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to see beneath the surface of lives PDF

411 Pages·2007·9.89 MB·English
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„TO SEE BENEATH THE SURFACE OF LIVES“: SHERWOOD ANDERSONS WINESBURG, OHIO, GERTRUDE STEIN UND DIE KUNST DER MODERNE Inauguraldissertation zur Erlangung der Würde eines Doktors der Philologie der Universität Hamburg Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Institut Anglistik und Amerikanistik, Fachbereich Sprache, Literatur und Kultur Nordamerikas vorgelegt von Alexander Meier-Dörzenbach aus Hamburg Hamburg, 2007 Erstgutachter: Professor Dr. phil. Joseph C. Schöpp Zweitgutachter: Professor Dr. phil. Bettina Friedl Tag des Vollzugs der Promotion 19. Juli 2006 1 Die Dinge sind alle nicht so fassbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte; die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen sich in einem Raume, den nie ein Wort betreten hat, und unsagbarer als alle sind die Kunstwerke, geheimnisvolle Existenzen, deren Leben neben dem unseren, das vergeht, dauert. (Rainer Maria Rilke) 2 Inhaltsverzeichnis I. Modern Times...............................................................................................................6 1.1 Die titelgebende Widmung ............................................................................................6 1.2 How to Read – und die Frage nach dem Schreiben.......................................................10 1.3.1 Gertrude Stein als „Mother of Modernism“?.............................................................14 1.3.2.1 Biographische Notiz ..............................................................................................15 1.3.2.2 Ansätze und Wege .................................................................................................17 1.4 Zur Epoche der Moderne .............................................................................................22 2.1 Die Moderne von Stein und Anderson .........................................................................27 2.2 Sherwood Anderson und Gertrude Stein: An Affair to Remember ................................32 2.3 Malerei-Metaphorik.....................................................................................................39 2.4 Sprachkrise der Moderne.............................................................................................44 2.5 „A Very Valentine“: Stein über Anderson ...................................................................47 3.1 Die Verdinglichung und das thing ...............................................................................52 3.2 Das einzig Wahre: „The Real Thing“...........................................................................58 4 Winesburg, Ohio: Analyse I............................................................................................61 4.1.1 Biographische Notiz .................................................................................................61 4.1.2 Literarische Vorläufer...............................................................................................63 4.1.3 Wege nach Winesburg ..............................................................................................65 4.1.4 Das Genreproblem....................................................................................................68 4.2.1 Textanalyse I: Das Groteske – eine Ausgrabung .......................................................70 4.2.2 „The Book of the Grotesque“....................................................................................72 4.2.3 „Tandy“....................................................................................................................76 4.3.1 Fenster und Sehen.....................................................................................................78 4.3.2 Fenster zur Seele und zur Welt: „Godliness“.............................................................79 4.4.1 „Hands Up“ ..............................................................................................................83 4.4.2 „On Wings of Song“: Wing Biddlebaum und die entscheidende Leerstelle ...............85 4.4.3 „A Story of Hands“ ..................................................................................................86 4.4.4 Homosexualität als Antwort auf eine ungestellte Frage .............................................90 4.5.1 For Christ’s Sake: Religiöse Überhöhung.................................................................97 4.5.2 Der lehrende Heiland..............................................................................................103 II. Bildergeschichten: Cézanne und Stein ............................................................106 1.1 Richtung Lichtung.....................................................................................................106 1.2 Kunst als Ausweg aus der Krise.................................................................................107 1.3 „Paul Cézanne, der Menschheitslehrer der Jetztzeit“..................................................110 1.4 Schauen und Sehen....................................................................................................111 2.1 Leda, Nana oder eine namenlose Nackte....................................................................114 2.2 Leinwandlyrik: Madame Cézanne vor der türkisen Wand ..........................................119 3.1 Das Bildnis von Madame Cézanne im Hause Stein....................................................123 3.2 Ein Porträt von Madame Cézanne: Beschreibung.......................................................126 3.3 Bilddatierung.............................................................................................................129 3.4 Leerstelle und Lehrstelle............................................................................................131 3 4.1 Bilder von Stein: „Pictures“ als Bildung durch Bilder................................................141 4.2 Millet und die Folgen ................................................................................................145 4.3 Bilderbenennung .......................................................................................................149 5.1 Cézanne und Literatur ...............................................................................................155 5.2 „Loneliness“: Ein Bild der verfehlten Kommunikation ..............................................158 6.1 Steins Porträt von Cézanne, 1923 ..............................................................................167 6.2 Steins Porträt von Cézanne, 1912 ..............................................................................171 7.1 Hemingway und Cézanne ..........................................................................................177 7.2 Analysenproblematik.................................................................................................180 7.3 Ästhetische Konsequenzen ........................................................................................184 7.4 Gegenseitige Porträts.................................................................................................188 III. A Rose for Gertrude............................................................................................194 1.1 An English Rose? ......................................................................................................194 1.2 „La Vie en Rose“.......................................................................................................199 2.1 „Roses are red, violets are blue“ ................................................................................203 2.2 „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ ..........................................................................208 3.1 „Rosen aus dem Süden“.............................................................................................211 3.2 „What is like a red, red rose...“ ..................................................................................216 3.3 „Le plus vieux tango du monde“................................................................................218 3.4 „Over the rose-crowned land“....................................................................................221 4.1 „Rosen, ihr Blendenden, / Balsam versendenden!“ ....................................................225 4.2 „Sah ein Knab ein Röslein stehn...“ ...........................................................................230 4.3 „Letzte Rose“ oder „Pigeons and Roses Pass, Alas!“ .................................................232 IV. Anderson und die Kleinstadt ............................................................................236 1.1 Von Paris nach Winesburg und Spoon River .............................................................236 1.2 Zwei literarische Kleinstädte im Mittleren Westen.....................................................236 1.3 Moderne Kunst: Die „Armory Show“ im Mittleren Westen .......................................239 1.4.1 Exkurs: Matisse ......................................................................................................243 1.4.2 Matisse und Stein ...................................................................................................247 1.5 Berührungspunkte der Autoren und Werke ................................................................251 1.6 Spoon River Anthology als Inititialzündung ...............................................................253 1.7 Eine Auswahl ............................................................................................................256 2 Winesburg, Ohio: Analyse II ........................................................................................258 2.1 Symbolische Räume ..................................................................................................258 2.2.1 Der Aspekt des potentiellen Künstlers – Lernen mit George ...................................263 2.2.2 Die Wörterflut ........................................................................................................265 2.2.3 Beginnende Empathie und imaginierte Liebe ..........................................................267 2.2.4 Das Bewusstsein der Lücke ....................................................................................270 2.2.5 Erwachen, erwachsen .............................................................................................271 4 V. Bildergeschichten: Picasso und Stein ...............................................................282 1.1 Der Sinn der Sprache.................................................................................................282 1.2.1 Perspektivenwechsel...............................................................................................288 1.2.2 Perspektivischer Einschub ......................................................................................289 1.3 Stein als Kubistin?.....................................................................................................291 1.4 Begrifflichkeiten des Kubismus’................................................................................295 1.5 Kubismus in Malerei und Literatur – Form und Fehler?.............................................298 1.6.1 Paul et Pablo contre Gertrude .................................................................................300 1.6.2 Das Zeugnis............................................................................................................303 1.7 Schrift und Bild .........................................................................................................305 2 Bilder von Picasso I......................................................................................................307 2.1 Die Demoiselles ........................................................................................................307 2.2 Schnittstelle mit William James.................................................................................313 2.3 Spanische Landschaftsausblicke ................................................................................315 2.4 Picasso schreibt .........................................................................................................321 3 Bilder von Picasso II ....................................................................................................322 3.1 Porträt .......................................................................................................................322 3.2 Das Sehen und das Sagen ..........................................................................................324 3.3 Picassos Stein............................................................................................................327 3.4.1 Seitenblick: When Mary met Edgar ........................................................................334 3.4.2 Another One ...........................................................................................................336 3.5 The Portrait of a Lady................................................................................................338 3.6 Der innere Motor.......................................................................................................340 3.7 Ein haariges Problem: AABT .....................................................................................347 4 Stein schreibt Picasso ...................................................................................................351 4.1 Erstes Text-Bild.........................................................................................................351 4.2 Zweites Text-Bild......................................................................................................356 4.3 Das Buch Picasso......................................................................................................359 4.4 „To see or not to see“ ................................................................................................364 VI. „Anyway, there is no ending“ ...........................................................................365 1 Das verborgene Leben: Anderson.................................................................................365 2 In der Zauberküche: Anderson und Stein ......................................................................368 3 Sweet Stein ..................................................................................................................371 4 Ending..........................................................................................................................373 Bibliographie.................................................................................................................376 1 Primärliteratur ..............................................................................................................376 2 Sekundärliteratur ..........................................................................................................382 5 I. Modern Times A writer should write with his eyes, and a painter should paint with his ears. 1 (Gertrude Stein ) The new note in the craft of writing is in danger, as are all new and beautiful things born into the world, of being talked to death in the cradle. 2 (Sherwood Anderson ) To show it this is the way to do it. 3 (Gertrude Stein ) 1.1 Die titelgebende Widmung 4 „Die Kunst ist bestimmt zu beunruhigen; die Wissenschaft macht sicher“ – so trennt George Braque, kubistischer Weggefährte von Pablo Picasso, das geheimnisvoll verwirrende Reich der Kunst vom ausdrücklich bestimmenden Reich der Wissenschaft. Gertrude Stein versteht es dabei mit ihrer Kunst schneller zu beunruhigen als Sherwood Anderson, der auf der Textoberfläche noch eine sicher linear erzählte Spannung erzeugt. Doch durch die vom Leser vielfach zu füllenden Leerstellen beunruhigt seine Kunst unter dieser narrativen Oberflächenspannung umso nachhaltiger. Er widmet seinen Erzählzyklus Winesburg, Ohio (1919) dem Andenken an seine Mutter; diese erinnernde Zueignung beinhaltet ein ästhetisches Konzept: To the memory of my mother, EMMA SMITH ANDERSON, whose keen oberservations on the life about her first awoke in me the hunger to see beneath the surface of lives, this book is dedicated. Durch Beobachtungen des alltäglichen Lebens um sie herum hat Emma Smith Anderson in ihrem Sohn den dringenden Wunsch freigesetzt, unter die Oberfläche der unterschiedlichen Leben zu blicken: „to see beneath the surface of lives“. Anderson hat nicht ein abstraktes 1 Gertrude Stein, „A Transatlantic Interview 1946“, in: A Primer for the Gradual Understanding of Gertrude Stein, Hg. Robert Bartlett Haas, Los Angeles, 1971, S. 15-35, hier S. 31. Im Folgenden wird dieser Text mit TI abgekürzt. 2 Sherwood Anderson, „The New Note“, in: The Little Review Anthology, Hg. Margaret Anderson, New York, 1953, S. 13-15, hier S. 13. 3 Gertrude Stein, „Two: Gertrude Stein and Her Brother“, in: Two: Gertrude Stein and Her Brother and Other Early Portraits (1908-1912), Bd. I der Yale-Ausgabe der unveröffentlichten Schriften von Gertrude Stein, New York, 1969, S. 1-142, hier S. 140. 4 Georges Braque, Vom Geheimnis in der Kunst, Zürich, 1958, S. 65. 6 Konzept von Leben vor Augen, sondern will durch ein plurales Erfahren von Leben, durch vielfache subjektive Individualisierung, einen neuen Zugang zum eigenen ermöglichen, wie 5 im Folgenden aufgezeigt werden wird. Das Schauen unter die Konstruktion von Realitäten wird leitmotivisch die hier vorliegende Auseinandersetzung mit Stein und Anderson prägen – oft in der semantischen Differenz von see und look. Dieses Blicken unter die Oberfläche von Leben, bedeutet, Beunruhigungen nachzugehen. Diesen Blick unter die Lebensoberflächen nun allerdings sprachlich zu materialisieren, stellt den Künstler ebenso wie den Wissenschaftler vor schwierige Aufgaben, da dem Blick eine Unsagbarkeit eingeschrieben ist. Auch durch Einbeziehung der künstlerischen Ausformung des Blickes in Werken Cézannes und Picassos kann das Problem nicht gelöst werden – aber das muss es auch nicht, denn eine gedehnt komplexe Frage kann konstruktiver sein, als durch enge Theoriefilter gelaufene Antworten. Während das Schreiben nun ein graphischer Ausdruck ist und durch Wörter und Bedeutungen ebenso Raum wie Zeit unterliegt, ist die Malerei von Formen und Farben bestimmt, deren Wirkung in Sprache festzuhalten man versucht sein kann. Ästhetische Analogien wie Wortfarbe, Perspektive und Materialbewusstsein können helfen, Freiräume zu etablieren, doch muss deutlich werden, dass für ein gemaltes Bild ebenso wie für ein kunstvoll geschriebenes gilt: Ein Bild will nichts aussagen. Wenn das sein Vorhaben wäre, wäre es tatsächlich dem Wort unterworfen und müßte von der Sprache „aufgehoben“ werden, um eine Bedeutung, eine klar mitteilbare Bedeutung zu erhalten. Zwischen der figurativen Ordnung des Bildes und der 6 diskursiven Ordnung der Sprache gibt es einen Spielraum, der durch nichts aufzufüllen ist. Diesen Zwischenraum von Figuration und Diskursivierung gilt es in den nächsten Kapiteln abzustecken und durch wechselseitige Rezeption der Künste erfahrbar zu machen. Dabei geht es nicht um Simonides von Keos’ Unterscheidung der Malerei als „stumme Poesie“ und des Gedichtes als „sprechendes Bild“ oder Horaz’ bekanntes Zitat aus seiner Ars Poetica: „ut pictura poesis“, sondern um die Erkenntnis, dass beide Künste auf eine 7 Wirklichkeitskonstruktion verweisen – ob nun in mimetischer Annäherung oder Negation. 5 Duane Simolke zitiert falsch, wenn er von „see beneath the surface of life“ spricht und übergeht damit den entscheidenden Plural, s. sein: Stein, Gender, Isolation, and Industrialism. New Readings of „Winesburg, Ohio“, San Jose, 1999, S. 1. 6 Sarah Kofman, Melancholie der Kunst, Graz, 1986, S. 22. 7 S. Wendy Steiner, The Colors of Rhetoric. Problems in the Relation between Modern Literature and Painting, Chicago, 1985, S. 5ff. Für eine Diskussion der Analogie in der Romantik, die auch Lessings „Laokoon“ und die damit verbundene Abkehr von Horaz’ Diktum mit einbezieht, s. Meyer Howard Abrams, The Mirror and the Lamp. Romantic Theory and the Critical Tradition, New York, 1958, vgl. a. Mario Praz, Mnemosyne: The Parallel Between Literature and the Visual Arts, Washington, 1967. Bis in die Gegenwart hinein untersucht Wolfgang M. Faust die Beziehung der Künste in seinem: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von bildender Kunst und Literatur: vom Kubismus bis zur Gegenwart, Köln, 1987. Der vielfältigen Macht des Blickes in der 7 Damit wird nicht eine Realität abgebildet, sondern vielmehr kreiert – das Medium wird als dinghafte Wirklichkeit erfahren und gibt neue Blicke auf die Künste frei; Stein notiert in ihrem How to Write: What is a sentence they have forgotten a noun. Having forgotten a noun they have forgotten a noun. A sentence is to hear from me. A quietly at least a plainly there a pear. This is not a 8 sentence it is a picture. A sentence is not a picture. … I have done a little but it is very good. Diese mediale Unterscheidung von Satz und Bild, die Gertrude Stein hier ebenso klangspielerisch wie enigmatisch expliziert, macht deutlich, dass sie grammatisch, ungrammatisch oder sogar antigrammatisch Position beziehen kann, aber niemals agrammatisch; sie ist durch ihr Medium Sprache an einen gewissen Rahmen gebunden. In ihrem Everybody’s Biography findet sich dieses Bewusstsein als Liebeserklärung an das Medium: „I like anything that a word can do. And words do do all they do and then they can 9 do what they never do do.“ Erst in dieser bewussten Akzeptanz werden neue Möglichkeiten freigesetzt, die auch Sherwood Anderson in seiner Vorlesung über Realismus 1939 deutlich machte: „The difficulty, I fancy, is that so few workmen in the arts will accept their own 10 limitations. It is only when the limitation is fully accepted that it ceases to be a limitation.“ Diese Arbeit will nun den begrenzenden Rahmen von Sprache kulturell ausweiten und von mehreren Seiten betrachten, um so einen Blick unter die rezeptive Lebensoberfläche werfen zu können. Das Changieren von Ethik und Ästhetik, von Sprechen und Schweigen, von Zeigen und Verhüllen soll um die Texte von Gertrude Stein und Sherwood Anderson in interdisziplinärer Polyperspektivität erfahrbar gemacht werden. Hier soll nicht mit einer Theorie ein Textkorpus geknackt werden, um den Kern dann zur Theorie zu positionieren, sondern vielmehr das selbstkritisch ästhetische Bewusstsein der Primärwerke derart zum Sprechen gebracht werden, dass die unterschiedlichen Interpretationsspiralen in ihnen erfahrbar werden. Auf einer zeitgenössischen Spiralfahrt im Jahre 1907 wurde Christian Morgenstern von einem sprachphilosophischen Schwung angetrieben, der in seiner selbstkritischen Limitierung bemerkenswert ist – zumal er in dem Jahr entstand, in dem Ferdinand de Saussure erst anfing, seine Vorlesungen in theoretischer Linguistik in Genf zu halten: literarischen Kunst der Moderne von James bis Nabokov ist Karen Jacobs in ihrem The Eye’s Mind. Literary Modernism and Visual Culture, Ithaca, 2001 nachgegangen. 8 Gertrude Stein, How to Write, Einl. Patricia Meyerowitz, New York, 1975, S. 161, im Folgenden mit HTW abgekürzt. 9 Gertrude Stein, Everybody’s Autobiography, New York, 1937, S. 317; im Folgenden wird der Text mit EA abgekürzt werden. 10 Sherwood Anderson, A Writer’s Conception of Realism, Olivet, 1939, S. 16. 8 Kritik der Sprache ist zuletzt auch nur ein Gesellschaftsspiel. Es gibt kein Wort, das außerhalb der Spache noch irgendwelchen Sinn ergäbe. Wer sich außerhalb der Sprache setzen möchte, findet keinen Stuhl mehr. Er kann nicht einmal mehr sagen: nun weiß ich wenigstens, daß Wissen Unmöglichkeit ist. „Wissen“ ist so gut eine Spielmünze, wie „sein“, wie „Unmöglichkeit“, wie „Sprache“, wie „außerhalb“. Es ist dafür gesorgt, daß wir die „Welt“ nicht in die Luft sprengen. Ich nenne diese widerspruchslose Ohnmacht in Dingen wirklicher, nicht nur scheinbarer Erkenntnis manchmal bei mir: die Selbstversicherung Gottes. Sie ist 11 eines Gottes würdig. Stein hat nun dieser Gottheit mit weiblichem Schalk diesen selbstversichernden Herrschaftsanspruch ausgetrieben und die Erfahrung der Welt damit sehr wohl in die Luft gesprengt. Diese Gottlosigkeit ihrer Ästhetik gründet sich aber nicht auf einem pessimistischen Nihilismus, sondern auf einer offenen Liebes-Ethik, deren Herz im Konzept der individuellen Erfahrung schlägt; sie schreibt in Paris France: „The twentieth century was not interested in impressions, it was not interested in emotions, it was interested in 12 conceptions.“ Diese Begriffsbildung ist ein entscheidender Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit Kunst, da in ihm die Theorie vom unschuldigen Auge falsifiziert wird und das Sehen eine neue Dimension bekommt, die Ernst Gombrich bereits 1959 in seinem Art & Illusion formulierte: „[S]eeing is never just registering. It is the reaction of the whole organism to the patterns of light that stimulate the back of our eyes; in fact, the retina…does not react to 13 individual stimuli of light, …but to their relationsship, or gradients.“ Für Gombrich manifestiert sich das Signifikante in der Kunst darin, dass sie dem menschlichen Gedanken, der fühlenden Seele, der verständigen Absicht entspringt und nicht der externen Welt: „All art originates in the human mind, in our reactions to the world rather than in the visible world itself, and it is precisely because all art is ‘conceptual’ that all representations are 14 recognizable by their style.“ Es ist genau dieses konzeptionelle Wesen aller Kunst, das Stein als Ausgangspunkt nimmt, textuelle Räume zu kreieren, die auch eine bildliche Dimension öffnen. Dabei kann nach umfangreicher Forschung zu Bildern und Texten geltend gemacht werden, was Allison Blizzard in einer gerade erschienen Studie summiert: „A definitive one- to-one analogy is not necessary; it is, instead, important to focus on the changes, innovations, 11 Christian Morgenstern, Stufen. Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen, München, 1917, S. 93. 12 Gertrude Stein, Paris France, New York, 1970, S. 61. 13 Ernst H. Gombrich, Art & Illusion: A Study in the Psychology of Pictorial Representation, London, 1996, S. 252. 14 Ernst H. Gombrich, Art & Illusion, S. 76. 9 expansions, deviations the various artists use and/or create within their respective mediums in 15 order to achieve certain results, to realize certain concepts.“ 1.2 How to Read – und die Frage nach dem Schreiben In einer 1940 veröffentlichten Rezension schreibt Janet Flanner über Gertrude Steins Paris 16 France: „It is audibly written in her clear conversational style“ und postuliert damit synästhetisch eine bestimmte Art der Rezeption. Das „audibly written“ verbindet die Sinnerfahrung des rezipierenden Hörens – etwas, das der Leser leisten muss – mit der schreibenden Tätigkeit der Autorin. Auch wenn das Geschriebene sich zuerst auf die visuelle Wahrnehmung bezieht – das folgende Adjektiv „clear“ unstreicht die optische Relevanz – so wird die akustische Sinnlichkeit des Textes bewusst herausgestellt. Der „conversational style“ betont eine Dialogsituation: der Begriff „Konversation“ ist ja dem Lateinischen con-versari (mit jemandem umgehen, sich aufhalten) entlehnt und bedeutet beiderseitige Hinwendung. In Flanners kleiner Notiz wird somit eine präzise, wertvolle Anleitung zum Lesen von Steinschen Texten angeboten, die sinnliche Erlebnisräume öffnet: Es geht um das gegenseitige Erfahren und Konstruieren von Wirklichkeiten. Steins Unterscheidung des „talking and writing“ – besonders präsent in ihrem 1936 in Oxford und Cambridge gehaltenen 17 Vortrag „What Are Master-pieces and Why Are There So Few of Them“ – kann bis zu 18 Derridas poststrukturalistischer Theorie von Sprechen und Schreiben hingeführt werden, doch soll Steins Ansatz hier in Verbindung der Künste und im Licht von Sherwood Andersons 1919 erschienenen Erzählzyklus Winesburg, Ohio erläutert werden. Die Texte von Stein beinhalten Klangexperimente und Wortspiele, Ellipsen und Metonymien, opake Sprachbilder, Parodien, Wiederholungen sowie Metaphern und Symbole, die sich nicht so sehr auf einen Referenzrahmen der klassischen Bildung verlassen, sondern auf das sich im 15 th Allison Blizzard, Portraits of the 20 Century Self. An Interartistic Study of Gertrude Stein’s Literary Portraits and Early Modernist Portraits by Paul Cézanne, Henri Matisse and Pablo Picasso, Frankfurt/M., 2004, S. 25. Für eine Diskussion über eine Sprache zu Bildern s. Ferdinand Fellmann, „Wovon sprechen die Bilder? Aspekte der Bild-Semantik“, in: Bild und Reflexion: Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, Hgg. Birgit Recki/Lambert Wiesing, München, 1997, S. 147-59. 16 Janet Flanner, „History Tramps Down Champs-Elysées“, The New York Herald-Tribune Books (23.06.1940): 1. 17 Gertrude Stein, „What Are Masterpieces and Why Are There So Few of Them“, in: Look at Me Now and Here I Am. Writings and Lectures 1909-45, Hg. Patricia Meyerowitz, London, 1971, S. 148-156. Im Folgenden wird diese Sammlung mit LAM abgekürzt. 18 Derrida betont die écriture, da Zeichen keine Welt abbilden, die es ohne sie gibt, sondern sie diese in einem sich ständig verändernden Prozess konstituieren, vgl. Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt, 1974, bes. S. 178ff., Ders., Die Schrift und die Differenz, Frankfurt, 1972. Für eine Ausweitung dieses Aspektes s. Georg Schillers Dissertation Symbolische Erfahrung und Sprache im Werk von Gertrude Stein, Frankfurt/M., 1996. Schiller zeigt auf, wie Stein die Probleme von Derrida überwindet: „Die diffèrance ist für Derrida die Negation absoluter Dichotomien, weil sie als dynamisches Feld ununterbrochener Verschiebungen immer wieder neue ‚Differentiale‘ ins Spiel bringt. … Sie ist ‚Strategie ohne Finalität‘“ (S. 204f.). 10

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