Klaus Nickau Untersuchungen zur textkritischen Methode des Zenodotos von Ephesos w DE G Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Heinrich Dörrie und Paul Moraux Band 16 Walter de Gruyter • Berlin • New York 1977 Untersuchungen zur textkritischen Methode des Zenodotos von Ephesos von Klaus Nickau Walter de Gruyter • Berlin • New York 1977 Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft CTP-Kurztitelaufnähme der Deutschen Bibliothek Nickau, Klaus Untersuchungen zur textkritischen Methode des Zenodotos von Ephesos. — Berlin, New York: de Gruyter, 1977. (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte; Bd. 16) ISBN 3-11-001827-6 © 1977 by Walter de Gruycer Sc Co., vormals G. J. GÖschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit 8c Comp , Berlin 30, Genthiner Straße 13 (Printed in Germany) Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Spiller, Berlin 36 Bindearbeit: Wübben & Co, Berlin 42 Meinem Lehrer Hartmut Erbse gewidmet Vorwort Untersuchungen zur Textkritik Zenodots sind auf die Homerüber- lieferung angewiesen; denn die Spuren, welche die kritische Tätigkeit des Ephesiers in der Überlieferung anderer Dichter hinterlassen hat1, sind zu gering, als daß sie ein Urteil erlaubten2. Die Untersuchung der Methode Zenodots unterliegt noch engeren Besdiränkungen: Da Begrün- dungen des Kritikers selten erhalten sind, muß im einzelnen Fall meist vom Ergebnis seiner Entscheidung auf deren Begründung zurückgeschlos- sen werden. Dieses Verfahren beruht auf der Voraussetzung, daß in dem betreffenden Fall Zenodot überhaupt eine Entscheidung zwischen ,seiner1 und einer anderen, uns bekannten Lesart getroffen hat. So gute Gründe sich im allgemeinen für die Zulässigkeit dieser Voraussetzung anführen lassen, sowenig läßt sich im einzelnen die Möglichkeit ausschließen, daß von Späteren als zenodoteisch zitiert wurde, was Zenodot einzig in der Überlieferung vorgefunden hatte. Allein eine Gruppe textkritischer Ope- rationen bietet auch im Einzelfall die Gewähr, daß die fragliche Voraus- setzung gegeben ist: die Athetesen. Sie zeigen stets an, daß Zenodot die betroffenen Verse sowohl gekannt wie verworfen hat. Grundlage der vorliegenden Arbeit sind daher die Athetesen und, soweit sich deren konjekturale Herkunft vermuten läßt, audi andere Nachrichten über den Versbestand der zenodoteischen Homerausgabe. Wir wissen nicht, ob Zenodot wirklich in erster Linie an der Aussonderung von Zusätzen interessiert war8, aber er war nach unserer Kenntnis dodi der erste, der solche Eingriffe durchgehend vorgenommen hat; insofern dürfen sie als für ihn kennzeichnend gelten. Zum andern ist die Athetese und, soweit sie konjekturaler Herkunft ist, auch die Versauslassung im Hinblick auf die Methode interessant, weil sie eine absichtlich herbeigeführte Text- verderbnis, die Interpolation, voraussetzt4. Drittens aber ist die Frage, in welcher Weise Zenodot, mit dem die Geschichte des Homertextes in ein im engeren Sinne historisches Stadium tritt, den genuinen Vers- 1 Hierzu Pfeiffer, History 117 f. (für abgekürzt zitierte Literatur s. das Verzeichnis S. XIX). 1 Vgl. RE, Zenodotos 38 f. ' So z. B. Wilamowitz, Ilias 13. 4 Von den .Echointerpolationen' sei hier abgesehen (s. unten S, 95 Anm. 34). VIII Vorwort bestand zu ermitteln gesucht hat, auch für die moderne Homerkritik nicht ganz gleichgültig. In der Tat haben, seit die Erstpublikation der textkritischen Scholien des Iliascodex A einen umfassenderen Einblick in die alexandrinische Homerkritik insgesamt ermöglicht hatte, die Athetesen eine beträcht- liche Rolle bei der Beurteilung Zenodots gespielt. Die erste Periode der Erforschung jener Scholien war durch das Bemühen gekennzeichnet, Sachverhalte zu ermitteln, ohne die Ergebnisse durch weitausgreifende Thesen vorwegzunehmen. So erkannte Fr. A. Wolf einerseits sehr wohl, was es für seine Theorie von der Entstehung der homerischen Gedichte bedeutete, wenn sich bereits die antiken Philologen zur Annahme grö- ßerer Interpolationen berechtigt glaubten5, aber er war anderseits weit davon entfernt, die Athetesen Zenodots und Aristarchs insgesamt zu billigen oder gar eine jede von ihnen als Zeugnis voralexandrinischer Überarbeitung anzuerkennen; vielmehr sah er gerade in Zenodots Athe- tesen Dokumente beträchtlicher Willkür8. Ein differenzierteres Bild auch der zenodoteischen Kritik zeichnete Karl Lehrs in seinem Aristarchbuch. In dem ,De criticis Aristarchi rationibus' überschriebenen Abschnitt, des- sen erstes Kapitel den Athetesen gewidmet ist, hob Lehrs vier Motive zenodoteischer Athetesen besonders hervor: Widersprüche, Unschicklich- keiten, Wiederholungen und ,hesiodeisches Gepräge'7. Schon durch die Einführung des kritischen Mittels der Athetese, so rühmte Lehrs, habe sich Zenodot ein bleibendes Andenken verdient8. Die nächste Aufgabe wäre nun gewesen, die bei Lehrs noch recht summarisch zusammen- gestellten Motive auf ihre methodische Berechtigung hin zu prüfen. H. Düntzer stellte sich für seine ,De Zenodoti studiis Homericis' betitelte grundlegende Monographie drei Aufgaben: Erstens die Art der Zeugen, auf denen unsere Kenntnis der zenodoteischen Ausgabe beruht, zu unter- suchen, zweitens von hier aus systematisch ein Bild der zenodoteischen Ausgabe zu zeichnen und vor allem drittens alle Stellen einzeln genauer zu besprechen. Die Erläuterung der einzelnen Fälle ist Düntzer vorzüg- lich gelungen, und seine Zusammenstellung der Testimonien ist noch unersetzt9. Hingegen bedeutete seine Beurteilung der kritischen Tätig- keit Zenodots insgesamt, soweit er sie überhaupt in Angriff nahm, eher einen Rückschritt gegenüber Lehrs. Zwar setzte er nämlich die von Lehrs aus den antiken Berichten zusammengestellten Motive in den Einzelinter- 5 Vgl. Wolfs Ausführungen über öiaoxevfj (Proll. 151 f.). • .Quippe saepe praeclarissimos et optimos versus expungit, interdum totas gT|aei; contaminat, alia contrahit, alia addit, omnemque sibi in Iiiada, velut in proprium opus, arrogat potestatem' (Proll. 201). 7 Lehrs, Ar. 333 f. 8 Lehrs, Ar. 332. • Für die Homerausgabe; für die anderen Arbeiten und für die biographischen Daten sind Düntzers Aufstellungen durch H. Pusch überholt. Vorwort IX pretationen voraus und billigte sie mitunter; zugleich aber trat er der bereits von Wolf (Proli. 215 Anm. 84) beiläufig geäußerten Ansicht bei, die von den antiken Zeugen dem Zenodot gelegentlich beigelegten Be- gründungen textkritischer Entscheidungen seien — von wenigen Aus- nahmen abgesehen — sämtlidi spätere Erfindungen. So konnte es ge- schehen, daß er diesen Motiven keine zusammenfassende Würdigung zuteil werden ließ; statt dessen erscheint in dem von Düntzer entwor- fenen Gesamtbilde immer wieder die Alternative: ältere Überlieferung oder unberechtigte Konjektur10. Als Adolph Roemer im Jahre 1886 die seit Lehrs praktisch unerledigt gebliebene11 Frage nach den kritischen Prinzipien Zenodots wieder auf- griff, war die Auseinandersetzung mit der alexandrinischen Homer- philologie bereits in ein neues Stadium getreten. Die vor allem von Lehrs und seiner Schule unternommenen Anstrengungen, Aristarchs Homer- kritik möglichst genau zu ermitteln und für die Konstitution des Homer- textes fruchtbar zu machen, hatten eine Gegenreaktion bei denjenigen Homerkritikern hervorgerufen, die den Spielraum eigener divinatori- sdier Kritik durch die — als Aristarcholatrie empfundenen — Grund- sätze der Königsberger Schule eingeschränkt sahen. Sie betonten, um sich freie Bahn zu schaffen, den Wert der nidit-aristardiisdien, zumal der zenodoteischen Lesarten12. Hier griff Roemer ein. Er vermutete, daß der Wert der — bekannten — Grundsätze Aristarchs besser hervortreten werde, wenn man ihnen die — in der Hauptsache erst zu ermittelnden — Prinzipien Zenodots gegenüberstelle. So besprach Roemer Zenodots Les- arten nach Maßgabe ihrer möglichen Begründungen. Wieder wurde ver- merkt, Zenodot habe um der Wiederholungen, der Unstimmigkeiten, der Unschicklichkeiten willen in den Text eingegriffen. Weitere, nur ver- mutete Prinzipien kamen hinzu, jedoch die Frage, die seit Lehrs offen- geblieben war: cb, in welchem Sinne und mit welchen Einschränkungen solche Grundsätze in der Homerkritik berechtigt sein könnten, wurde auch hier als beantwortet vorausgesetzt; Zenodot habe willkürlich An- schauungen in den Homertext hineingetragen, die diesem durchaus fremd seien. Die Behauptungen der kenntnisreich und engagiert ge- schriebenen Abhandlung (,Ich bebe nodi ganz von dem niederdrückenden Gefühle, das der krasse Subjektivismus des Zenodot auf mich gemacht 10 Düntzer, Zen. 46—9. 11 Woldemar Ribbecks Polemik gegen Düntzer (Philologus 8, 1853, 652—712 und 9, 1854, 43—73) brachte Ergänzungen in Einzelheiten aber nicht im Grundsätzlichen. Den Vorwurf, er habe Zenodot zu günstig beurteilt, konnte Düntzer in seiner Replik (Philologus 9, 1854, 311—23) mit einem Hinweis auf sein negatives Ge- samturteil zurückweisen, weil Ribbedk versäumt hatte, den Widerspruch zwischen Düntzers Einzelinterpretationen und jenem Gesamturteil aufzudecken. 12 Vgl. etwa Ludwichs Polemik (AHT. 2, 21 ff.) gegen Nauck. X Vorwort hat') gingen alsbald als Tatsachen in die Handbücher über13. Einzelne, wie Wilamowitz, erlaubten sich weiterhin, ihre Bewunderung für zeno- doteisdie Textentscheidungen zu zeigen, aber Gewicht hatte das kaum14. In Roemers ein Vierteljahrhundert später geschriebenem Buch über Ari- starchs Athetesen erscheint Zenodot vollends nur noch als Sündenbock, der in Wahrheit all die Verfehlungen begangen habe, die eine nach Roe- mers Ansicht teils dumme, teils böse Überlieferung dem einzigartigen Aristarch angehängt hat. Eine weitgehende Einschränkung, nicht aber eine prinzipielle Berichtigung fanden Roemers Behauptungen, als Niko- laus Wecklein in zwei Abhandlungen von 1918 und 1919 versuchte, einen großen Teil der zenodoteischen Textvorschläge als genuin oder doch älterer Überlieferung entstammend zu erweisen. Wecklein schloß die Möglichkeit zenodoteischer Konjekturalkritik, die er zumal in den Athe- tesen fand, nicht aus, nahm aber, wo ihm Zenodots Entscheidungen gut zu sein schienen, jeweils an, Zenodot habe sie nicht durch Konjektur, sondern in der Überlieferung gefunden. Unter diesen Voraussetzungen fand Zenodots Methode allenfalls beiläufig Beachtung. Rigoroser verfuhr im Hinblick auf Athetesen und Auslassungen G. M. Bölling. Seine bekannte These lautet: »neither Zenodotus nor Aristophanes nor Aristarchus would athetize a line unless its attestation seemed to him seriously defective'15. Die antiken Nachrichten, die dem entgegenstehen, hielt Boiling sämtlich für spätere Erfindungen. Wäre Böllings These richtig, so würde sich jede weitere Frage nach Zenodots kritischen Prinzipien erübrigen. Nun ist Böllings Versudi, seine These zu beweisen, zwar gescheitert. Seine Behandlung der alexandrinisdien Versauslassungen und Athetesen ist jedoch deshalb wertvoll, weil er die vorangegangene Diskussion sorgsam berücksichtigte, weil er die Scholien- 15 Vgl. F. Susemihl, Geschichte der griech. Litteratur in der Alexandrinerzeit, Leipzig 1891,1, 332 f. (trotz der einschränkenden Bemerkung ebd. Anm. 22 b); W. v. Christ, Geschichte der griedi. Literatur, 6. Aufl. bearb. von W. Schmid, II 1, München 1920, 260, bes. Anm. 1. Bei J. E. Sandys, A History of Classical Scholarship from the Sixth Century B.C. to the End of the Middle Ages, Cambridge 1903, 120 Anm. 4, figuriert die gesamte Abhandlung Roemers umgekehrt als Zeuge dafür, daß Zenodot manchmal Recht hatte, wo seine großen Nachfolger im Unrecht waren (Roemer hatte dies widerwillig für ein paar Stellen zugegeben), wie denn überhaupt Sandys' relativ ausgewogenes Urteil durch die von ihm angeführten Belege Unterstützung fast nur im Negativen erhält. 14 Offenbar unter dem Eindruck der Arbeit von Roemer zeichnete Gilbert Murray noch in der 4. Auflage von The Rise of the Greek Epic (Oxford 1934,; 283 f.) Zenodot als einen Holzhadker, .clearing an overgrown forest'; es war für M. .clear that he relied largely on his personal feelings' und das führte ihn zu dem Schluß: .The freedom of the old bards was not entirely dead in the first of the critics'. Im Vorwort derselben Auflage ist (S. 4) allerdings schon Böllings entgegengesetzte Ansicht berücksichtigt (zu dieser s. unten). 15 Ath. Lines 30.