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Wanderer zwischen den Zeiten. (Ab 12 J.). PDF

183 Pages·2005·0.92 MB·German
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Preview Wanderer zwischen den Zeiten. (Ab 12 J.).

Das Buch »Es lohnt sich, zwischen den Zeiten zu wandern!« LOOK Seltsame Dinge geschehen im Turm des alten Münsters, wo die Uhr tickt, die Antons Urahn gebaut hat. Nebel steigt aus dem Uhrwerk, und zwei Arbeiter bleiben bewußtlos liegen. Neugierig schleicht sich Anton in einer mondhellen Nacht in den Turm hinauf, doch als es zwölf schlägt, wird er unversehens in die Uhr hineingezogen und landet in einer anderen Welt. Von Knox, dem kleinen steinernen Nasentrompeter, der plötzlich zum Leben erwacht ist, erfährt Anton, daß sein Urahn einst eine magische Weltmaschine geschaffen hat, die den Stein der Weisen hervorbringen sollte. Aber das Experiment geriet außer Kontrolle, eine fremde Welt ent- stand, und die magische Maschine ist seither in immerwährender Bewe- gung. Nur ein Nachfahre des Erbauers kann sie zum Stillstand bringen. Und so erhält Anton die schwere Aufgabe, die Maschine anzuhalten, um zu verhindern, daß nicht nur die fremde, sondern auch seine Welt auf immer zerstört wird. Der Autor Christopher Zimmer wurde 1959 in Aachen geboren. Nach dem Studium der Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Germanistik in Wien und Basel arbeitete er für verschiedene Theaterprojekte in Basel und Luzern. Für seinen ersten Roman Die Steine der Wandlung (01/10973) erhielt er 1996 den Wolfgang-Holbein-Preis. Christopher Zimmer ist verheiratet und hat zwei Kinder. CHRISTOPHER ZIMMER WANDERER ZWISCHEN DEN ZEITEN Roman WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/13069 Ich danke Mareike für jede geschenkte Stunde, Peter Plaßmeyer für seine Hilfe und seinen fachlichen Rat und Simone und Michel Chalon für die Zeit, die ich in ihrer Uhrenwerkstatt verbringen durfte. Ein Tag kann eine Perle sein Und ein Jahrhundert nichts. Gottfried Keller Der kleine, verwilderte Garten wirkte zwischen den hohen Häu- serwänden, die ihn so dicht umschlossen, wie verloren gegangen, von der Außenwelt abgeschnitten und vergessen. Die kurze Gar- tenbank, an deren Metallgestell und Holzlatten die weiße Farbe Blasen schlug und abblätterte, fand kaum Platz im Wildwuchs der Büsche und Ranken. Es schien, als hätte sie zu lange schon ver- geblich gewartet. Anton presste die Wange gegen die Fenster- scheibe und legte den Kopf in den Nacken. Mit dem rechten Fuß stützte er sich an der Heizung ab, um auf der schmalen Fenster- bank nicht den Halt zu verlieren. Sein Blick verlor sich im Wogen des grünen Blätterdaches. Manchmal fuhr ein heftiger Windstoß in den Garten herab. Dann gaben die Blätter den Blick auf den Him- mel frei. Schwere, graue Wolken zogen vorbei, langsam wie über- ladene Schiffe, die gegen die Strömung kämpfen. Dazwischen wurde das tiefe Blau über den Wolken sichtbar und blendend helle Sonnenstrahlen brachen durch das Blattwerk, ließen vereinzelte Blätter aufleuchten und warfen goldene Tupfer auf die alte Bank und die zersprungenen Steine des gepflasterten Weges, zwischen denen Gras und zwergenhafte Blumen wuchsen. Anton seufzte und sah seinem Großvater wieder bei der Arbeit zu. Der alte Leib drehte das Werkstück, das in der Drehbank steckte, geduldig ein Stück weiter und senkte die Fräse herab, die langsam die nächste Kerbe in das Zahnrad schnitt. Die sirrenden Geräusche des Schwungrads und der Frässcheibe schwirrten wie überlautes Grillengezirp durch die Werkstatt und übertönten bei- nahe den Chor der vielen tickenden Uhren, die überall zu sehen waren. Sie hingen an den Wänden, standen auf Borden und Ti- schen oder lagen unter Glasplatten zur Ansicht aus. Dunkle, glän- zende Holzkästen, hinter deren Glastüren Pendel, Ketten und Ge- wichte schimmerten, elegant geschwungene französische Porzel- lanpendulen, hohe Standuhren mit Mondkalender und emaillierten Zifferblättern, Taschenuhren unter kleinen Glasstürzen oder im Futter schöner Holzschatullen, Zeitschaltuhren, Armbanduhren und auf dem hohen Kasten neben dem Arbeitstisch der Käfig mit den drei Automatenvögeln, die ihre Köpfe und Flügel bewegen konnten und deren Gesang Anton so gern hörte. Manche Uhren 4 waren geöffnet und man sah das Werk mit den Zahnrädern, Stahl- zapfen und Messingplatten. Sonderbar nackt wirkte das Innere der Uhren, unsanft ans Tageslicht gezerrt, wie freigelegte Skelette kleiner Tiere. Der Raum mit all den Uhren und Werkzeugen war im schwachen Licht, das durch die Fenster fiel, kaum zu erkennen. Eine alte Gelenklampe mit schwarzem Metallschirm beleuchtete die Arbeit des Großvaters. Wie eine seltsame Insel erschien Anton die Drehbank und sein Großvater im Lichtkegel wie ein ferner Be- wohner dieser Insel. Und über allem schwebte das Ticken der Uh- ren, das Anton, als der Großvater die Fräse abschaltete, wieder bewusst wurde. Wie schon so oft versuchte er, das Geheimnis hinter diesem Ticken zu entdecken, das Geheimnis des Stimmen- gewirrs der Uhren, das nie gleich klang, sondern sich immer neu verflocht und immer neu auseinander strebte. Mal schienen einige der Uhren im Gleichtakt zu schlagen, dann entfernten sie sich voneinander, andere traten an ihre Stelle, liefen eine Weile neben- einander her, bis sie sich unmerklich voneinander trennten und sich mal als Einzelgänger, dann wieder in neuen Gruppen von Schlag zu Schlag fortbewegten. Es war, als würden die Uhren Gespräche miteinander führen, mal nur mit der Nachbarin an der Wand, dann mit Verwandten und Bekannten am anderen Ende des Raumes, immer wieder anders und undurchschaubar, aber unentwegt, unermüdlich, beängstigend. Ja, das war es, beängsti- gend. Sosehr Anton diese Werkstatt mochte, mit dem alten Holz der Tische und Schubladenschränke, den Stapeln von Zigarren- kistchen, in denen der Großvater Hunderte von Zeigern, Schrau- ben und Spiralen in allen Größen und Formen aufbewahrte, dem alten knarrenden Holzdrehstuhl und dem matten Glanz der Werk- zeuge und Maschinen, sosehr Anton all dies mochte, so unheim- lich war es ihm doch durch das Ticken der Uhren, die er insgeheim fürchtete, die ihn zu bedrängen schienen, nicht nur am Tag, son- dern auch nachts in seinen Träumen. Der Großvater löste das Zahnrad, trug es zum Arbeitstisch, probierte aus, wie es zu den schon fertigen Rädern passte und spannte es sorgfältig in den Schraubstock ein. Dann nahm er eine Feile zur Hand, zog die Lupe, die ein geschwungener Draht um seinen Kopf hielt, vors rechte Auge und begann mit sanften, be- hutsamen Bewegungen, den Zähnen des Rades ihre endgültige Form zu geben. Kurz schaltete er noch das große, bullige Radio 5 ein, dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Erst rauschte es, bis die Röhren des alten Apparates warm geworden waren, dann glühte die Anzeige im Dämmerlicht auf und leise Musik setzte ein. Anton blickte wieder zum Fenster hinaus und sah dem Wind zu, der ein paar lose Blätter durch den Garten wirbelte und sie die Treppe, die zum Vorderhaus führte, hinabjagte. Schade, dachte Anton, dass so wenig Kunden kommen. Das wäre dock mal eine Abwechslung. Aber eben, Kunden verirrten sich selten in die Werkstatt des Großvaters. Nachdem Antons Vater Hochmünster verlassen hatte, hatte der alte Leib seine Wohnung und sein Ate- lier ins Hinterhaus verlegt und das Vorderhaus vermietet. Und das kleine Schild an der Klingel mit der Aufschrift »Johann Jakob Leib, Uhrmacher« war leicht zu übersehen. Dem alten Leib war dies recht. Laufkundschaft mochte er nicht, und wenn doch einmal ein Neugieriger seinen Weg in die Werkstatt fand, bediente er ihn so mürrisch und abweisend, dass dieser sicher nicht wiederkam. Der alte Leib hatte sein Auskommen und seine Stammkunden. In Fachkreisen genoss er einen guten Ruf, denn er verstand sich auf die Reparatur alter Werke und baute selber Uhren, die Selten- heitswert hatten. Meist waren es Sammler, die zu ihm kamen, Leu- te mit Privatsammlungen oder solche, die Sammlungen in Museen betreuten. Sie kannten den alten Leib schon seit vielen Jahren, und wenn einer von ihnen kam, brachte er nicht selten eine gute Flasche Muskateller mit, der Großvater schloss die Werkstatt und holte Gläser hervor und dann fachsimpelten sie bis in die späte Nacht hinein, tief über irgendeine Uhr wie über einen kranken Pa- tienten gebeugt. Wenn dann von Ankergang, Kreuzschlag, Unruhe und Indikationen die Rede war, wusste Anton nicht so recht, wohin mit sich, und er langweilte sich. Im Radio kamen die Nachrichten. Anton hörte nur mit halbem Ohr hin. Das trübe Licht und das unaufhörliche Ticken der Uhren machten ihn schläfrig. Nur Fetzen der Nachrichten drangen bis zu ihm. Immer wieder verlor er den Faden und achtete kaum auf das, was gesagt wurde. »Madrid: Bei einer Überschwemmung sind auf einem Camping- platz an der spanischen Mittelmeerküste mindestens sieben Men- schen ums Leben gekommen. Es wird vermutet, dass noch weite- re Opfer ... russische Truppen und Rebellen kämpfen weiter um die tschetschenische Hauptstadt. Das Rote Kreuz hat mehrfach... 6 Luftwaffe hat in der Nacht Stellungen der Hisbollah-Milizen im Li- banon angegriffen. Die Ziele lagen im syrisch ... Beim Absturz ei- ner Privatmaschine bei Hannover sind alle fünf Insassen getötet worden. Die Absturzursache ist noch nicht geklärt ...« Plötzlich horchte Anton auf. Der Ansager hatte doch gerade von Hochmünster gesprochen. Anton hörte genauer hin. »... sind bei Restaurierungsarbeiten in der Uhrenstube des Westturms zwei Mitarbeiter der Münsterbauhütte verletzt worden. Beide Restauratoren haben nach Kontakt mit Dämpfen, die aus noch ungeklärten Gründen aus dem Mauerwerk austraten, das Bewusstsein verloren und sind bis zur Stunde noch nicht wieder erwacht. Der Turm wurde bis zur Abklärung der Unfallursache vorübergehend für Besucher gesperrt. Eine Gefährdung der Öf- fentlichkeit besteht laut Angaben der Behörden nicht. Der Zustand der beiden Verunglückten ist stabil. - Das Wetter: Starke Be- wölkung mit gelegentlichen Aufhellungen und aufkommenden Winden aus Nord, Nordwest. Gegen Abend vermehrt Regen und Gewitter. Temperaturen 20 bis 24 Grad. Leichte Abkühlung in der Nacht. Morgen wieder sonniger. 24 bis 31 Grad. - Vier Minuten nach neun. SWF3 Radiodienst. Staus und Behinderungen: Auf der Alphochfläche gebietsweise Nebel mit Sicht unter 100 Meter. A 3 Frankfurt Richtung Köln, zwischen Frankfurt Süd und Frankfurter Kreuz, drei Kilometer Stau wegen Baustelle. A 8 Stuttgart Richtung Karlsruhe, zwischen Heimsheim und Pforzheim West fünf Kilome- ter. A 57 Krefeld Richtung Köln, zwischen...« Der alte Leib griff zum Radio und schaltete es ab. Anton zuckte mit den Schultern. Na, und wenn schon, dachte er, was geht mich die Sache im Münsterturm an? Obwohl... nachschauen konnte man ja mal. Vielleicht gab's was zu sehen. Immer noch besser als hier nur rumzusitzen. Anton rutschte von der Fensterbank, nahm seine Regenjacke vom Haken und zog sie sich über. »Ich geh raus«, sagte er. »Mmh, ist gut«, brummte der alte Leib und feilte ohne aufzu- blicken weiter. Anton ging die paar Schritte durch den kleinen Garten und den dunklen Gang des Vorderhauses und trat vor die Haustür, die hin- ter ihm ins Schloss fiel. Selbst bis hier in die ruhige Pfälzergasse drang das Leben und Brausen der Stadt. Anton lief die Gasse hin- unter, überquerte die Malzstraße, sprang über die Stufen des gro- 7 ßen Brunnens vor dem Bischofshof, lief über den Fronwartplatz und schlüpfte in das schmale Reverenzgässlein, in dem die Häu- serwände zu beiden Seiten so dicht zusammenrückten, dass nur die steinernen Bögen mit den bunten Ziegeln, die sich über dem Gässchen spannten, zu verhindern schienen, dass es endgültig verschwand. Anton mochte dieses Gässchen sehr, denn er erwar- tete jeden Tag, dass es nicht mehr da sein würde, wie eine ge- heimnisvolle Öffnung in einem Zauberberg, die ein magischer Spruch für immer verschloss. Durch diese Gasse zu laufen kam ihm jedes Mal wie ein Abenteuer vor. »Sesam, schließe dich«, rief er, als er das Gässchen verließ, und lachte. Dann hatte er sein Ziel erreicht. Vor ihm erhob sich das Münster. Anton lief an der Südsei- te vorbei über den Münsterplatz. Trotz des schlechten Wetters und der heftigen Regengüsse vom Morgen waren die Marktstände wie immer aufgebaut und es herrschte ein reges Treiben und dichtes Gedränge. Anton schlängelte sich durch die Menschenmenge. Dann schlüpfte er durch eine eiserne Seitenpforte in die Kirche. Er blieb stehen und sah sich um. Zuerst mussten sich seine Augen an das Dunkel gewöhnen. Dann sah er im Schein der Op- ferkerzen und im schwachen Licht, das durch die bunten Kirchen- fenster fiel, die dicken Säulenbündel mit den Statuen der Apostel und Heiligen, die dunklen Eichenbänke, in denen Betende knieten und Touristen saßen, die Filme auswechselten, und hoch oben die bemalte Decke, die von schmalen, steinernen Bögen getragen wurde. Antons Blick wanderte durch die Kirche und fiel auf die kleine Tür links vom Hauptausgang, der zur Vorhalle am West- portal führte. Die Tür war sehr niedrig und schmal. Es war kaum vorstellbar, dass jemand da hindurchpasste, und doch stiegen dort jeden Tag Hunderte von Neugierigen zum Turm hinauf. Jetzt aber war die Tür verschlossen und breite, gelb und schwarz gestreifte Plastikbänder sperrten ein paar Meter Raum vor der Tür ab. An der Tür hing ein Schild: Wegen Instandsetzungsarbeiten geschlos- sen, und auf einem Stuhl saß ein Mann in Uniform, der gelangweilt Zeitung las. Na ja, hier ist nichts zu holen, dachte Anton. Ent- täuscht wandte er sich nach rechts und schlenderte durch die Kir- che, vorbei an den Seitenkapellen, der Kanzel und dem Hochaltar. Als er einmal rundum gegangen war, stand er vor der hohen Glas- kabine, die das Hauptportal vom Kirchenraum trennte. Anton trat durch die Glastür, ging am Weihwasserbecken vorbei, schob den 8 dicken Samtvorhang zur Seite und zog mit aller Kraft die schwere Holztür auf. Ein heftiger Wind blies ihm entgegen und Anton muss- te die Tür hinter sich zuziehen, damit sie sich wieder schloss. Er stand in der Vorhalle des Westportals unter dem Münsterturm. Ein paar Touristen saßen auf den Steinstufen zu beiden Seiten und ruhten sich aus. Anton ging langsam zu dem hohen Gitter, das die Vorhalle und das Hauptportal gegen den Münsterplatz und das geschäftige Treiben des Marktes hin absperrte. Er lehnte seinen Kopf an die kühlen Eisenstäbe und blickte hinaus. Plötzlich spürte er ein seltsames Ziehen im Rücken. So als würde ihn jemand beo- bachten. Anton drehte sich rasch um. Aber niemand schien Notiz von ihm zu nehmen. Die Touristen plauderten, lasen in Reisefüh- rern und erklärten sich gegenseitig die Steinfiguren über dem Por- tal und an den Seitenwänden. Auf Anton achtete niemand. Anton zuckte mit den Schultern und drehte sich gegen das Gitter zurück. Doch wieder spürte er dieses sonderbare Brennen im Rücken. So stark und deutlich, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Er war sich ganz sicher. Jemand starrte ihn von hinten an. Aber wer? Und von woher? Nochmal sah er sich genau um. Doch wieder war den Tou- risten nichts anzumerken. Aber das Gefühl blieb. Anton wurde es ganz unbehaglich zumute. Obwohl es Unsinn war, wanderte sein Blick suchend die Steinfiguren entlang. Als ob eine von ihnen ihn ansehen konnte. Du spinnst ja, dachte Anton. Und doch! Da drü- ben, auf der linken Seite, am Ende einer der Halbsäulen über den Stufen. Wie auf all diesen Halbsäulen hockte auch dort eine kleine Steinfigur. Aber diese war irgendwie anders. Sonst gab es nur Tiere oder seltsame Fabelwesen. Aber diese Figur war viel men- schenähnlicher als die anderen. Bis auf die Nase. Die war über- lang und endete in einem Trichter und der kleine Kerl spielte mit seinen Fingern auf der Nase wie auf einem Blasinstrument. Anton erinnerte sich plötzlich wieder. Der Großvater hatte ihm doch mal von dieser Figur erzählt. Wie hatte er sie genannt? dachte Anton, der Nasen... ahja, der Nasentrompeter. Genau. Das war es gewe- sen. Der Nasentrompeter. Na und? Was hatte das mit dem Starren zu tun? Anton durchquerte die Halle, bis er direkt unter dem Na- sentrompeter stand. Er kletterte die drei steilen Stufen hinauf, um ihn aus der Nähe zu betrachten. Selbst so stand er noch mehr als einen Meter unter der kleinen Statue. Die Figur hockte an der Wand, wobei sie aber in den Raum hinausragte, mit der Trompe- 9 tennase nach unten. Sie saß im Schneidersitz, die Füße über Kreuz. Der Nasentrompeter trug eine blassrote Kutte mit einem einfachen Kragen, die ihm bis zu den Füßen reichte. Auf dem Kopf hatte er eine Kappe, die aussah wie ein umgekehrter Suppenteller. Was für schmale Finger er hat, dachte Anton. Kaum zu glauben, dass sie aus Stein gehauen worden sind. Was ist denn das? Am kleinen Finger der linken Hand fehlte das letzte Glied. So ein Blöd- sinn! dachte Anton wütend. Wer das abgeschlagen hat, hat sie ja nicht alle. Plötzlich fiel ihm wieder ein, warum er hier raufgeklettert war. Er hatte es glatt vergessen. Es war aber auch zu dumm. Der Nasentrompeter hatte damit doch gar nichts zu tun. Na, immerhin hat es sich gelohnt, den mal genauer anzusehen, dachte Anton und sprang die Stufen wieder hinab. Noch einmal sah er sich su- chend um, aber als er nichts Außergewöhnliches entdecken konn- te, ging er zum Eingang zurück und zog die Holztür auf. Doch ge- rade, als er in die Kirche zurückschlüpfen wollte, spürte er es wie- der im Rücken. Er fuhr herum und sein Blick fiel noch einmal auf den Nasentrompeter. »Ich könnte schwören«, murmelte Anton, »dass er es war.« »What did you say?«, fragte ein dicker Tourist, dem zwei große Kameras vor dem Bauch baumelten. »Nichts, gar nichts«, stammelte Anton, »bloß Blödsinn«, und ließ den verdutzten Mann stehen. ***** Die Turmuhr schlug zehn. Anton stand wieder zwischen den Marktständen. Es roch nach Gemüse, Blumen, Bratwürsten, Kräu- tern und Seife. Anton ließ sich vom Gedränge der Menschen mit- treiben. Doch das Erlebte ließ ihn nicht los. Ab und zu sah er zum Münster hinüber, am liebsten hinauf zu den steinernen Wasser- speiern, die wie Spukgestalten aus wilden, fantastischen Träumen aussahen. Geflügelte Drachen mit Fratzen, die Affen, Hunden und Schweinen ähnelten. Aufgerissene Mäuler, gefletschte Zähne und sogar eine Figur, die dem Betrachter das Hinterteil zeigte, aus dem bei Regen wohl das Wasser schoss. Die haben sich ganz schön was einfallen lassen, dachte Anton, damals im Mittelalter. Und das an einer Kirche. Das muss ja eine komische Zeit gewesen sein. Noch einmal trieb ihn der Strom der Menge vor das Gitter am 10

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