbst zum Hörer zu grei- 5 fen, um sich für seinen Zeitmangel zu entschuldigen, geschweige denn, diesen zu begrün- den. Man erhält erst gar keine Chance zu erklären, daß es nur um das schlichte zwischen- menschliche Anliegen geht, einen abgerissenen Faden wiederaufzunehmen. Warum in aller Welt soll es denn nicht möglich sein, solche Beziehungen wieder anzuknüpfen und weiter- zuentwickeln? Bin ich naiv, daß ich diese abrupte Verhaltensänderung nicht verstehen kann? Das waren doch Kollegen, mit denen so oft, über das Berufliche hinaus, persönliche Gespräche von Mensch zu Mensch geführt worden sind. Ich kann mir lebhaft vorstellen, daß auch andere in meiner Situation jenes Gefühl kennen, plötzlich persona non grata zu sein, als sei man von einer ansteckenden Krankheit ge- zeichnet, Träger eines gefährlichen Virus, der nur auf den Tag des Abschieds gelauert zu haben scheint, um dann sofort auszubrechen. Mit einem entthronten Herrscher wollen jene, für die er jahrelang ein wichtiger Partner war, nichts mehr zu tun haben. Man sagt, daß für gewisse Positionen ungeeignet sei, wer sich kein dickes Fell wachsen lasse. Nun, ein solcher Pelz schützt vielleicht gegen die Verletzbarkeit durch andere. Ich räume auch ein, daß sich hinter der Dickfelligkeit nicht zwingend ein abgebrühter und mit allen Wassern gewaschener Typ verbergen muß. Aber bei so einem Dickhäuter kann es auch zu einem Abbau der Empfindsamkeit kommen. Auch ein dickes Fell läßt irgendwann die Realität des Lebens nicht mehr bis in jene Zonen des eigenen Selbst vordringen, wo sie erst spürbar, fühlbar, erfahrbar wird. Die Gefahr, daß so einer bald ähnlich handelt wie die, gegen die er sich schützen wollte, ist groß. Das nächstemal ist er es, der Kontakte unvermit- telt abbricht und Leid und Schmerz im eigenen Kreis verschuldet. Ich werde immer wieder gefragt, ob ich meine mit Perserteppichen ausgelegte Wolfsbur- ger Bürosuite nicht vermisse. Es sind wahrhaftig nicht diese Attribute einer hohen Position, die mir heute fehlen. Es bedeutet für mich überhaupt kein Problem, von dort in einen schlichten Bungalow umzuziehen, wo ich meinen Schreibtisch stehen habe. Mir ein eigenes Büro einzurichten, darauf habe ich bewußt verzichtet. Aber was mich bis heute noch beschäftigt, ist dieses seltsame Verhalten der sogenannten oberen Etage, der Führungskräfte. Aber auch die Welt des «Normalen», der Menschen, für die man Autos gebaut und Pres- seerklärungen unterschrieben hat, um die man geworben hat, damit sie das eigene Produkt kaufen, ist einem fremd geworden. Kehrt man eines Tages in diese Welt zurück, so stellt man fest, daß man sie nicht mehr kennt. Das hat natürlich auch private Konsequenzen. Ohne Team und ohne die stützenden Stäbe des goldenen Käfigs muß man sein eigenes Gleichgewicht in Harmonie mit demjenigen des Partners oder der Partnerin finden. Auf diesen schwierigen Prozeß ist man nicht im geringsten vorbereitet. Der Manager ist menschlich gehandikapt, um nicht zu sagen: ein Krüppel, und zwar nicht weil es ihm an irgend etwas fehlte, sondern weil er zuviel hatte und überdies geglaubt hat, alles zu haben: Geld, Macht, Erfolg, Anerkennung, viele Kontakte, Beziehungen zu Men- schen, die ihm dauernd bestätigen, wie gut er sei. Dieses wonnige Gefühl, dessen er sich so sicher wähnte, ist eine Illusion, ein Schein. Es sind die vielen Dinge, die ihn arm machen. Er hat in einer Welt gelebt, die ihn den Bezug zu anderen Welten hat verlieren lassen. Das Problem des ausscheidenden Managers ist deshalb weniger ein Imageverlust als vielmehr ein Identitätsverlust. 6 Das Bild, das gemeinhin vom Spitzenmanager existiert, ist ein Mythos. Er wird - trotz al- ler Kritik, die gerade in jüngster Zeit aufgrund der Vorgänge um «Vulkan» oder Mercedes laut geworden ist - auf einen Sockel gestellt, der bei einem Absturz zwangsläufig eine be- trächtliche Fallhöhe aufweist. Die irreale Welt des Scheins, die ihn umgibt - nicht weil er seine Sache gut macht, sondern schon aufgrund der Tatsache, daß er der Chef ist -, läßt ihn früher oder später die «Bodenhaftung» verlieren. Er sieht, was andere in ihm zu sehen scheinen - die Spiegel der Selbstgefälligkeit, die seine Entourage eifrigst putzt, zeigen im- mer nur einen Kaiser in prächtigen Gewändern, auch wenn dieser schon nackt und bloß ist. Der Preis, den zahlen muß, wer aus diesem engmaschigen Netz des Narzißmus herausfällt, ist hoch - eine radikale psychosoziale Krise. Der Selbstmord des geschaßten Mercedes- Managers ist in dieser Kaste kein Einzelfall. Aber weder geht es mir in diesem Buch um quälende psychologische Selbstdiagnosen, noch dürfte ausgerechnet ich, der doch viele Jahre in dieser Welt mitgemacht und mit- gespielt hat, zu einer gnadenlosen Abrechnung mit ihren Verlogenheiten ausholen. Wohl aber möchte ich insoweit am Mythos kratzen, als ich auch die Wirklichkeit des Ma- nagements beschreibe, die doch häufig prosaischer und banaler, mit Fehlern und Schwä- chen behaftet und letztlich viel «normaler» ist, als das Getue von innen und außen glauben läßt. Ich möchte durch meine Beschreibung ein Stück Realitätshaltigkeit in diese Welt zurücktragen, auch damit darüber nachgedacht werden kann, was sich in ihr ändern müßte. Jenseits all dieser psychologischen Selbstdiagnosen glaube ich darüber hinaus, daß mein europäischer Lebenslauf eine Erzählung wert ist, besonders wenn ich sehe, wie fragil dieses Europäische Haus immer noch ist, in dem selbst die vermeintlich stabilen Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland bei der geringsten Unstimmigkeit umzukippen dro- hen. Ich möchte zeigen, daß eine europäische Karriere eine Selbstverständlichkeit, eine alltäglich von vielen gelebte und erfahrene Realität werden muß, wenn dieses Europa nicht nur rhetorisch propagiert, sondern wirklich Einheit werden will. Und letztendlich verstehe ich meine Autobiographie auch als eine Liebeserklärung an Deutschland. Dieses Land und sein Volk haben mir eine Möglichkeit gegeben, aus der eine Lebensgeschichte wurde, und aus mir das gemacht, was ich heute bin: ein glücklicher Sisyphos. 7 Kindertage Auf jeden Fall hat die herrliche Wärme, die über meiner Kindheit herrschte, keinerlei Ressentiments in mir aufkommen lassen. Ich lebte in begrenzten Verhältnissen, aber auch in einer Art Genuß. Alben Camus Ein Kind mit roten Haaren Anfang des Jahres 1942 wurde ich in Reims, Zentrum der Champagne und Metropole der Champagnerherstellung, geboren. Ich sollte Francis heißen. Auf dem Weg zum Rathaus, wo er meinen Namen melden sollte, begegnete mein Vater einem Freund, dem er stolz von der Geburt seines Sohnes erzählte, den er sich so lange schon gewünscht hatte. «Wie soll er denn heißen?» fragte der Freund. «Francis», antwortete mein Vater. «Um Gottes willen!» rief der Freund entsetzt. «Das ist ja ein furchtbarer Name.» «Wie soll ich ihn denn nennen?» fragte mein Vater verstört. «Nenn ihn doch Daniell Der Name wäre viel besser», erwiderte der Freund mit Be- stimmtheit. Mein Vater ließ sich überreden, und so erhielt ich den Namen Daniel. Mein Vater war Gendarm, Mitglied eines traditionsreichen Gendarmeriekorps, das bereits unter Napoleon gegründet worden war, um die Landbevölkerung zu unterstützen. Tag für Tag war er mit dem Fahrrad unterwegs zu den einsamen Gehöften, eine Arbeit, die schlecht bezahlt wurde. Er machte nie viele Worte, war aber sehr hilfsbereit. Seine Kontakte zur ländlichen Bevölkerung halfen uns, den Krieg zu überstehen; als es in den Geschäften kaum noch etwas zu kaufen gab, brachte er abends, wenn er heimkam, immer etwas zu essen mit. An die frühe Zeit meiner Kindheit habe ich nur sehr spärliche Erinnerungen. Vorlaut und frech soll ich gewesen sein. Meine Mutter erinnert sich noch heute an manch peinliche Situation, in die sie durch mich geriet. So kam beispielsweise eine Frau aus der Nachbarschaft regelmäßig, um unsere Nähma- schine auszuleihen. Meinen Eltern war ihr häufiges Erscheinen nicht recht, doch behielten sie ihren Unmut für sich. Ich kannte solche Hemmungen nicht. Und als die Frau eines Ta- ges wieder erschien, glaubte ich sie aufklären zu müssen: «Sie wollen also schon wieder die Maschine holen», stellte ich mißbilligend fest und fügte hinzu: «Das ist das letztemal, daß Sie diese Maschine bekommen. Sie gehen uns auf den Zwirn.» Meine Mutter brachte diese Szene in große Verlegenheit, und sie vermied es fortan, mich an häuslichen Gesprächen zu beteiligen. Aus heutiger Perspektive sehe ich in meinem frechen Mundwerk den Versuch eines Kin- 8 des, seine Männlichkeit einzuklagen und wahrnehmbar zu machen. Ich wurde erzogen wie meine zwei älteren Schwestern, eben wie ein Mädchen. Dazu gehörte auch, daß meine Mutter sich weigerte, mein Haar schneiden zu lassen, das mir in langen roten Locken über die Schultern fiel. Statt mich nun zurückhaltend zu geben und die Aufmerksamkeit der Leute nicht gleich auf mein ungewöhnliches Aussehen zu lenken, betonte ich dieses noch durch mein extro- vertiertes Auftreten. Ich ging auf alle möglichen Menschen zu, klopfte ohne Hemmungen an die Türen ihrer Häuser nur um mich mit ihnen zu unterhalten. Ich hungerte nach menschlichen Kontakten. Als General Eisenhower 1945 in einer Schule in Reims sein Hauptquartier errichtete, schloß ich Freundschaft mit einem schwarzen amerikanischen Soldaten, der meine An- hänglichkeit mit Kaugummi und Schokolade belohnte. Wir wohnten in der Nähe der Kaserne, und auf meinen täglichen Besuchsrunden beehrte ich auch die Frau des Capitaine, in dessen Korps mein Vater Dienst tat. Ich traf sie später wieder, und da erzählte sie mir, wie großmütig ich mich gezeigt hätte, als sie einmal die gewöhnlich für mich bereitgehaltenen Bonbons vergessen hatte. «Also, wenn Sie heute keinen haben, dann geben Sie mir morgen eben zwei, und dann ist das in Ordnung», soll mein Angebot gelautet haben. Mit sechs Jahren erreichte ich endlich, daß meine Mutter mich zum Friseur schickte und ich einen kurzen männlichen Haarschnitt bekam. Sommer in Fepin Die Sommermonate verbrachte ich bei meinen Großeltern in Fepin, einem kleinen Dorf mit zweihundertfünfzig Einwohnern am Ufer der Meuse in den französischen Ardennen. Ohne Zweifel habe ich in Fepin das Beste für mein Leben gesammelt. Es war ein einfaches und naturverbundenes Dasein, das meine Großeltern führten. Sie bewohnten ein kleines Haus mit Garten, und in den ersten Jahren, die ich dort verbrachte, gab es weder fließendes Wasser noch elektrisches Licht. Als eines Tages elektrische Leitungen gezogen wurden, muß ich den armen Installateur so geärgert haben, daß er erregt von seinem hohen Mast herunterstieg, mich packte und mich mit meinen kurzen Hosen in die Brennesseln steckte. «Wenn Sie den Bengel nicht einsperren, steige ich nicht mehr auf den Mast», drohte er meiner Großmutter. Zu den Kindern des Dorfes hatte ich kaum Kontakt. Für sie blieb ich ein Fremder, der Stadtjunge, dem man zeigen mußte, wer hier im Dorf das Sagen hat. Sie sangen Spottlieder auf meine roten Haare, sperrten mich ein und machten sich auf jede erdenkliche Weise über mich lustig. Auch deshalb überfiel mich während der Sommermonate zuweilen ein Gefühl der Ein- samkeit. Ich vermißte meine Eltern und wußte nicht, was ich mit mir selbst anfangen sollte. Aus lauter Langeweile dachte ich mir allerlei Spiele aus. Eines dieser Spiele bestand darin, daß ich von der Brücke, die über die Eisenbahnlinie führte, kleine Steinchen auf die Schie- nen warf. Durch beharrliches Üben brachte ich es dabei zu einer hohen Treffsicherheit. Als ich vor einigen Jahren nach Fepin kam, fand ich die Brücke wieder und konnte zu meiner großen Genugtuung feststellen, daß ich die kleine Kunst der Kindheit immer noch be- 9 herrschte. Die Einsamkeit meiner Tage war vorbei, wenn Großvater am späten Nachmittag von der Arbeit heimkam. Er arbeitete in einer Gießerei und mußte jeden Morgen zehn Kilometer auf einem alten Fahrrad zurücklegen, um zu seiner Arbeitsstelle zu gelangen. Nachmittags gegen vier Uhr kehrte er wieder zurück. Großmutter und ich erwarteten ihn meist schon auf der Bank vor dem Haus. Wenn ich das vertraute Klicken seiner genagelten Schuhe auf dem Kopfsteinpflaster hörte, wußte ich, daß er gerade auf der Straße, die einige Meter oberhalb des Hauses verlief, vom Fahrrad gesprungen war, weil das Rad keine Bremsen hatte, und sich gleich darauf das Gartentor öffnen würde. Großvater war wieder da. Während er in der Küche seinen Kaffee trank, erzählte er meiner Großmutter, was in der Gießerei alles vorgefallen war. Obwohl ich die Leute gar nicht kannte, von denen er sprach, und meist nur wenig von allem verstand, genoß ich diese Stunde der Erzählung. An den Wochenenden verbrachte er meist den ganzen Tag in den Wäldern, die sich rings um das Dorf zogen. Er liebte die Natur, mit der ihn eine tiefe innere Beziehung verband, eine Innigkeit, die mich beeindruckte und nicht ohne Einfluß auf mich blieb. Das Wappentier der Ardennen ist ein Wildschwein, und mein Großvater besaß im besten Sinne den Charakter eines Wildschweins. Er war sehr zurückhaltend, sprach nur wenig; an ihm sah ich, daß es nicht unbedingt vieler Worte bedarf, um seine Gefühle mitzuteilen - eine Erfahrung, die ich allerdings in bezug auf mich selbst nicht unbedingt beherzigte. Eines Sonntags nahm er mich mit in den Wald zum Holzschlagen. Er belieferte einen großen Teil der Dorfbewohner mit Holz, weil der Lohn in der Gießerei eher knapp bemes- sen war. Großmutter hatte uns Linsensuppe mitgegeben. Während Großvater noch mit dem Schlagen des Holzes beschäftigt war, bekam ich Hun- ger. Ich setzte mich hinter einen Holzstoß und begann, von der Linsensuppe zu kosten, und im Nu war der Blechtopf leer. Ein wenig später kam mein Großvater müde und hungrig von der Arbeit zu unserer Rast- stelle. «Komm, Daniel, jetzt essen wir», sagte er in erwartungsvoller Vorfreude auf die leckere Linsensuppe. Ich zog es vor, mich eiligst in den Wald zu verdrücken und nur zwi- schen den Baumstämmen hindurch einen Blick auf den schimpfenden Großvater zu riskie- ren, der voller Wut alles zusammenpackte und nach Hause marschierte. Meine Großmutter war überrascht von unserer vorzeitigen Rückkehr. «Warum seid Ihr schon zurück?» fragte sie. «Ich habe Hunger», erwiderte mein Großvater brummig. «Der Bengel hat alles allein aufgegessen.» In deutlicher Erinnerung sind mir die gemeinsamen Abende. Nach dem Abendessen, das meistens schweigend eingenommen wurde, setzten wir uns in der Küche um den eisernen Ofen. In dieser Gegend waren auch die Sommer kühl, und während es draußen dunkel wurde, verbreitete das Feuer eine behagliche Wärme. Meine Großeltern sprachen über den Garten, die Tiere und die Vorkommnisse im Dorf. Gebannt lauschte ich ihren Erzählungen und wünschte mir, die Zeit anhalten zu können. Diese Stunden im Land der Dämmerung hätten für mich ewig dauern können. Von Schla- fen wollte ich gar nichts hören. Erst wenn meine Großeltern schlafen gingen, war auch ich bereit, ins Bett zu gehen. Durch die Wand meiner Kammer konnte ich ihre Stimmen hören, wenn sie im Schlafzimmer ihre Gespräche fortsetzten - eine sanfte, harmonische Melodie, 10

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