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Wer nicht leiden will muss hassen : Zur Epidemie der Gewalt PDF

75 Pages·1993·0.478 MB·German
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HORST-EBERHARD RICHTER Wer nicht leiden will muß hassen Zur Epidemie der Gewalt HOFFMANN UND CAMPE Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Richter, Horst-Eberhard: Wer nicht leiden will muss hassen: zur Epidemie der Gewalt / Horst-Eberhard Richter. - 1. Aufl. - Hamburg: Hoffmann und Campe, 1993 ISBN 3-455-08538-5 Copyright © 1993 Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg Schutzumschlag- und Einbandgestaltung: Werner Rebhuhn Gesetzt aus der Garamond Antiqua Satzherstellung: Fotosatz Froitzheim, Bonn Druck und Bindung: Mohndruck, Gütersloh Printed in Germany INHALT DIE GEMEINSAME FRIEDLOSIGKEIT Ermutigung zur Scham 11 Illusion, kränkende Einsicht und vorsichtige Hoffnung 15 Aus Schaden klüger werden 39 ERINNERN, UM VORZUBEUGEN Erinnerungsarbeit und Zukunftserwartung der Deutschen 47 Verleugnen oder Trauern 60 »Action Gomorrha« Gedanken zum 50. Jahrestag des großen Bombenangriffs auf Hamburg 63 Helfende oder strafende Gesellschaft? Zur Selbstdefinition der vereinigten Deutschen 73 Der Westen und die Stasi-Debatte 86 DIE AUSLÄNDER UND DIE DEUTSCHEN Die verpaßte Chance der Politik 95 Rostock, Mölln, Solingen und wir Über die Wurzeln der eigenen Einstellung 98 Gegen Rassismus und Gewalt 116 Wir Deutschen sollten es wissen! 119 Deutsches Schwanken zwischen Minderwertigkeitsgefühlen und Überkompensation 123 Vorurteile über die Gewaltbereitschaft Jugendlicher 129 FRIEDENSBEWEGUNG UND MILITARISMUS Was können, was sollen die »Friedensärzte« für den Frieden tun ? 135 Nein zu Feindbilddenken und Rüstung! Laudatio für Helmuth Prieß 140 Warum schweigt die Friedensbewegung? 147 Das Unheilsrezept des Militarismus 154 Richtige und falsche Thesen über internationale Aufgaben deutscher Sicherheitspolitik 158 GESUNDHEIT UND GESELLSCHAFT Wieviel Gesundheit erlaubt unsere Zeit? 165 Familien- und Sozialtherapie im gesellschaftlichen Wandel Ein Gespräch mit Dagmar Hosemann 174 Hoffnung für die Kinder? 186 Warum Sport nicht gesünder sein kann als die Gesellschaft, die ihn organisiert 195 SIE HABEN DIE RICHTUNG GEWIESEN Dank an Willy Brandt 209 Zum Tode von Gert Bastian und Petra Kelly 212 TROTZDEM Gespräch mit Elisabeth von Thadden zum 70. Geburtstag des Autors 215 Literatur 221 Sollte Kierkegaard recht gehabt haben, als er sagte: Alle Greuel der Kriege werden nicht ausreichen: erst wenn die ewigen Höllenstrafen wieder Wirklichkeit sind, wird der Mensch aufgerüttelt zum Ernst. Ich wage zu glauben: Nein, die Höllenstrafen sind nicht der einzige Weg, der Mensch kann menschlich und wahr zu seinem Ernst kommen. Karl Jaspers DIE GEMEINSAME FRIEDLOSIGKEIT ERMUTIGUNG ZUR SCHAM Wir Deutschen hätten zur Zeit mannigfache Gründe zum Trauern. Die innere Vereinigung zwischen West und Ost, die uns so viel leichter schien als der wirtschaftliche Ausgleich, ist uns gründlich mißlungen. Wir haben unsere Selbstachtung gekränkt durch unsere Unfähigkeit zu geduldigem Zuhören, zum Verstehen, zum Vertrauen, wir im Westen speziell noch durch die Unwilligkeit zum Helfen und Teilen. Wir haben uns einreden lassen, wir müßten eiligst unsere Soldaten zum Befrieden oder zur Friedenserhaltung überall in der Welt bereitstellen, während wir im eigenen Land einer wachsenden Friedlosigkeit nicht nur zugeschaut, sondern diese mitverantwortlich gefördert haben. Haben wir nicht nach Hoyerswerda und Hünxe unseren großen Parteien gestattet, den Streit um die Abdichtung der Grenzen gegen Flüchtlinge wichtiger zu nehmen als deren Schutz gegen rechte Gewalt? Hätten wir nicht vorhersehen müssen, daß der schließlich geglückte Angriff auf den Artikel 16 von den Rechtsradikalen als Teilsieg und als Ermutigung zu neuer Offensive gefeiert werden würde? Aber da ist doch, so heißt es, bei den mörderischen Brandanschlägen nur eine Handvoll krimineller Gruppen am Werk gewesen - muß denn deshalb die Republik erzittern? Sie ist erzittert. Was die Täter ausgelöst haben, beweist, welches ungeheure Potential an Haß und Angst einen Teil unserer Gesellschaft unter der Oberfläche längst polarisiert hat. Es bedurfte nur eines Funkens, um die in der Stille weit fortgeschrittene Entsolidarisierung zu entlarven. Versöhnung geht nur über Trauern. Aber dieses war bislang ausgeblieben. Hoyerswerda und Hünxe waren schnell wieder vergessen. Und nach den Lichterketten schienen auch Rostock und Mölln bewältigt. Der faule Asylkompromiß wurde im Bundestag schon als die große soziale Befriedungstat gefeiert. Aber er war kein Sieg der Menschlichkeit, sondern des Festungs- Denkens. Versöhnt hatten sich Koalition und SPD, nicht aber die Menschen. Allerdings war auch das, was die Parteien zustande gebracht haben, nicht eigentlich Versöhnung. Sie haben sich opportunistisch verbündet, um einen - wiewohl als solchen nicht offiziell erklärten - äußeren Feind fernzuhalten, nämlich die Flüchtlinge als die vermeintlichen indirekten Anstifter der später gegen sie selbst verübten Anschläge. Jetzt steht vor dem Trauern noch die Barrikade des Mißtrauens. Was Solingen auslöste, war Empörung unter den bedrohten Gruppen und, wenn diese in der Entrüstung die Kontrolle verloren, klammheimlicher Triumph der Ausländerhasser, die ihre ethnozentristischen Vorurteile bestätigt sehen wollten. Und die Mehrheit? Sie war zuerst fassungslos und ging dann auch teilweise wieder demonstrierend auf die Straße. Aber was tut sie gegen den Haß? Es gibt viele gute praktische Ratschläge und auch manche rasche Initiativen zur Hilfe und zum Schutz für die Bedrohten. Aber vor dem Tun, das sonst allzu leicht wieder erlahmen kann, kommt noch etwas Wichtigeres, kommt das, was im Innern geleistet werden muß, damit das Tun später anhält. Wir haben zu trauern. Das heißt, uns einzufühlen in die Opfer, heißt aber auch, uns die schmerzliche Erkenntnis zuzumuten, daß wir alle mit dem zu tun haben, was die Täter in den letzten zwei Jahren an Verheerungen angerichtet haben. Die gewalttätigen Skins sind ein Teil unserer Gesellschaft, für den wir insgesamt mitverantwortlich sind. Sie verdienen für ihre Verbrechen die gebührende Strafe, aber wir dürfen ihre Zugehörigkeit zu uns und unsere Zugehörigkeit zu ihnen so wenig verleugnen, wie wir diejenigen in weite Ferne von uns abrücken dürfen, die unter Hitler schuldig geworden sind. Zum schmerzlichen Mitfühlen mit den Opfern gehört also auch die Scham, daß wir alle für die Entsolidarisierung, die durch den rechtsradikalen Terror bloßgelegt worden ist, mit einzustehen haben. Es fällt uns wahrlich schwer, diese Verantwortung, die unsere Leidensfähigkeit fordert, zu tragen. Denn es ist eine traditionelle deutsche - und in den letzten Jahren wieder gezielt geförderte unselige Unsitte, die Kraft zum Akzeptieren von Scham und Schuld mit schmachvoller Schwäche gleichzusetzen. Wir mögen nicht die Weinerlichen, die Larmoyanten, die Wehleidigen - wie wir alle diejenigen gern zynisch benennen, die uns daran hindern, unsere Schmerzverdrängung, die wir für tapfer, großartig und männlich halten, als kläglich zu durchschauen. Die Deutschen können besser hassen als trauern. Aber nur das Trauern, dessen Vermeidung nach 1945 uns Alexander und Margarete Mitscherlich einst vorgehalten haben, öffnet uns den Weg zur Versöhnung. Wir müssen uns und unseren kritischen Nachbarn zugestehen, daß wir uns in der Einbildung verschätzt haben, gegen die Anfälligkeit für Ethnozentrismus und Minderheitenhaß endgültig gefeit zu sein. Der Verfassungsschutz mag ja recht haben, daß die gewalttätigen Skinheads von rechtsradikalen Organisationen nicht unmittelbar gesteuert werden. Aber sie nähren sich von deren Ungeist. Einen hörte ich vor der Fernsehkamera sagen: »Wir machen doch nur mit der Hand, was ihr im Kopf denkt!« Indessen gewinnt die neonazistische Szene vor allem Einfluß auf solche schon geschädigte Jugendliche, die nach belasteter Kindheit und Verlust positiver innerfamiliärer Bindungen ihren letzten Halt in den rebellisch militanten Gruppen gefunden haben. Aber diese Jugendlichen flüchten nicht nur aus ihren Familien - oder was davon noch übrig ist -, sie verweigern sich auch mit verzweifeltem Trotz einer Gesellschaft, die wenig tut, um sie aufzufangen und ihnen Chancen für eine konstruktive Gestaltung ihrer Zukunft anzubieten. Schon mit dem Wort Zukunft darf man ihnen kaum kommen. Und müssen wir uns nicht fragen, ob wir gemeinsam intensiv genug versucht haben, die Zweifelnden und die Verzweifelnden unter den Jugendlichen an eine Zukunft glauben zu lassen, die wir mit hinreichendem Verantwortungssinn fürsorglich für sie vorbereitet haben? Soziale Unverantwortlichkeit entdecken wir zur Zeit in allen sozialen Schichten. Wir entlarven die Korruption in den Führungsschichten von Politik und Wirtschaft. Wo immer sich Macht angehäuft hat, mißtrauen wir, ob sie nicht mißbraucht wird. Und oft hat unser Mißtrauen recht. Die sozial Schwächeren, einst eine Zielgruppe sozialer Reformen, sehen sich in einem frostigen Ellbogenklima von zunehmender Desintegration bedroht. Immer mehr Druck wird von oben nach unten weitergegeben - und ganz unten entflammt dann die Gewalttätigkeit, die sich in höheren Etagen mit sublimeren Methoden Luft machen kann, als rohe Barbarei. Die Schwachen reagieren sich an den Allerschwächsten ab. Nun können wir, wenn wir wollen, die Brandstifter zu exotischen Bestien stempeln und uns ihrer in der entlastenden Sündenbock-Funktion bedienen. Aber wir haben auch die Chance, im Spiegel der Täter den eigenen Anteil und die eigene Mitverantwortlichkeit auf uns zu nehmen. Richard von Weizsäcker hatte den Mut, nach Solingen zu sagen: »Wenn Jugendliche zu Brandstiftern und Mördern werden, dann liegt die Schuld nicht allein bei ihnen, sondern bei uns allen, die Einfluß auf die Erziehung haben - bei den Familien und Schulen, bei den Vereinen und Gemeinden, bei uns Politikern.« Das sollte man nicht nur so verstehen, daß wir bei der Erziehung besser aufpassen sollten, sondern auch so, daß wir bei uns selbst nachsehen müssen, was wir an undurchschauter eigener Destruktivität an die Jugendlichen weitergeben. Es geht also nicht nur um Unterlassungen oder falsche Erziehungswege, sondern zugleich darum, welches Bild wir von uns als Personen und als Gesellschaft im Ganzen vermitteln. Uns diese Prüfung zuzumuten ist keine leichte Anforderung. Sie verlangt die Bereitschaft zur Scham - allerdings mit der Aussicht auf die innere Stärkung, die nur aus der Ehrlichkeit erwachsen kann. Sonst bleiben nur die Flucht in den Haß und das blinde Begehren nach Rache an denen, die unser verlogenes großartiges Selbstbild gefährden. So ist die These gemeint: »Wer nicht leiden will, muß hassen.« ILLUSION, KRÄNKENDE EINSICHT UND VORSICHTIGE HOFFNUNG Am 18. November 1992 haben sich 1600 Wissenschaftler aus 69 Ländern, darunter 101 Nobelpreisträger, mit einer dringenden »Globalen Warnung« an die Weltöffentlichkeit und an die Staatschefs von 160 Ländern gewandt. In ihrem Text haben sie kurz, präzise und allgemeinverständlich aufgelistet, wodurch die Weltgemeinschaft ihr eigenes Überleben und das Leben auf der Erde überhaupt akut bedroht: Vergiftung der Atmosphäre, Ausplünderung der Grundwasservorräte, die bereits in mehr als achtzig Ländern mit vierzig Prozent der Weltbevölkerung bedenklich geschrumpft sind, Verschmutzung der Meere, Zerstörung von Böden (seit 1945 Verlust landwirtschaftlicher Nutzfläche von mehr als dem Umfang Chinas und Indiens zusammengenommen), Dezimierung der Wälder, insbesondere der tropischen Regenwälder, voraussehbare Ausrottung eines Drittels aller lebenden Arten bis zum Ende des 21. Jahrhunderts - und dies alles bei völlig ungenügenden sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen zur Drosselung des explosiven Bevölkerungswachstums. Anstatt diese drängenden gewaltigen Probleme entschlossen anzugehen, so die Wissenschaftler, verpulvere die Weltgemeinschaft jährlich mehr als eine Trilliarde Dollar für die Vorbereitung und das Führen von Kriegen. Wörtlich heißt es dann: »Nicht mehr als eine oder ein paar Dekaden verbleiben, um die akuten und die voraussehbaren Bedrohungen für die Menschheit noch abzuwenden.... Entweder es gelingt eine fundamentale Umstellung in unserer Fürsorge für die Erde und das Leben auf ihr, oder wir gehen einem unermeßlichen menschlichen Elend und einer irreparablen Verstümmelung unserer globalen Heimstatt entgegen.« Die 1600 Unterzeichner des dramatischen Appells wünschten sich, »daß unsere Warnung die Menschen überall erreicht und aufrüttelt«. Statt dessen war das weltweite Echo so gering, daß beispielsweise die deutschen Medien von dem Appell kaum Notiz nahmen. Ich kenne keine deutsche Zeitung oder Wochenzeitung, die den Text ganz oder auszugsweise abgedruckt hätte. Erst nach fünf Monaten meldete sich der »Spiegel«, nachdem ich die »Globale Warnung« zum wiederholten Male öffentlich zitiert hatte, und erbat von mir die Angabe der Quelle, die nicht einmal ins »Spiegel-Archiv gelangt war. Ein Versehen? Wohl kaum. Denn wären die deutschen Agenturen nicht informiert gewesen, hätte ich die Nachricht nicht einer knappen Videotext- Meldung unmittelbar nach der Washingtoner Pressekonferenz entnehmen können. Das Verschweigen hat Methode. Allerdings wurzelt es ursprünglich kaum in irgendeiner obskuren Verheimlichungsstrategie der Medien, sondern es paßt zum Unwillen einer großen Mehrheit, die sich nicht ewig aufs neue mit einer lästigen Wahrheit konfrontiert sehen will, mit der man so oder ähnlich seit zwanzig Jahren u. a. durch Meadows, Jungk, Chargaff, Brown, den Club of Rome, die Internationalen Ärzte für Frieden und soziale Verantwortung (IPPNW), zuletzt durch den US-Vizepräsidenten höchstpersönlich bis zum Überdruß geplagt worden ist. Da prallen eben nun auch 101 Nobelpreisträger, die man wahrlich nicht einer aufrührerischen Protestbewegung zurechnen kann, auf eine Mauer gepanzerter Abgestumpftheit. Wenn die Prognose aber stimmt - und wer zweifelt daran ? -, daß uns nur noch eine sehr kurze Zeit für einen radikalen Wandel unseres Umgangs miteinander und mit der Natur verbleibt, dann müßte uns diese dramatische »Globale Warnung« doch wie ein Fieberschock durchschütteln und unsere letzten Selbstheilungskräfte mobilisieren. Was ist es, das von einer solchen sinnvollen, ja notwendig erscheinenden Reaktion abhält? Eine Theorie erklärt das Phänomen mit einem psychischen Spaltungsmechanismus. Der Amerikaner R. J. Lifton hat solche Spaltungen am Extremfall der »Ausrottungsmentalität« beschrieben. In einem abgespaltenen Teil des Selbst können Menschen Furchtbares registrieren, ohne zu erschrecken oder zu verzweifeln. Sie sehen klar, was an Schlimmem passiert oder zu passieren droht und was sie gegebenenfalls dazu beitragen. Aber es berührt sie innerlich nicht. Ihre Emotionalität schwingt nicht mit, sie ist wie abgeschaltet. In allen anderen Bereichen können die Betreffenden so uneingeschränkt wie bisher empfinden. Hier kommt ihr normales Selbst zur Geltung mit allen Gefühlen wie Sorge, Schuldgefühlen, Mitleid, Lust und Freude. Solche Spaltungsprozesse finden wir bei Soldaten im Krieg, die es lernen, sich inmitten grauenhafter Szenarien des Blutvergießens ungerührt zu bewegen. Sie spielen sich aber auch bereits alltäglich massenhaft im Angesicht von Bedrohungen ab, denen sich Menschen ohne Aussicht auf ein Entkommen oder eine aktive Bewältigung ausgesetzt erleben. Sie bringen es fertig, ihre Gefühle partiell von unerträglichen Wahrnehmungen und Vorstellungen zurückzuziehen. Es würde sie in chaotische Panik stürzen, sich den niederschmetternden Prognosen der »Globalen Warnung« ungeschützt auszusetzen. Zum Bewußtsein eigener Ohnmacht gesellt sich der Eindruck, daß keine Partei, kein Präsident, keine internationale Organisation noch eine Lösung der gewaltigen Probleme zu versprechen scheint. Also retten sich viele in die zitierte Spaltung, richten ihr Leben innerhalb eines verengten sozialen Horizonts ein und erreichen es, die Gefühlszufuhr zu den Schreckensbildern abzusperren. Wo sie können, ersparen sie sich die düstersten Informationen und sind den Medien für schonende Filterung dankbar. Was davon dennoch durchdringt, wird automatisch durch Dissoziierung entschärft. Die gefährlichsten Tatsachen werden gleichgültig, langweilig. Sie bedrücken nicht stärker als ein lästiger Bettler - ein Bild von Jens Reich. Aber die mechanische Spaltungstheorie erfaßt die psychischen Prozesse nur innerhalb eines umschriebenen Gesichtsfeldes. Ausgeklammert bleibt die Frage, warum wir denn überhaupt in diese letztlich lebensfeindliche Fehlentwicklung hineingeglitten sind. Drei Antworten scheinen möglich: 1. Das Unheil überfällt uns wie eine unvorhersehbare schicksalhafte Krankheit. Wir konnten die Verirrung nicht verhüten, weil sie uns durch unsere Gene oder durch höheren Ratschluß beschieden ist. 2. Wir sind Opfer von fehlerhaften Berechnungen und Fahrlässigkeiten, so wie etwa die Erbauer und die Kontroll-Ingenieure das Tschernobyl-Desaster verschuldet haben. 3. Der Hauptgrund für die Misere liegt in einem fundamentalen moralischen Versagen, nämlich in einer abwegigen als Fortschrittsmythos verkannten Grundhaltung zum Leben überhaupt. Die Anhänger der ersten Annahme sind zahlreicher, als oberflächlich erkennbar ist. Viele von ihnen halten sich bedeckt, wollen um sich herum keine Unruhe stiften. Andere vereinigen sich in mehr oder weniger bekannten Sekten, in denen sie sich auf das Weltende vorbereiten. Die quasi offizielle Theorie ist die zweite. Ihre Verfechter sind eine andere Fraktion der Naturwissenschaftler als jene, welche die »Globale Warnung« verfaßt haben. Es sind die Computer- Anbeter, die sagen: In wenigen Jahrzehnten werden wir die künstliche Intelligenz so perfektioniert haben, daß wir ihr die Lösung aller zur Zeit noch unbewältigten Probleme werden überlassen können. Die späteren Computer-Generationen werden das Zusammenleben unter uns und mit der Natur mit heute noch ungeahnter Verläßlichkeit steuern und vor bisher unvermeidbar scheinenden Großkatastrophen bewahren. Es ist eine nicht unbedeutende Gruppe von Forschern, die den prophetisch angekündigten Wundermaschinen der künstlichen Intelligenz wie einer neuen genialen Spezies entgegenharrt, die unsere Welt wieder in Ordnung bringen werde. Mit diesen Wissenschaftlern an der Spitze hat sich in Amerika sogar bereits eine regelrechte Bewegung formiert, die ihr Dogma von der heilvollen Allmacht der künftigen Computer hartnäckig gegen alle Zweifler verteidigt. Schon nimmt diese Bewegung die fanatischen Züge einer fundamentalistischen Glaubensgemeinschaft an. Mit Haß und Hohn auf Kritiker und Skeptiker verweisen ihre Anhänger auf das in der Tat faszinierende Tempo der Computer- Entwicklung und deren umwälzende Folgen. Ohne es zu durchschauen, beleben sie uralte, tiefwurzelnde Erlösungshoffnungen, indem sie die geweissagten Träger der künstlichen Superintelligenz in den Rang von unfehlbaren Heilsbringern erheben, die unser Geschlecht gerade noch rechtzeitig von den fatalen Konsequenzen unserer menschlichen Unzulänglichkeiten zu retten bestimmt seien - falls wir ihnen die gebotene Achtung und den schuldigen Gehorsam erweisen würden. Gegen die Deutung, daß dies nur die fragwürdige narzißtische Projektion eines Gottesbildes sei, würden sich die neuen Gläubigen natürlich leidenschaftlich verwahren. Diese Bewegung unternimmt den nur allzu verständlichen Versuch, die Theorie von einem stetigen Fortschritt unserer Kultur in einer plausibel erscheinenden Variante zu verteidigen. Sie repräsentiert die kühne Hoffnung, daß der menschliche Intellekt sich in der Form selbsterschaffener technischer Wesen auf höchster Stufe fortsetzen und vollenden werde. Es wäre in der Tat das wunderbare Endziel des mit Descartes, Spinoza und Galilei begonnenen Weges, die Natur definitiv intellektuell zu kontrollieren und alle bedrückende menschliche Abhängigkeit und Passivität in vollständige Dominanz und Aktivität zu verwandeln. »Je mehr Vollkommenheit ein Ding hat, desto mehr tätig und desto weniger leidend ist es, und umgekehrt, je mehr ein Ding tätig ist, desto vollkommener ist es«, so hatte Spinoza in seiner »Ethik« vor über dreihundert Jahren gelehrt. Die neuen Wundercomputer könnten uns die vollkommene aktive Kontrolle über die Natur bescheren. Kein Übel könnte uns mehr unberechnet überwältigen. Statt passiv einer gefährlich Ungewissen Zukunft ausgeliefert zu sein, würden wir diese in einem derzeit noch phantastisch anmutenden Ausmaß mit überlegenem Wissen aktiv steuern können -so kündet die Vision. Aber was ist mit den gefährlichen Triebkräften in uns, die uns durchaus auch zu unheilvollem Mißbrauch der intelligenten Maschinen verleiten können? Die Vordenker unseres Computer-Zeit- alters im 17. Jahrhundert sahen dieses Problem durchaus, nämlich die Aufgabe, nicht nur die äußere Natur berechenbar zu machen, sondern auch die innere mit ihren schwankenden Regungen und ihren dunklen Triebkräften. Ähnlich wie später Freud hatte Spinoza bereits das Ziel beschrieben, Affekte in klare und deutliche Ideen zu verwandeln, das heißt, die aus dem Innern spontan auftauchenden Emotionen der Herrschaft des Bewußtseins zu unterwerfen. Wo Es war, soll Ich werden, so charakterisierte dann Freud diesen Vorgang. 1923 schrieb er: »Das Ich repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaften enthält.« Das Ich verglich er mit einem Reiter, dem die Aufgabe zufalle, die Leidenschaften des Es wie die Kräfte eines Pferdes zu zügeln. Fest glaubte er daran, wie seinem Brief an Albert Einstein von 1932 zu entnehmen ist, daß der organische Kulturprozeß den Menschen die Lösung dieser Aufgabe zunehmend erleichtern werde: »Die mit dem Kulturprozeß einhergehenden psychischen Veränderungen sind auffällig und unzweideutig.« Dazu gehöre vor allem »die Erstarkung des Intellekts, der das Triebleben zu beherrschen beginnt«. Damit drückte Freud die allgemeine Überzeugung aus, daß nämlich in der Kulturentwicklung der Fortschritt in Wissenschaft und Technik mit einer Höherentwicklung der Menschlichkeit automatisch verbunden sei. Selbstverständlich erschien es demnach, daß die in der wissenschaftlichtechnischen Entwicklung führenden Völker auch auf dem Wege der gesellschaftlichen Humanisierung vorangehen würden. Hätte der Hitler-Krieg mit den Grausamkeiten von Auschwitz nicht bereits diese Illusion zerstören müssen? Erwies er nicht unmißverständlich, daß eine zu den höchsten Leistungen in technischer Wissenschaft gesteigerte Intelligenz sich mit brutalen Instinkten nicht nur vertragen, sondern sich sogar von diesen in Dienst nehmen lassen kann? Angesichts der Greuel des gerade erst besiegten Nazi- Regimes schrieb Max Horkheimer 1946: »Das Fortschreiten der technischen Mittel ist von einem Prozeß der Entmenschlichung begleitet. Der Fortschritt droht das Ziel zunichte zu machen, das er verwirklichen soll - die Idee des Menschen.« Aber im Blick auf die Völkergemeinschaft, die das Prinzip der Humanität unter schweren Opfern siegreich verteidigt hatte, schwang sich derselbe Horkheimer zu der optimistischen Vision auf: »Die gegenwärtigen Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Vollendung übertreffen die Erwartungen aller Philosophen und Staatsmänner, die jeweils in utopischen Programmen die Idee einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft umrissen haben.« Das Ziel schien greifbar nahe, die Werte, zu deren Schutz man den verlustreichen Krieg gegen das System der Unmenschlichkeit geführt hatte, in der Friedensgesellschaft erfolgreich zu verwirklichen. Indessen nahm Hitler die Macht der Destruktivität nicht mit sich ins Grab, so sehr er durch die Einzigartigkeit seiner Verbrechen die Sieger zu dem Glauben verführte, mit seiner Niederlage den Untergang des Bösen schlechthin feiern zu dürfen. Es brauchte Zeit, ehe eine sehr gewichtige Erkenntnis Beachtung fand, nämlich daß dieser Krieg dank erfolgreicher Rüstungswissenschaft beiderseits eine neue Dimension von furchtbarer Massenvernichtung eröffnet hatte. Wissenschaftliche Intelligenz, die der Vernunft zu unaufhaltsamem Fortschritt verhelfen sollte, hatte mörderische neue Waffensysteme ersonnen. Auf deutscher Seite waren es hochrenommierte Physiker, die für Hitler Fernraketen mit verheerender Wirkung für die beschossene Zivilbevölkerung gebaut hatten. Nun geschah aber etwas von symbolischer Bedeutung. Die Sieger hatten nichts Eiligeres zu tun, als sich der deutschen Wissenschaftler zugunsten der eigenen Raketenproduktion zu bemächtigen, ohne diesen Männern ihr Engagement für den Hitler-Krieg besonders anzukreiden. Da war eine gehörige Portion Opportunismus im Spiel. Aber man konnte auch die Interpretation herauslesen: Dem forschenden Intellekt glaubt man zugute halten zu dürfen, daß er getrennt von moralischer Sensibilität und politischem Verantwortungssinn zu funktionieren vermag, ja vielleicht sogar dieser Spaltung seine Erfolge verdankt. Der britische Physiker F. Dyson zog den Schluß: »Wissenschaft und Technik haben das Böse anonym werden lassen.« Eine amerikanische Kommission, in der Sozialwissenschaftler und Mediziner mitwirkten, sollte prüfen, ob die amerikanische Bevölkerung bereit sei, eine Politik mit dem Risiko des Atomkrieges zu unterstützen. Eine ihrer Empfehlungen lautete: Es sei schädlich, Angst vor der Vernichtung zu schüren, »weil sie viele veranlaßt, einen Atomkrieg um jeden Preis verhindern zu wollen«. R. J. Lifton berichtet in seinem Buch »Die Psychologie des Völkermordes« über einen eindrücklichen Vorgang aus dem Jahre 1943. Damals hatte der italienische Physiker Enrico Fermi dem Leiter des amerikanischen Atombombenprojekts Robert Oppenheimer vorgeschlagen, die deutschen Lebensmittelvorräte mit radioaktivem Abfall zu vergiften. »Nachdem Oppenheimer diesen Gedanken ernsthaft erwogen und mit anderen diskutiert hatte, beschloß er, daß Strontium 90 am geeignetsten wäre, riet jedoch abzuwarten: >Wir sollten den Plan erst umsetzen, wenn wir mindestens eine halbe Million vergiften können. <« -Oppenheimer, als Vater der Atombombe bekannt, war ein empfindsamer Mensch ohne jede Neigung zur Brutalität. Die Begebenheit läßt vermuten, daß bei ihm genau jene zuvor erörterte abgespaltene Abstumpfung vorlag. Während die Kriegsforschung unter besonderen Zwängen stand, erweist sich inzwischen, daß die zivile Naturwissenschaft im Bunde mit ökonomischen Interessen für kaum minder schwerwiegende Gefahren und Schäden verantwortlich ist. Ihre destruktiven Eingriffe in Lebenszusammenhänge erfolgen in der Regel nicht aus fehlerhaften Berechnungen, sondern infolge durchaus vorhersehbarer Risiken. Es erscheint nicht abwegig, wenn der namhafte Biochemiker Erwin Chargaff fragt, ob nicht bereits die Spaltung des Atomkerns und die »Ausbeutung des Zellkerns« Gewaltakte darstellen, die hätten unterbleiben sollen. Jedenfalls mißachtet der wissenschaftlich-technische Fortschritt ganz offenkundig viele Grenzen, die uns unsere beschränkte Rolle im gesamten Lebenszusammenhang zuweist. Wie sollte eine perfektionierte künstliche Intelligenz der Zukunft uns lehren, diese Grenzen besser zu respektieren? Es gibt eine, wie Chargaff es nennt, Brutalisierung der wissenschaftlichen Phantasie, die nicht wegprogrammiert werden kann. Diese Brutalisierung stammt aus der Emotionalität und wird ebensowenig wie andere emotionale Antriebe hinreichend durchschaut, deren zunehmende Domestizierung durch den Kulturprozeß man sich vergeblich einbildet. Die Naturzerstörungen, mit denen uns die »Globale Warnung« konfrontiert, spiegeln eine Gewalt wider, deren wir uns insgesamt nicht bewußt sind und auch nicht bewußt werden wollen. Wir wollen die barbarische Brutalität nicht empfinden, die sich hinter der Vernachlässigung der armen Völker, hinter der Vergiftung von Luft, Wasser und Böden und der steigenden Ausmerzung hunderttausender Arten verbirgt. Wir wollen uns unsere emotionale Verrohung nicht zugeben und, anstatt an deren Überwindung zu arbeiten, immer noch lieber an die künstlichen Intelligenzmaschinen der Zukunft glauben - als könnten diese uns von der Aggressivität befreien, die dadurch stetig gefährlicher geworden ist, daß wir sie im Kulturprozeß nur wenig gezähmt, dafür teils verleugnet, teils in wissenschaftlich-technische oder wirtschaftliche Gewalt transformiert haben. Wenn nun von vielen kompetenten Seiten gesagt wird, das Leben auf der Erde könne nicht von neuen Computern, sondern nur von einer neuen Ethik auf Dauer gerettet werden, so fragt man sich, warum es so schwer ist, diesem Rat zu folgen. Woher kommt das hartnäckige Festhalten an der Erlösungsidee von der perfekten Berechenbarkeit der Probleme, wenn das Grundübel doch offenbar in den Motiven wurzelt, die nur die Menschen selbst und keine Maschinen wandeln können? Der Psychoanalyse ist das Phänomen gut bekannt, daß Menschen eine Lebensweise nicht ändern können, obgleich sie sowohl deren Schädlichkeit wie die Notwendigkeit einer Umstellung begriffen haben. Man findet bei ihnen dann in der Regel eine unbewußte Tendenz, die sich gegen die Vernunft durchsetzt. Eine Frau ist zum Beispiel einem Mann derart verfallen, daß sie sich von ihm gefügig in voraussehbares Unglück stürzen läßt. Zweimal hat die Öffentlichkeit unlängst erlebt, daß ganze Sekten einem Guru bis zum gemeinsamen Untergang gefolgt sind. Schwerer durchschaubar sind solche Vorgänge, wenn es nicht eine Person ist, an die sich die selbstschädigende Abhängigkeit knüpft, sondern eine Macht, die ausschließlich aus dem psychischen Inneren heraus wirkt. In der Instanz, die wir Über-Ich nennen, hat sich dann ein Prinzip festgesetzt, dem das Ich genauso blindlings unterworfen ist wie einer unerbittlichen äußeren Autorität. Dann werden Menschen zu ungewollten Märtyrern für ein destruktives inneres Gebot. Die Frage ist nun, welcher bis ins Unbewußte hinabreichende innere Zwang es sein mag, der uns nötigt, gegeneinander und gegen die Natur mit denjenigen zerstörerischen Übergriffen fortzufahren, die sich inzwischen zu einer akuten globalen Gefahr summiert haben. Denn diese dritte These, daß es eine falsche Grundeinstellung ist, die uns in die fatale Lage gebracht hat, scheint nunmehr unwiderlegbar. Es geht hierbei um die Klärung von psychischen Prozessen und Konstellationen, die sich bis in kulturelle Einstellungen und Strömungen hinein auswirken. Der Psychoanalytiker kann sich nur der Erfahrung mit Individuen und kleinen Gruppen bedienen, um Typen von Reaktionsmustern herauszufinden, die vielleicht helfen können, Verhaltensweisen in größerem gesellschaftlichem Rahmen besser zu verstehen. So etwa wie Freud den Kulturprozeß zu interpretieren versucht hat als eine psychische Veränderung mit Erstarken des Intellekts, zunehmender Beherrschung der Triebe, Abschwächung und Verinnerlichung der Aggressionsneigung. An ihn anknüpfend darf allerdings gesagt werden, daß sein optimistisches Bild der psychologischen Wandlungen, die den Kulturprozeß kennzeichnen sollten, kaum mehr überzeugen kann. Seine Erwartung, daß der kulturelle Einstellungswandel organisch die Anfälligkeit für kriegerische Gewalt mindern werde, hat sich gerade nicht erfüllt. Nicht die »unkultivierten und zurückgebliebenen Schichten der Bevölkerung« bedrohen, wie er fürchtete, in erster Linie das Überleben unseres Geschlechtes, sondern gerade umgekehrt die Träger der hochentwickelten industriellen Zivilisation. Sie sind hauptverantwortlich für die Überschwemmung der Welt mit Waffen zur Verbreitung und Durchführung immer neuer Kriege. Mitten unter ihnen, im Herzen Europas, ist es ja gerade zu Blutvergießen in der Dimension eines Völkermordes gekommen. Und niemand anders als die Industrieländer ist für die Ausrottung von Millionen lebender Arten verantwortlich. Die psychologische Suche richtet sich nun also auf diejenige innere Macht, die uns offenbar nötigt, den kulturellen Fortschritt in sein Gegenteil zu verkehren. Wo finden wir den verinnerlichten Guru, der uns nach der Art der beiden für den Selbstmord ihres Gefolges verantwortlichen Sektenführer dem Verderben entgegenführt, das uns die »Globale Warnung« ankündigt? Es scheint zunächst, als müßte diese Suche ergebnislos verlaufen. Es meldet sich keine innere Stimme, die uns nötigt oder auch nur zur Entscheidung auffordert. Wir finden introspektiv immer nur uns selbst wieder - dazu ein kraftlos gewordenes Gewissen, das dem Trieb des Egoismus immer weniger standhält. Einst war das anders. Da erschien in der Introspektion das Bild Gottes, vor dem sich das Ich zu rechtfertigen hatte. Gott gewährte Gnade und Versöhnung, wenn der Mensch seine Schlechtigkeiten offen eingestand. Der Glaube ermöglichte, sich von Gott geliebt zu fühlen, und er stärkte die eigene Liebe. Die tätige Liebe war nach der Lehre Luthers sogar die Bestätigung des Glaubens. Dann hat sich diese Gottesgewißheit allmählich abgeschwächt. Im Drang, seine Unmündigkeit abzustreifen, ersetzte der Mensch den Glauben durch das Vertrauen in die eigene Vernunft und gelangte dazu, diese im Fortschritt der naturwissenschaftlichen Erkenntnis scheinbar auf großartige Weise bestätigt zu sehen. Es war ein gigantisches revolutionäres Aufbegehren. Die Unterwerfung unter die himmlische Autorität ging in Identifizierung über. Gott wurde introjiziert, vereinnahmt. Der Mensch erweiterte sein Selbst zu einem Übermenschen-Selbst. Die Naturwissenschaft erhielt eine zweifache Bedeutung. Sie lieferte durch ihre erfolgreiche Entwicklung einerseits eine grandiose Selbstbestätigung. Andererseits wurde sie insgeheim zu einer neuen Autorität erhoben, an die sich die ihres Halts beraubten, dennoch weiter bestehenden Glaubensbedürfnisse knüpften. Durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt konnte sich der Mensch einreden, seine Freiheit und Macht stetig zu erweitern. Zugleich verblieb ihm etwas, was er anbeten konnte - war es auch nur eine Spiegelung seines Größen-Selbst. Aber in dieser Spiegelung übersah das Fortschrittsindividuum seine finstere Seite, seine Destruktivität. Daher die verspätete und nur mit größtem Widerstreben erfaßte Kehrseite des Fortschritts, insbesondere die Tyrannei der grenzenlosen Naturzerstörung. Sicher ist, daß den Entdeckern und Anwendern der Methoden, die zu dieser Zerstörung verantwortlich beigetragen haben, die darin wirksame Aggressivität kaum je bewußt war. Unter den 101 Nobelpreisträgern, welche die »Globale Warnung« unterschrieben haben, müßte so mancher die Mitschuld an den Übeln beklagen, die er nun anprangert - nämlich durch das Ersinnen von Instrumenten, mit denen die Umwelt folgenschwer lädiert wurde und immer noch wird. Warum sah die Fortschrittsgesellschaft immer nur ihre Emanzipation und ihre Triumphe, während sie ihre Verbrechen verdrängte? Wagt man eine klinische Interpretation, so erscheint diese Verdrängung verständlicher, wenn man die Vorgänge im Zusammenhang der Introjektion des Gottesbildes heranzieht. Solange sich der Mensch einer Gnade und Versöhnung spendenden Instanz gegenübersah, konnte er sich das eigene Böse, die Macht der Destruktivität, eingestehen. Es war ja das zentrale Element des Glaubens, vor Gott als Sünder hinzutreten und auf seine Barmherzigkeit zu bauen. Der Mensch konnte seine Schuld aussprechen. Er wußte, daß er Gehör finden würde und Aussicht auf Gnade hatte. Aber dann schwand diese Sicherheit: nicht als automatisches Erlöschen, vielmehr als schleichende antiautoritäre Rebellion über Jahrhunderte hinweg. Der Protest konnte sich theoretisch dadurch rechtfertigen, daß der menschliche Intellekt, wie Galilei bezeugte, Dogmen der Kirche zu widerlegen vermochte. Aber was geschah mit dem Bösen, dem nunmehr der Adressat zum Bekennen und als Versöhnungsspender genommen war? Der Bewältigung des Bösen dienten mancherlei Listen. Etwa die Ausrede, man wolle mit der wissenschaftlichen Natureroberung Gott gar nicht entthronen, vielmehr nur den göttlichen Schöpfungsplan vollständig enthüllen. Dann reduzierte man das Böse zu einer bloßen Rückständigkeit auf dem Wege des Fortschritts. Die Philosophie und später die Psychologie brachten es im Untergeschoß der Seele unter, dem intellektuellen Ich zur fortschreitenden Bändigung unterworfen. Der Teufel schrumpfte zum Goetheschen Mephisto, der Faust schließlich definitiv unterliegen mußte. Während Freud noch einen primären Destruktionstrieb anerkannte, hat der Psychoanalytiker Heinz Kohut später weithin Anklang mit der These gefunden, daß das Kind gar nicht von Natur aus mit Destruktivität ausgestattet sei. Seine Wut sei nur ein der Selbstbehauptung dienender Impuls, der Sicherheit und Festigkeit vermittle. Destruktive Aggression sei lediglich ein sekundäres Phänomen, ausgelöst durch Kränkungen des Selbst. Der Mensch komme mit Vertrauen auf die Welt und nur mit der Anlage zu »normaler, primärer, nicht- destruktiver Aggression«, die sich automatisch lege, wenn die erstrebten Ziele der Selbstbehauptung erreicht seien. So summieren sich die geistreichen Versuche zur Verleugnung oder Relativierung der Macht der Destruktivität: Sie werde sich mit dem Fortschritt der Erkenntnis auflösen, unterliege der automatischen Zähmung durch den Kulturprozeß, sei überhaupt nur ein erfundenes Herrschaftsmittel der Kirche oder allenfalls eine sekundäre Reaktion auf narzißtische Kränkungen. Was hier stattgefunden hat, ist ein in seinen Folgen unabsehbarer phantastischer Selbstbetrug. Mit der psychologischen Vereinnahmung Gottes mußte sich der Rebell der Neuzeit als sündenfrei erklären, weil er ohne Gnade, ohne Versöhnungschance dastand. So erfand er ein idealisiertes Selbstbild, das ihn vor unerlöster Schuld bewahren sollte. Der Fortschritt, von ihm selbst gemacht, sollte das Böse, angeblich ein Relikt aus Frühzeiten der Evolution, definitiv tilgen. Was diese Verdrängungsmanöver bewirkten, war nur die Verleugnung bzw. Unsichtbarmachung der gefährlichen Kräfte. Jetzt droht diese Illusion zusammenzubrechen. Könnte man die über vierzig Kriege in der Welt - und selbst den furchtbaren in Ex- Jugoslawien - allenfalls noch als isolierte pathologische Rückfälle interpretieren, so erweist sich das Schreckensbild, das die »Globale Warnung« zeichnet, unzweifelhaft als systematisches Verbrechen der fortgeschrittenen Industriegesellschaften insgesamt. Es konfrontiert uns alle mit einer ungeheuerlichen Schuld - Resultat einer letztlich selbstzerstörerischen Aggression ohnegleichen. Die augenblickliche von Angst und Unruhe erfüllte Stimmung gerade auch in sogenannten Wohlstandsländern hat viele Teilursachen in regionalen sozialen und ökonomischen Konflikten. Aber ihren tieferen Grund hat sie zweifellos in der Ahnung der Richtigkeit von Prognosen wie der »Globalen Warnung« und in den damit verbundenen dumpfen Schuldgefühlen. Verbreitet hat sich ein untergründiger Selbsthaß, den man in zahlreichen Ländern an führenden Repräsentanten abzureagieren versucht. Die Völker fühlen ihre eigene sittliche Korruption und enthüllen sie der Reihe nach bei ihren Spitzenpolitikern und Parteien. Die serienweisen Entlarvungen und Skandalierungen in vielen Ländern schaffen vorübergehend eine projektive Entlastung. Aber die Beschwichtigung hält nicht vor. Und es besteht die Gefahr, daß man immer noch größere Feindbilder sucht und auf neue Katastrophen wartet, um sich von den leise schleichenden globalen Übeln abzulenken, in die wir alle schuldhaft verwickelt sind und denen gegenüber uns unsere aufbrechenden Schuldgefühle vorläufig noch besonders machtlos machen. Natürlich verdienen die Politiker, die ihre Macht egoistisch mißbrauchen, daß man sie zur Abdankung zwingt. Natürlich verdienen es Firmen, die Umweltgifte oder Vernichtungswaffen produzieren oder mit ihnen handeln, daß man gegen sie Sturm läuft. Natürlich müssen die Mafia und erst recht kriegerische Aggressoren entschlossen bekämpft werden - aber ohne daß wir übersehen, in welchem Ausmaß wir mit diesen Übeln allesamt selbst zu tun haben. Wir haben diese Politiker gewählt. Wir haben uns nicht dagegen aufgelehnt, daß unsere Wirtschaft ihr Wachstum besonders mit umweltgefährlichen Technologien und Rüstung angeheizt hat, und die Mafia kann überall nur auf dem Nährboden sozialer Unterdrückung und der Korruption aller gesellschaftlichen Institutionen gedeihen. Viele Kriege werden von Machthabern angezettelt, deren bekannte Gefährlichkeit die internationale Gemeinschaft zuvor keineswegs gehindert hatte, mit ihnen Geschäfte zu machen und ihnen Waffen anzudienen. Niemals hätte die halbe Welt gegen Saddam Hussein aufmarschieren müssen, hätten ihn nicht führende Industrieländer - einschließlich der Deutschen - mit Chemiewaffen, Raketen und Atomtechnologie aufgebaut. Als ich vor fünf Jahren meine gallige Satire über Korruption schrieb, wollte ich mit schwarzem Witz den Blick auf die moralische Katastrophe öffnen, die unser Ende einleiten könnte. Um deutlich genug zu machen, was ich meinte, stellte ich mich, eine Kurzgeschichte Kierkegaards zitierend, einleitend als Bajazzo vor: Der Bajazzo meldet, daß das Theater brennt. Alle lachen. Aber das Theater, die Welt, geht tatsächlich in Flammen auf. Ein Rezensent warf mir im »Spiegel« weltfremden Idealismus vor. Analog müßte er heute die Autoren der »Globalen Warnung« der gleichen Weltfremdheit zeihen, die uns immer noch an das Gute zu glauben lehren und uns die Kraft zu jener Ethik zutrauen, die sie uns vorzeichnen. Gewiß erfüllen die Entlarvung und Vertreibung hochgestellter Korrumpeure, seit Ende der achtziger Jahre in sich laufend erhöhendem Tempo betrieben, zunächst nur eine punktuelle gesellschaftliche Entsorgungsfunktion. Am Anfang kann man sich einreden: Es sind einzelne Schufte, die uns hinters Licht geführt haben. Wird die Reihe der Ertappten immer länger, kommt der Gedanke auf: Es ist kein spezielles Übel einzelner, sondern der Parteien, ja der gesamten politischen Klasse. Mit jedem neuen Skandal wird es schwerer, auch diese Projektion noch aufrechtzuerhalten. Der Sündenbock-Mechanismus droht zusammenzubrechen. Das Volk spürt: Was wir da aufdecken und anklagen, ist unsere eigene tiefe moralische Krise. Es dämmert die Ahnung, daß die hektische Jagd nach hochgestellten Tätern von der Angst getrieben wird, sich von einer verhängnisvollen gemeinsamen Selbst-Idealisierung verabschieden zu müssen. Insofern ist die rasende Beschleunigung der Skandalierungen vielleicht eher ein gutes Zeichen. Wenn man die Spitzenpolitiker gleich serienweise und wegen immer banalerer Vergehen - die oft nicht einmal juristisch angreifbar sind - aus ihren Ämtern stürzen läßt, dann kann das doch nur heißen, daß die Ablenkung zusehends schwächer und das Eingeständnis des gemeinsamen moralischen Verfalls immer näher rückt. Der Weg zur Wahrheit scheint unumkehrbar. Unser Unternehmen ist moralisch bankrott. Mit der politischen Elite, die nach und nach vollständig in die Wüste geschickt wird, bricht das kollektive Ich- Ideal zusammen. Die Masse der scheinbar Betrogenen und Verratenen muß ihren Selbstbetrug und den Verrat an den eigenen humanistischen Idealen der angeblich beispielhaften Wertegemeinschaft bekennen. Auch der schreckliche Krieg in Ex-Jugoslawien fordert die definitive Desillusionierung. Das Blutvergießen in Sri-Lanka und Ost-Timor, in Angola und Kambodscha, in Abchasien und Berg-Karabach sowie in über vierzig weiteren fernen Ländern vertrug sich immer noch mit der festen Hoffnung, daß in Zentren der industriellen Zivilisation wie in Europa keine kriegerischen Exzesse mehr denkbar seien. Jetzt kommt dieses Europa nicht darum herum, sich kritisch zu befragen, warum es nun bereits über Jahre hilflos einem systematischen Morden mit ethnischen Säuberungen, Massenvergewaltigungen und Folterlagern innerhalb des eigenen Kontinentes zusieht. Urplötzlich und unvorhergesehen brachen diese Greuel über uns herein. Es gab praktisch keine präventive Krisenhilfe, weil eine allgemeine Verdrängung funktioniert hatte. Nun ist es zu dem absurden Phänomen gekommen, daß ausgerechnet Bischöfe, Grüne und ehedem führende Pazifisten die zögernden Politiker der UNO und die Militärs zum Dreinschlagen mit Bomben und Kampftruppen drängen. Warum das? Wir alle sind dafür anfällig, uns an denen blindlings rächen zu wollen, die mit den Taten, die sie an anderen verüben, zugleich uns selbst zutiefst kränken. Die Täter spiegeln uns unsere Destruktivität wider, die zumal wir Deutschen nach Auschwitz mit besonderem Aufwand verdrängt haben. So möchten manche ganz schnell sich selbst und der Welt beweisen, daß gerade wir unverzüglich das Böse zu erschlagen bereit seien - die begründeten Einwände mißachtend, daß mit kriegerischer Intervention das Blutvergießen kaum abgekürzt, eher noch erweitert und verlängert werden würde. Die Wandlung mancher ehedem besonders leidenschaftlicher Pazifisten und Pazifistinnen, die sich angesichts der Balkangreuel jetzt als engagierte Bellizisten- und Bellizistinnen hervortun, ist so überraschend nicht. Man kann jahrelang gegen Militarismus und Gewalt Sturm laufen, ohne gewahr zu werden, daß das Engagement eher von der Empörung über die Täter als von ursprünglicher Sorge um die Gefährdeten und die Opfer lebt. Die Hauptfaszination geht für solche Menschen von den Haßobjekten aus. Sie klammern sich an das Bild von brutalen Verfolgern, um an ihnen wahrzunehmen, was sie bei sich selbst zu sehen nicht ertragen, wofür sie sich unbewußt selbst hassen. Doch kann diese labile Sündenbock-Reaktion jederzeit umschlagen. Dann spüren die Betroffenen, daß sie eine Grausamkeit »nicht länger mitansehen« können - übrigens ein treffender Ausdruck für die »Blindheit« des durchbrechenden Straf- und Racheaffektes. Entscheidend ist der Drang nach eigener emotionaler Entlastung. Solchen Interventionsbefürwortern würde es auf der Stelle persönlich besser gehen, könnten sie andere anstiften, stellvertretend für sie gegen die Täter loszuschlagen. Indessen - nur ihnen persönlich würde der geforderte »Befreiungsschlag« momentan Befreiung von innerem Druck verschaffen, weswegen selbst tatendurstige US-Generäle vor einem solchen Unternehmen auf dem Balkan warnen, weil so das Unheil, statt gestoppt zu werden, nur noch verschlimmert würde. So müssen sich dann manche konvertierte deutsche Ex-Pazifisten ausgerechnet von solchen ausländischen Freunden zurückpfeifen lassen, die uns einst von Hitler befreit haben. Jedenfalls ist die moralische Katastrophe, die der Jugoslawien-Krieg erst heraufbeschworen zu haben scheint, durch ihn nur sichtbar geworden. Wir alle haben mit ihm genausoviel zu tun wie mit der epidemischen Korruption wie mit den globalen Verbrechen, die uns die »Globale Warnung« nachweist. Unsere Gesellschaft muß erst einmal die Demütigung hinnehmen, daß sich der Fortschritt nicht unbedacht verrechnet hat, sondern an seiner Unmoral gescheitert ist. Ist es nun so abwegig, trotz al- lern auf Erneuerung zu hoffen, auf eine moralische Umkehr in der uns von den 101 Nobelpreisträgern gesetzten Frist? Geht es nicht etwa nur noch darum, sich das scheinbar Unvermeidliche durch neue Verdrängungen, Ablenkungen und andere Fluchtmechanismen erträglicher zu machen und allenfalls das Ende über ein paar mehr Generationen hinauszuzögern? Woher kann Hoffnung kommen? Sicher ist jedenfalls, daß sich dafür nicht die Symbolfiguren des traditionellen Stärkekults eignen, die heroischen Drachentöter, die rächenden Sheriffs, die Generäle, die mit Awacs, Satellitenspionage und »chirurgischen« Kreuzzügen die Übel der Welt aufzuspüren bzw. auszumerzen versprechen. Die Kraft kann nur ganz woanders entspringen. Von dem kleinen Priester Aristide, den die Bewohner des Elends-Staates Haiti zum Präsidenten wählten, zitiert Dorothee Solle den Ausspruch: »Wenn jemand das Gefühl hat, daß die Hoffnung zusammenbricht, und er dabei stirbt, dann ersteht eine Kraft, die die Kraft der Armen ist. Die geschieht nicht nur heute, sondern immer.« Ein ergreifendes Beispiel läßt Dorothee Solle ihre Tochter Caroline schildern: den Marsch der Vertreter der indianischen Völker des bolivianischen Tieflandes 1990 nach der Hauptstadt La Paz. Nahezu achthundert Menschen, darunter Alte und Kinder, machten sich zu Fuß auf den langen Weg über 500 Kilometer mit einem Anstieg über einen fast 5000 Meter hohen Paß. Sie marschierten zum Teil barfüßig und ohne warme Kleidung aus tropischer Urwaldhitze in eisige Kälte, ohne Sponsorenhilfe, ohne Entwicklungsgelder. Nur ihre territorialen Rechte und ihre Würde, »territorio y dignidad«, waren die Forderungen auf ihren Plakaten. Ein 88jähriger, nach seiner Erschöpfung durch den 500 Kilometer langen Marsch gefragt, antwortete: »Es gibt keine Erschöpfung. Wovon wir in Wahrheit erschöpft sind, ist das Ruhehalten.« Er meinte das wehrlose Hinnehmen der Entrechtung und Entwürdigung. Der Einzug in die Hauptstadt wurde zu einem bewegenden Ereignis. Die Regierung sah sich gezwungen, mit den

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