Die Welt der Soziologie besteht, so scheint es, aus zwei klar voneinander getrennten Bereichen: aus dem Bereich der Theorie und dem der Empirie. Offenkundig wird dies an den Bezeichnungen universitärer Lehrstühle, bei Stellenausschreibungen und an der Konzeption von Lehrbüchern. Man ist entweder Theoretiker oder Empiriker. Ausgangspunkt der in diesem Band versammelten Beiträge ist die Praxis der qualitativen Sozialforschung und damit eine empirische Tradition, die in den letzten zwanzig Jahren das Bild der Soziologie grundlegend verändert hat: Sie erforscht die Lebens welten moderner Gesellschaften und stellt sie in einem neuen Liehe dar. In diesem Band erkunden Empiriker und Theoretiker der Soziologie die Spannung und wechselseitige Durchdringung von Theoriebildung und empirischer Forschung, um das Verhältnis von Theorie und Empirie neu zu bestimmen. Herbert Kalthoff ist Professor für Soziologie an der Johannes Gutenberg Universität Mainz; Stefan Hirschauer ist Professor für Soziologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Gesa Lindemann ist Professorin für Soziologie an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Theoretische Empirie Zur Relevanz qualitativer Forschung Herausgegeben von Herbert Kalthaff, Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann Suhrkamp Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliorhek verzeichnet dies·eP ublikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ /dnb.d-nb.de abrufbar. suhrkamp ta.schenbuch wissenschaft 1881 Erste Auflage 2008 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein 1eil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staude Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany ISBN 978-3-518-29481-9 1 2 3 4 5 6 - 13 12 II IO 09 08 Inhalt Stefan Hirschauer,H erbert Kalthoff und GesaL indemann Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Herbert Kalthoff Einleitung: Zur Dialektik von qualitativer Forschung und soziologischer Theoriebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Theoriekonstruktionen und Empirieentwürfe Karin Knorr Cetina Theoretischer Konstruktivismus. Über die Einnistung von Wissensstrukturen in soziale Strukturen . . . . . . . . . . . . . 35 Armin Nassehi Rethinking Functionalism. Zur Empiriefähigkeit systemtheoretischer Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 GesaL indemann Theoriekonstruktion und empirische Forschung ......... 107 WoljgangL udwig Schneider Systemtheorie und sequenzanalytische Forschungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Theorie-Empirie-Passungen Stefan Hirschauer Die Empiriegeladenheit von Theorien und der Erfindungsreichtum der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Andreas Reckwitz Praktiken und Diskurse. Eine sozialtheoretische und methodologische Relation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Hubert Knoblauch Sinn und Subjektivität in der qualitativen Forschung 2ro Stephan Wolff Wie kommt die Praxis zu ihrer Theorie? Über einige Merkmale praxissensibler Sozialforschung . . . . . . . . . . . . . . . 234 Die empirische Genese von theoretischen Konzepten Heinz Bude Das »Serendipity Pattern«. Eine Erläuterung am Beispiel des Exklusionsbegriffs ...................... 260 Jörg Strübing Pragmatismus als epistemische Praxis. Der Beitrag der Grounded Theoryz ur Empirie-Theorie-Frage ......... 2 79 Udo Kelle Strukturen begrenzter Reichweite und empirisch begründete Theoriebildung. Überlegungen zum Theoriebezug qualitativer Methodologie . . . . . . . . . . . . 312 Die Theoretisierung empirischer Beobachtungen WernerR ammert Technographie trifft Theorie. Forschungsperspektiven einer Soziologie der Technik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 ThomasS chejfer Zug um Zug und Schritt für Schritt. Annäherungen an eine transsequentielle Analytik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Mechthild Bereswillu nd PeterR ieker Irritation, Reflexion und soziologische Theoriebildung 399 Elke Wtigner Operativität und Praxis. Der systemtheoretische Operativitätsbegriff am Beispiel ethischer Medizinkritik .. 432 Hinweise zu den Autorinnen und Autoren ................. 449 Vorwort In der Soziologie ist die qualitative Forschung lange in einem Ge gensatz zur standardisierten Sozialforschung diskutiert worden. Diese Polarisierung war vor allem dadurch motiviert, daß man auf beiden Seiten ein Label für das >Andere<d er quantifizierenden Sozi alforschung suchte: eine kaum überschaubare Vielfalt von Ansätzen, Forschungsstrategien, Verfahrensweisen und Erkenntniszielen. Statt des notorisch asymmetrischen Gegensatzeisn Methodenfra gen stellc dieser Band in den Vordergrund, daß man die >qualitativ< genannten Forschungsstrategien vor allem in ihrer Verknüpfungm it der soziologischen Theoriebildung sehen muß. Die vorliegende Sammlung ist im Zuge der Ausdifferenzierung einer eigenen Sekti on ,Qualitative Methoden< im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie entstanden und umfaßt ausgewählte Beiträge zweier Tagungen über den Zusammenhang von »Qualitativer Forschung und soziologischer Theoriebildung«: einer Tagung an der Universi tät Bielefeld im Mai 2005 sowie eines DFG-Rundgesprächs an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Juli 2006. Neben den hier versammelten Autorinnen und Autoren sprachen Jörg Bergmann, Christei Hopf, Bettina Heintz und Stefan Kutzner. Wir verstehen den Band als einen Denkanstoß, über den eingelebten Dualismus der Profession hinauszukommen, der Theoretiker und Empiriker unterscheidet, und meinen, daß es die qualitative For schung ist, die genau dies zu leisten imstande ist. Zu danken ist an dieser Stelle all den Kolleginnen und Kollegen, die an der Fertigstellung dieses Bandes auf die eine oder andere Weise durch Anregungen und Kritik, Unterstützung und Hilfe beteiligt waren. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft und ihre Gutachter ermöglichten durch eine großzügige Finanzierung den konzentrierten und produktiven Gedankenaustausch im Rahmen der Münchener Tagung. Jörg Bergmann und Armin Nassehi ist für die Ausrichtung der Bielefelder bzw. Münchener Tagung ganz herz lich zu danken. Stefan HirschauerH, erbertK althoff, GesaL indemann 7 Herbert Kalthoff Einleitung: Zur Dialektik von qualitativer Forschung und soziologischer Theoriebildung Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker. Als Theoretiker bezeichne ich jemanden, der ein allge meines System errichtet [. .. ] und es in immer glei cher Weise auf unterschiedliche Bereiche anwendet. Das ist nicht mein Fall. Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, daß ich schreibe, um mich selbst zu ver ändern und nicht mehr da,selbe zu denken wie zuvor. (Foucault 1996: 24) I. Qualitative Forschung: Theorie und Empirie im Gespräch1 Das Fach Soziologie ist in seinem Kern in zwei Sphären geteilt: ,die Theorie, und ,die Empirie<. Unübersehbar ist diese Teilung bei der Denomination von Lehrstühlen, Stellenausschreibungen und Lehr büchern. Man ,ist<- gut erkennbar für die Gegenseite - Theoretiker oder Empiriker. Auf der einen Seite steht die Arbeit an Begriffen, Konzepten, Modellen, Systemen, auf der anderen Seite die Arbeit mit empirischen ,Daten,. Theorie und Empirie bilden ein Begriffs paar und stehen sich seit der Etablierung des Fachs antithetisch ge genüber. Das Begriffspaar repräsentiert für die Mitglieder des Fachs und für sein Publikum ein Modell der Soziologie, das Zuständig keiten und Reichweiten klar trennt und jeweils der einen oder an deren Seite zurechnet. Zu beobachten ist einerseits, daß Theoretiker ihre Theorien gegen eine empirische Infragestellung immunisieren, indem sie eine indifferente Haltung gegenüber empirischen Daten einnehmen; andererseits pflegen Empiriker eine Theorievorsicht, da man eine Subsumierung von Forschung unter allzu hermeti- 1 Meinen Dank an Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann für ihre Anregungen und Kritik. Das Projekt »theoretische Empirie« basiert auf geteilten Vorstellungen über die Funktion qualitativer Forschungsprozesse und Forschungsresultate inner halb der Soziologie. 8 sehe Theorieansätze zu vermeiden trachtet. Die Begriffe ,Theorie, und ,Empirie, bezeichnen damit zwei weitgehend separierte sozio logische Wissenspraktiken, die auf unterschiedlichen Materialien, Relevanzen, philosophischen Traditionen und Diskursen gründen. Die Bezugspunkte für Theorie sind Texte, Texte über Texte und ein Korpus von Klassikern; ihre Orientierungspunkte sind klassische und moderne Autoren; ihre Praxis ist Lektüre und Synthese; ihr Emblem ist das Buch. Bezugspunkte für Empirie sind Wirklichkei ten ,dort draußen, sowie ihre internen Relationen und Dynamiken; sie erfordern schriftliche Darstellungsformen sowie methodisches und analytisches Wissen. Ihr Emblem ist eine Rhapsodie von ,Roh daten,. So weit, so bekannt. Wie alle Dualismen führt auch derjenige von Theorie und Empirie in seiner Klischeehaftigkeit eine Reihe von Unschärfen mit sich.2 Auf den zweiten Blick zeigt er sich näm lich primär motiviert durch einen bestimmten Typ empirischer So zialforschung (die standardisierende) und durch einen bestimmten Typ der Theoriebildung, den man ,selbstreferentiell, nennen kann (vgl. Lindemann in diesem Band). Schwer zu plazieren in diesem Dualismus ist hingegen das weite Feld der qualitativen Forschung in der Soziologie. Deren enger Theoriebezug gehört seit jeher zu den Voraussetzungen und den Resultaten jener Forschung. Eben jener Theoriebezug ist Gegenstand der Beiträge dieses Bandes. Sein Titel - »theoretische Empirie« - bringt diese Forschungshaltung zum Ausdruck.3 Er knüpft damit an Diskurse an, die die Notwen- 2 In der Geschichte der Soziologie findet sich eine Vielzahl solcher Gegensatzkon- struktionen wie etwa Mikro/Makro, Kultur/Natur, Struktur/Handlung. In »Sat telzeiten« (Koselleck) soziologischer Theoriebildung finden Umkehrungen statt, und damit verlieren diese Gegensätze ihren den soziologischen Diskurs bestim menden Charakter (vgl. Knorr Cetina/Cicourel 1981). Bei Simmel (1916h7: 33) bezeichner der Begriff »rheoretische Empirie« eine Form von Empirie, in der Wirklichkeit dargestellt werden kann: »Fassen wir nämlich den Begriff der empirischen Welt in seinem weitest möglichen Sinne, so ist er ein Abstraktum, das eine Reihe empirischer Welten unter sich begreift: da es nicht nur eine theoretische Empirie gibt, sondern auch eine religiöse, eine werthafce, eine künstlerische, so besteht nicht nur eine wirkliche Welt in dem praktischen Sinne des Wortes, sondern auch eine religiöse, eine wissenschaftliche, eine künstlerische. Alle diese Welten haben prinzipiell den gleichen Inhalt, aber ganz verschiedene Grundmotive bringen ihn in diese ganz verschiedenen Gesamtformungen. Keine von diesen ist von sich aus der Mischung oder Kreuzung mit den andern fähig, da eine jede ja schon den Weltstoff seinem ganzen Umfange nach einschließt.« 9 digkeit betonen, Empirien und Theorien nicht getrennt zu denken (etwa Merton 1968: 139f f, 156f f; Bourdieu 1979: 228 ff).4 Dieses Ineinanderverwobensein von theoretischer und empirischer For schung und damit die Theoriehaltigkeit qualitativer Forschung beschäftigt die Beiträge dieses Bandes. Sie arbeiten gemeinsam daran, der dichotomischen Encgegensetzung von theoretischer und empirischer Arbeit ihre selbstverständliche Geltung zu entziehen und den (empirischen) Sinn soziologischer Theorien neu zu be stimmen. Die Differenzen werden also neu befragt, ihre Konturen genauer ausgelotet und die Systematik von Theorie und Empirie in den Blick genommen. Bildlich läßt sich der dadurch hergestellte Austausch als ein Ge spräch vorstellen, in dem sich Empirien und Theorien gegenseitig informieren. Informieren bedeutet zunächst einmal, jemanden über eine Sache zu benachrichtigen oder in Kenntnis zu setzen. Man weiß dann, daß beispielsweise ein soziales Phänomen empirisch oder theoretisch so oder so gesehen werden kann. Diese sich ge genseitig informierende Kommunikation läßt sich als eine neutrale Vermittlung von Wissen oder Perspektiven verstehen; man nimmt dann an, daß Information Transparenz ermöglicht. Man kann aber auch --annehmen, daß hier mehr im Spiel ist und daß dieses Sich gegenseitig-Informieren eine Wirkung ausübt, die die Gegenseite nicht so beläßt, wie sie ist. Nimmt man die Wirkung in den Blick, die empirische und theoretische Forschungen aufeinander ausüben, dann ist von einer Ausrichtung oder Formatierung der empirischen Forschung durch Theorie respektive der theoretischen Forschung durch Empirie auszugehen. Erinnert sei an dieser Stelle an Heideg ger (199]: 203), der über die Wirkung der Information schreibt: »Indem jedoch die Information in-formiert, d. h. benachrichtigt, formiert sie zugleich, d. h. sie richtet ein und aus.« Ziel dieses Bandes ist es also, diese zweigeteilte Welt und das, was in ihr vorgesehen ist, einem zweiten Blick auszusetzen. Erörtert werden Fragen erstens nach dem Status von Theorien und dem Status empirischen Materials und zweitens nach der Perspektivität, die in die Theorien oder Methoden eingelassen ist. Mit dem ersten 4 Joas/Knöbl (2004: 13f f.) spezifizieren die Verknüpfung von Theorie/Empirie mit dem von Jeffrey Alexander (1982: 2 f.) entwickelten Kontinuum, dessen Pole »me taphysische« und »empirische Umwelt,, bilden. Dazwischen finden sich Begriffe angeordnet wie ,,Modelle«, »Konzepte«, »Klassifikationen«, »Beobachtungen«. IO