Walter Jens Über Fontane Auszug aus dem Buch Walter Jens Wer am meisten red't, ist der reinste Mensch Über Fontane Walter Jens Uber Fontane Auszug aus dem Buch Wer am meisten red't, ist der reinste Mensch Verlag J. B. Metzler, Stuttgart -Weimar Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar Auszug aus dem Buch von: Walter Jens, Wer am meisten red't, ist der reinste Mensch, das im März 2000 im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar erscheint. © 2000 Springer-Verlag GmbH Deutschland Ursprünglich erschienen 2000 bei Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar ISBN 978-3-476-99449-3 ISBN 978-3-476-99448-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-476-99448-6 »Wer am meisten red't, ist der reinste Mensch« Nachdenken über Fontane »DbSIaV von Stech lin, Major a. D. und schon ein gut Stück über Sechzig hinaus, war ( ... ) eines jener erquickli chen Originale, bei denen sich selbst Schwächen in Vorzüge verwandeln. Er hatte noch ganz das eigentümlich sympathisch berührende Selbstge fühl a11 derer, die >schon vor den Hohenzollern da waren<, aber er hegte dieses Selbstgefühl nur ganz im stillen, und wenn es dennoch zum Aus druck kam, so kleidete sich's in Humor, auch wohl in Selbstironie, weil er seinem ganzen We sen nach überhaupt hinter alles ein Fragezei chen machte. Sein schönster Zug war eine tiefe, so recht aus dem Herzen kommende Humanität ( ... ). Er hör te gern eine freie Meinung, je dra stischer und extremer, desto besser. Daß sich diese Meinung mit der seinigen deckte, lag ihm 3 fern zu wünschen. Beinah das Gegenteil. Para doxen waren seine Passion. >Ich bin nicht klug genug, selber welche zu machen, aber ich freue mich, wenn' s andre tun, es ist doch immer was drin. Unanfechtbare Wahrheiten gibt es über haupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig.< Er ließ sich gern was vorplau dern und plauderte selber gern.« So weit das Urteil Fontanes über ein Musterexemplar jener älteren Herren, die im kleinen »Romanschrift steller-Laden« zu Berlin, auf den sich sein Autor so viel zugute tat, als besonders ausgezeichnete Wesen der species humana erschienen - Dubslav nicht anders als sein alter ego in Berlin, der alte Graf Barby oder der Apotheker Louis Henry F6ntane (Akzent auf der ersten Silbe!), den es am Ende seiner Tage in die Nähe von Frei enwalde verschlagen hatte, versorgt von einer Haushälterin in mittleren Jahren, die - so Fon tane im berühmten sechzehnten Kapitel der Au tobiographie Meine Kinderjahre - nach dem Satz lebte: »Selig sind die Einfältigen«, von dem sie freilich »einen etwas weitgehenden Gebrauch« machte. Hier die ein wenig geistesschwache, wenn gleich gutwillige Wirtschafterin, dort die alten Diener, Engelke und Jeserich; hier Schloß und Palais, dort die durch die Devise »klein, aber 4 mein« geadelte Kate des Vaters; hier der von Madame Fontane getrennt lebende Einsiedler, der sein Plauderbedürfnis durch Selbstgesprä che kompensieren mußte (»Er dachte laut; das war immer seine Aushilfe«), dort die beiden Witwer, die sich, in freundlicherem Ambiente, als Causeure von Rang und Distinktion bewäh ren konnten: Fontanes Trias, die, so pflegte er zu sagen, aus drei »Singletons« bestand, vereinte Exemplare, die, wie ihr Autor, den einen Charak terzug teilen: Sie sind Plaudertaschen - Fontane hat diesen ursprünglich negativ besetzten, auf weibliche Plappermäuler bezogenen Begriff po sitiv ins Allgemeine, Menschliche erhoben -, sie lieben den offenen Disput und verachten in der Politik, nicht anders als in Fragen der Religion, jede Form von Orthodoxie. Drei alte Herren, drei maftres grandparleurs - jeder von ihnen ein Spiegelbild des Porträtisten, aber gleichwohl ein Unikat: Louis Henry, geprägt von Weisheit, Einsicht und Melancholie; Dub slav, ein Pointen-Boßler (»Schweigen kleid't nicht jeden. Und dann sollen wir uns ja auch durch die Sprache vom Tier unterscheiden. Also wer am meisten red't, ist der reinste Mensch«); schließlich Graf Barby, der am weitesten gereiste und schon deshalb urbanste unter den Dreien, ein Mann, der wie Fontane auf England einge- 5 schworen ist und seine Blicke über den Teller rand hinausgehen läßt. Barby, ein Kosmopolit, der, was ihm im Vergleich mit Dubslav an Origi nalität fehlt, durch WeItläufigkeit wettmacht: »Papa«, so der junge Stechlin, »sitzt nun seit richtigen dreißig Jahren in einem Ruppiner Win kel fest, der Graf war solange draußen ( ... ) und an der Themse wächst man sich anders aus als am >Stechlin<.« Kein Zweifel - so herzlich Fontane seinen Vater geliebt hat, Louis Henry, den großen So kratiker und Geschichtenerzähler, der sein ei gentlicher Lehrmeister war, und so sehr er Dubslav, dem er den Ehrentitel »Causeur« gab (»Ich bin im Sprechen wie im Schreiben ein Cau seur«), von Herzen bewunderte: an Intelligenz stand er denn doch um ein gutes Stück hinter dem Grafen zurück. (»Sein Urteil, wo Wissen und Einsicht mitsprechen«, so eine Notiz zum Roman, »ist mittelmäßig, wo das Herz spricht, immer richtig und rührend.«) Pectus est, quod disertos tacit, lautet eines jener Fontaneschen Lieblingszitate, das der Autor, ge treu der Devise »das Gute kann man gar nicht oft genug sagen«, gleich mehrfach verwendet: das Innere macht uns beredt - wobei er freilich nur die Hälfte des Diktums, das sich in Quintilians Traktat Die Ausbildung des Redners findet, zitiert. 6 Vollständig lautet die Maxime: »Pectus facit ora torem et vis mentis.« Die Kraft des Geistes - eine mentale Macht also, an der es dem trotz allen Freisinns alten Wertvorstellungen verhafteten Dubslav denn doch gebricht -, sie ist es am Ende, die den alten Grafen zum Ersten der drei alten Weisen aus dem Hause Fontane macht, nicht zuletzt deshalb, weil er sich dank seines europäisch geprägten Witzes auf die angelsäch sische Kunst des small talk versteht, die Fontane unter allen Dialogformen die gemäßes te war. Sein Englisch, im Londoner Exil erlernt, war exzellent; sein Französisch hingegen, ungeachtet der Herkunft aus der hugenottischen »Kolonie« zu Berlin, eher bescheiden. Bei der Niederschrift von mundartlichen Partien mußte der Autor - übrigens mit mäßigem Erfolg, das »Korrekte« genügte eben nicht - Dialekte von Eingeweihten ins Kolonialfranzösische transponieren lassen . .. und was die Akzente angeht, so hatte der Meister sogar da seine Probleme: So sehr er sein talent epistolaire rühmte - er wußte nicht einmal, ob sich das Adjektiv nun mit oder ohne Akzent schreibt. (Auch dieses wiederholt und nicht ohne Koketterie gesagt: schließlich hätte man ja nachschlagen können.) Drei alte Herren also fungieren im Werk des späten Fontane als Meister der gesprächigen Ge- 7