Skurril wie ein Ostfriesenwitz Der friedliche Ausflug in die einzigartige Geschichte des rauen Küstenlandes Die berühmten Ostfriesenwitze spiegeln die eigentümliche Kultur dieses isolierten Landstrichs im äußersten Nordwesten wider. Doch das Leben dort ist meistens alles andere als spaßig gewesen. Jahrhundertelang war Ostfriesland aufgrund seiner Nordseelage nicht nur von Wellen umtost, sondern auch von zahlreichen Völkern umkämpft. Geschichtsbücher führen daher oft nur Fehden und Kriege an. Diesen Aspekt lässt das Spiel „Arler Erde“ außer Acht und widmet sich völlig friedfertig dem Handwerk und der Landwirtschaft. Denn beides ist in der rauen Küstenregion zwischen Dollart und Jadebusen in seiner Ausprägung einzigartig. Das hat sowohl historische als auch geografische und geologische Gründe. Ostfriesland erinnert an einen Pfannkuchen: Es hat einen saftigen Gürtel am Rand, die Mitte ist mager, und die festgeklebten Spritzer am Bratpfannenrand sind die Inseln. Der Boden besteht aus sandiger Geest, die größtenteils von Hochmooren überzogen war, sowie fruchtbarem, dem Meer mühsam abgerungenen Marschland. Friede, Freude, Eierkuchen ist das Leben in Ostfriesland nie gewesen. Dem konnten die Einheimischen nur mit derbem Humor und Pragmatismus begegnen. Sie haben sich Praktisches und Skurriles einfallen lassen, um das permanent von Sturmfluten bedrohte Gebiet bewirtschaften und bewohnen zu können. Das Spiel „Arler Erde“ bewegt sich um das Jahr 1800 herum – eine Zeit des großen Wandels und der Prosperität, in der die Ostfriesen endlich einmal etwas zu lachen hatten. Ostfriesland von 1786 bis 1807 Verschwenderisches Sinnbild des preu- Das ausklingende 18. Jahrhundert war auch die große Zeit der ßischen Wohlstandes war Friedrich Wil- Fehngründungen. Die Torfproduktion stieg von 1750 bis 1790 helm II. Der Neffe von Friedrich dem um das Siebenfache an. Auch die Ziegelproduktion florierte. Großen erhielt 1786 die Königswürde 1806 wurde Ostfriesland durch das Königreich Holland besetzt. und leistete sich auf Kosten seiner ge- Emden verlor mit einem Schlag alle Standortvorteile. Und durch schäftstüchtigen Untertanen – und zu die Kontinentalsperre gingen etliche Schiffe verloren. Es war denen zählten seinerzeit auch die Ost- nicht die erste Blütezeit, die in Emden zu Ende ging. friesen – ein ausschweifendes Leben. Im Volksmund wurde er als „dicker Lüder- Friedrich Wilhelm II. jahn“ (also Taugenichts) bezeichnet. von Preußen (1744-1797) Die Phase des Aufschwungs währte in Ostfriesland von 1780 bis 1806. Dieser Zeitraum wird durch konkrete Ereignisse ein- gegrenzt, die für Anfang und Ende dieser Ära verantwortlich waren. Im Jahr 1780 ließen sich innerhalb kürzester Zeit viele nieder- ländische Seemannsfamilien in Emden nieder. Denn England hatte die Niederlande in einen Krieg verwickelt und begann da- mit, holländische Schiffe zu entführen. Das preußische Emden war in diesem Krieg neutral. Zudem bekam die Hafenstadt von Preußen das so genannte „Heringsmonopol“ zugesprochen. Matthäus Merian (1593-1650) – Emden Emden – die Heringsstadt Um 800 begannen die Friesen, einen Hafen am Dollart anzulegen autonome Stadtrepublik“, die in der Zeit um 1600 eine größe- (dort, wo heute das Feuerschiff „Deutsche Bucht“ vor Anker liegt). re Flotte besaß als das Königreich England. 1595 wiegelte der Wanderhändler ließen sich hier nieder. Das war ungewöhnlich calvinistische Prediger Menso Alting die Bürger gegen den lu- für die damalige Zeit. Durch therischen Rat auf. Der Rat wurde abgesetzt. Der damalige Graf die Händler wiederum wurden von Ostfriesland (Edzard II.) verlor seine Residenz und verzog Handwerker angezogen. Und so sich nach Aurich. wurde Emden zum wichtigsten Umschlagplatz für friesisches Tuch und friesische Mäntel. Menso Alting 1412 führte die Stadt den Warenstapelzwang ein, um leichter (1541-1612) und Zölle kassieren zu können. 1495 wurde aus dem Warenstapel- Edzard II. von Ostfriesland zwang ein Privilegien geschütztes Recht. In den Folgejahren (1531-1599) konnte die niederländische Konkurrenz sogar beim Getreidehan- del überflügelt werden. Für die Emder war die Sturmflut von 1509 dann mehr als eine Naturkatastrophe: Auf dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Emden wurde das „Genf des Nordens“ – so etwas wie eine freie Macht der Hafenstadt suchte sich die Ems ein neues Flussbett. Reichsstadt, die sich ab 1606 mit einer Wallanlage und einer Das Fahrwasser zum Hafen musste fortan mit großem Aufwand Vielzahl von Zwingern schützte. Diese Vorrichtungen kamen der davon abgehalten werden zu verlanden. Damals war der Dollart Stadt im Dreißigjährigen Krieg zugute. Emden blieb von allen dreimal so groß wie heute. Angriffen verschont, wollte aber später Ostfrieslands gemein- Ab 1530 gab es eine mennonitische Gemeinde in Emden – die same Kriegslasten nicht mittragen. Dies rief Spannungen hervor. erste in Deutschland. 1550 lebten 5.000 Menschen in der Hafen- In der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg ging es Emden schon stadt. Nur 40 Jahre später waren es bereits 15.000 (davon 6.000 nicht mehr so gut: 1602 leitete die Gründung der Ostindischen niederländische Glaubensflüchtlinge), die alle ernährt werden Kompanie die Goldene Zeit der holländischen Schifffahrt ein. mussten. Emden baute im 16. Jahrhundert deshalb zehn neue Etliche Niederländer verließen Emden wieder. Danach standen Getreidemühlen. so viele Häuser leer, dass manche Besitzer sich gezwungen sa- Mit seinem grachtenreichen Stadtbild war der ostfriesische Ort hen, sie zu verschenken. um 1600 holländisch geprägt. Die Niederländer waren oft von Kaperei bedroht, da sie durch den Zusammenschluss mit Spani- en in viele Kriege involviert wurden. Emden blieb dabei neutral und handelte mit Getreide aus dem Osten gegen Tuch aus dem Westen. Um 1570 übertraf die kleine Hafenstadt am Dollart so- gar Hamburg als Stapelplatz für englische Tuche. Gräfin Anna setzte in dieser Zeit ein Zeichen gegen die aufkom- mende Prunksucht: Sie rief eine gemäßigte Kleiderordnung aus und machte ein Klostergebäude zum Armen- und Waisenhaus, genannt „Gasthaus“. Diese Bezeichnung wurde zum Inbegriff für bittere Armut in Emden – die Schattenseite des Wohlstands. Dieses Gemälde von den Schiffen der Ostindischen Kompanie Emden kannte eine Frühform des Stadtrates, war eine „quasi- stammt von Ludolf Bakhuizen (1630-1707), der in Emden aufgewachsen ist. 2 In der Zeit um 1650 florierte immerhin der Schiffsbau wegen des Die britische Marine sperrte die Ems, wodurch die florierende ertragreichen Walfangs wieder. Den schwärzesten Tag in ihrer Schifffahrt abrupt aufhörte. Der Emder Hafen drohte zu ver- Geschichte erlebte die Stadt am 10. September 1651. Ein Schiffs- schlammen. Deshalb wurde ab 1846 ein drei Kilometer langer neubau kenterte und riss mehr als 250 Menschen in den Tod. Stichkanal gebaut. Der Hafen konnte gerettet werden. Der Schauplatz des Unglückes war umsäumt von Menschen, weshalb das Ereignis für viele Jahrzehnte im kollektiven Ge- 1856 erreichte die Eisenbahn Emden. dächtnis „verankert“ blieb. Am Ort des Geschehens wurde 1713 Da die Schienen nur bis hierhin verlegt Emdens großer Kornspeicher gebaut. wurden, hat man im Anschluss den Stra- ßenbau vorangetrieben. Die wichtigsten Bundesstraßen in Ostfriesland entstanden. Emden saß mit seinen 8.000 überwiegend verarmten Bürgern auf einem Schulden- berg. Die Reichen hatten ihr Geld längst in der Krummhörn (nördlich von Emden) angelegt. Heute ist die Krummhörn für den Pilsumer Leuchtturm bekannt, der im Volks- mund auch Otto-Turm heißt. Walfang im 18. Jahrhundert 1867 wurde eine Papierfabrik gegründet, die im 19. Jahrhundert zum größten Arbeitgeber der Stadt werden sollte. Emdens Jah- In der Hafenstadt setzte sich der calvinistische Glauben durch. resumschlag steigerte sich als Seehafen des Ruhrgebietes von Es gab lange Zeit keine einzige lutherische Kirche. Bis 1879 0,4 Millionen Tonnen im Jahr 1899 auf 3,5 Millionen Tonnen wurde in Emdens Kirchen auf Holländisch gepredigt. Im 18. im Jahre 1913. Jahrhundert erschienen sogar über 70 Prozent aller Druckwerke Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu „Speckumzügen“ der in dieser Sprache. Katholiken kamen in Emden erstmals 1730 Emder Arbeiter. Diese brachen in umliegende Dörfer auf und wieder zusammen: in einem Packhaus, das sie zu einer Kapel- stahlen Nahrungsmittel bei den Bauern. Als Reaktion darauf bil- le umfunktioniert hatten. 1806 weihte die kleine Gemeinde eine deten sich Bürgerwehren. Kirche ein – allerdings ohne Turm und Geläut. Das verboten die Die Erzimporte der Nationalsozialisten bewirkten einen Anstieg Reformierten noch bis 1890. Heute leben etwa 4.000 Katholiken, der Einfuhr über den Emder Hafen von 764 Tausend Tonnen im 16.000 Reformierte und 17.000 Lutheraner in Emden. Jahre 1932 auf vier Millionen im Jahr 1938. Dieser Aufschwung 1744 wurde Ostfriesland preußisch, und Emden war nicht mehr ist bei den Menschen nicht angekommen. Die Arbeitslosigkeit „Staat im Staate“. Einen kurzen Aufschwung gab es noch ein- sank zwar. Aber die Menschen mussten Lohnkürzungen von mal 1751, als Tee aus China eingeführt wurde. Dann brach der rund 30 Prozent hinnehmen. Bemerkenswert ist, dass die Kür- Siebenjährige Krieg aus. In jener Zeit war minderwertiges Geld zungen in der Heringsfischerei nach einem Streik wieder zu- in Ostfriesland im Umlauf (heute würden wir „Falschgeld“ sa- rückgenommen wurden. gen), was 1762 zu antisemitischen Ausschreitungen in Emden Als 1941 Emdens erster Bunker des Zweiten Weltkrieges fertig- führte. Der Magistrat ließ die Ausschreitungen gegen jüdische gestellt wurde, war die Stadt bereits 28 Mal angegriffen worden. Geldverleiher zu und griff erst ein, als auch ostfriesische Kauf- Am 6. September 1944 zerstörten Bombereinheiten 80 Prozent leute bedroht wurden. der Innenstadt. Ab 1798 wurde der erste Teil des Ems-Jade-Kanals von Emden nach Aurich gebaut. Einen weiteren Ausbau hat die Stadt zu- Unmittelbar nach Kriegsende planten die Niederlande, Emdens nächst verhindert, weil sie ihr Stapelrecht in Gefahr sah. Hafen durch eine Umleitung der Ems trockenzulegen. So wollte Emden war 1803 der einzige freie Hafen an der deutschen Nord- man den Handel nach Delft verlagern. Der Plan scheiterte am seeküste. Davon profitiert in der Erzählzeit dieses Spieles ganz Widerstand der Alliierten. Mit den Trümmern der zerbombten Ostfriesland. Stadt wurden die Grachten der Innenstadt gefüllt. Denn diese Preußen schloss 1805 ein Bündnis mit Frankreich und untersagte wurden als rückständig angesehen. Andere Ostfriesen verspot- ein Jahr später allen englischen Schiffen die Zufahrt in seine teten die Emder gerne als „Pottjekacker“, weil es in einigen Häfen („Kontinentalsperre“). Leider wurden die ostfriesischen Stadtteilen bis in die 1940er-Jahre keine Kanalisation gab. Handelsschiffe nicht rechtzeitig gewarnt. Und so kaperten die Noch zu Beginn der 1960er-Jahre gab es Engländer alle, die sich noch auf dem Meer befanden. Emden in Emden Barackenlager. Ihr prominen- verlor fast alle größeren Seeschiffe. tester Bewohner war Wolfgang Petersen, Regisseur von Filmen wie „Das Boot“ und „Die unendliche Geschichte“. Ein anderes bekanntes Gesicht der Stadt ist Otto Waalkes, der nach seinem Abitur ab 1968 Kunstpädagogik studierte und in ei- ner Wohngemeinschaft mit Udo Linden- berg und Marius Müller-Westernhagen lebte. Wolfgang Petersen (*1941) Die wichtigste Industrieansiedlung der Nachkriegszeit war der Volkswagenkonzern 1964. Zu Beginn der 1970er-Jahre bekam Emden die Nordseehalle, einen neuen Hauptbahnhof und eine Fachhochschule. 1986 wurde die Emder Kunsthalle eröffnet. Ein typisches Segelschiff um 1800 3 Arle und die ostfriesische Küste Arle ist im Innern ein so genanntes geschlossenes Haufendorf Schule und liegt etwa 40 Kilometer nordöstlich von Emden. Es gehört In Ostfriesland reicht das Schulwesen bis ins 16. Jahrhundert heute zur Gemeinde Großheide im Landkreis Aurich und hat zurück. Schon Mitte des 17. Jahrhunderts war die Region flä- rund 1.100 Bewohner. chendeckend mit Lehranstalten versorgt. Arle zählt zu den äl- testen Schulgemeinden. (Das Schulgebäude wurde nach der Weihnachtsflut 1717 nicht benutzt. Bis 1742 wohnte darin ein Tagelöhner. Danach wurde der Schulbetrieb wieder aufgenom- men.) Die Qualität einer Schule hing von der Wirtschaftskraft des Ortes ab. Eltern befanden sich in einem Zwiespalt: Sie mussten die Bil- dungsstätten bezahlen, und gleichzeitig benötigten sie ihre Kinder als Arbeitskräfte. Die Hauptbeschäftigung des Nachwuchses um 1800 herum war, die Tiere zu hüten. Der Ort liegt recht nah am saftigen Rand Ostfrieslands. Gemeint Kolonistenfamilien hatten zu dieser ist das Grasland (die Marsch), Zeit in der Regel ein oder zwei Kühe. das regelmäßig überschwemmt Es gab noch keine eingezäunten Flä- wurde und deshalb sehr frucht- chen, und so passten Kinder in der bar war. Nach Süden hin grenzte offenen Heide (an der Grenze zum Arle an das Moor. Dies wurde Moor) auf das Vieh auf. durch Kanäle entwässert, auf de- nen anschließend der Torf abtransportiert worden ist. Schule spielte sich in Ostfriesland überwiegend auf dem Lande ab. Noch bis nach 1850 wählte eine Gruppe von Dorfbewoh- Erst die Sandböden, die unter dem Moor lagen, konnten besie- nern den Lehrer. Eine Schullehrerwahl leistete einen wichtigen delt werden. Auf diese Weise ist das heutige Südarle entstan- Beitrag zur dörflichen Meinungsbildung. Denn sie gab allen so- den. Die Besiedlung dieser Moorkolonie schritt im Laufe des zialen Gruppen die Möglichkeit, ihren Standpunkt zu vertreten. 19. Jahrhunderts beträchtlich voran. Schon bald wollte Südarle eigenständig werden – unter anderem, weil die Kinder der Moor- kolonie sechs Kilometer bis zur Arler Schule laufen mussten. 1835 wünschten sich ihre Eltern deshalb eine eigene Schule. Die Alteingesessenen im „Arler Kirchspiel“ sahen in den Moor- siedlern jedoch arme Eindringlinge, die aus einer sozialen Schicht noch unterhalb der bäuerlichen Selbstachtung kämen. Sie wehrten sich gegen die Bedürfnisse und Wünsche der Torf- bauern. In Arle befand sich die Dorfschule einst direkt vor der Kirche. Im Winter versuchten die Schüler, mit Schneebällen die Kirchturmuhr anzuhalten. Der Lehrer war für den Unterricht an der Arler Schule alleine zuständig. Er lebte ganz in der Nähe, blieb den ganzen Tag über Amtsperson und wirkte durch Nebentätigkeiten am Dorfleben mit. Von der Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz war auch er nicht ausgeschlossen. Einer Bestimmung von 1823 nach durften Schullehrer keiner Nebentätigkeit außerhalb der Kirche nach- gehen. Arles Schule war eine Kirchspielsschule. Der Dorflehrer Kinder wurden als Hirten beschäftigt. versah Küster- und Organistendienste. Bis in das späte 19. Jahr- hundert war der Pastor der Vorgesetzte des Lehrers. Danach wurde die kirchliche Schulaufsicht langsam durch die staatliche abgelöst. 4 (Kaum befanden sich die Lehrer nicht mehr in finanzieller Abhängigkeit des Dorfes, forderten sie den Schülern eben jenen Gehorsam ab, den sie selbst in der Beamtenhierarchie leisten muss- Norden ten.) 1886 verzichteten die Arler zum ersten Mal auf ihr Stimmrecht: Es war nun nicht mehr „ihr Lehrer“, sondern „der, den die Regierung geschickt hatte“. Einstmals unterrichteten die Eine Kluft zwischen Lehrer und Dorf- Lehrer noch im Stehen. bevölkerung entstand. Um 1600 war Norden eine Hafenstadt. Für Bremen als bevor- zugten Handelspartner sprach die kirchliche Zu- gehörigkeit, gegen das näher gelegene Oldenburg wog die politische Feind- schaft. Die Händler konn- Sitzbänke, im Hintergrund das Lehrerpult ten zwischen einem gut ausgebauten Land- und dem Wasserweg wählen. Norden und das Norderland Der Landweg führte auf Arle liegt historisch gesehen im Norderland. Diese Landschafts- dem überschwemmungs- bezeichnung stammt aus der Zeit, als Norden, die größte Stadt sicheren Geest-Rand über in der Region, noch Hafenstadt war. Das Zentrum liegt zwischen Berum und Arle bis nach den Straßen Burggraben und Uffenstraße: dem Gebiet zwischen Esens, um dann der frie- Marktplatz und dem durch Sturmfluten entstandenen einstigen sischen Straße nach Bre- Seehafen. men zu folgen. Diese Reiseroute wird im Spiel angedeutet. Ein Haus drängt sich an das andere, und heute noch betreiben viele Handwerker hier ihr Kleingewerbe. Nordens Marktplatz Durch verschiedene Fehden, die zwischen Oldenburg und Bre- war Ende des 20. Jahrhunderts der größte in ganz Deutschland men bestanden, zogen die Händler zwischenzeitlich den Seeweg – umrahmt von sehenswerten Gebäuden. Die Bäume auf dem vor. Sie nahmen dabei Gefahren des Seeraubs und Strandrechts Marktplatz waren Mitte des 20. Jahrhunderts teilweise über 200 auf sich. Durch die Verlagerung auf die Schifffahrt entwickelte Jahre alt, mussten dann aber dem Straßenverkehr weichen. sich auch der Handel mit Groningen (einem wichtigen Stapel- platz für Milchprodukte), Dänemark und den westfälischen Emshäfen. Hauptexporte waren Schafe, Rinder und Pferde so- wie Erzeugnisse der Milchwirtschaft. Strandrecht: Wenn ein Schiff strandete, durfte der Entdecker des Wracks ein Drittel des Holzes und der Waren behalten – gab es keine Überlebenden, sogar zwei Drittel. Im 14. Jahrhundert musste Getreide auf Grund des knappen und nährstoffarmen Ackerlandes noch eingeführt werden. Begehrt waren auch Holz, Steine und Bier, da das Grundwasser damals noch ungenießbar war. Aus Mangel an Ziegeleien wurden auch Backsteine eingeführt – Ziegeleien sind im Norderland frühe- stens ab 1400 bezeugt. Viele Ostfriesen betätigten sich in der Zeit nach 1400 als reine Warenhändler. Sie verschifften Pelze, Wolle, Holz und Heringe Das Häuser-Ensemble „Dree Süsters“ zeugt von der aus der Ostsee nach Westen und tauschten diese gegen Woll- einstigen Bedeutung des Norder Marktplatzes. tücher aus Flandern, aber auch gegen eigene Produkte aus der Vom einstigen Hafen ist kaum noch etwas zu erkennen. 1929 Marschwirtschaft. verlor Norden seinen Status als Hafenstadt. Bis dahin hielt eine Zwischen 1500 und 1600 gab es große Veränderungen im Ge- Fahrrinne den Verkehr noch aufrecht. Doch 1932 verließ dann treidehandel. Nordens Schifffahrt erlebte ihre Blütezeit. Das neu zum letzten Mal ein Schiff den Hafen. eingedeichte Land ermöglichte, Weizen für den lukrativen spa- Im 16. Jahrhundert sah das ganz anders aus: Damals nahm Nor- nischen Markt anzubauen. Der Roggenanbau wurde daraufhin den eine rasche Aufwärtsentwicklung als Seehafenstadt und be- vernachlässigt und lieber aus den baltischen Ländern im Tausch trieb einen regen Handel mit Bremen. gegen Seesalz bezogen. 5 Salzsieder Im 10. Jahrhundert entdeckten die Friesen, dass der Torf des Marschlandes Salz enthält. Auf eigens angelegten Salzsieder- Warften verbrannten sie getrockneten Torf, bis nur noch eine salzhaltige Asche zurückblieb. Diese wurde ausgewaschen und zum Sieden gebracht. So gewannen sie feinkörniges Meersalz. Salz war neben Bernstein das kostbarste Handelsgut der Friesen. Die Schnapsflaschensammlung des Dörpmuseums in Münkeboe Dann kam der Dreißigjährige Krieg. Während Emden eher zu Eine Schokoladen-, Zucker-, Essig- und Senffabrik sowie eine den „Gewinnern“ dieser von Grausamkeiten geprägten Zeit ge- Eisenhütte brachten immer mehr Wohlstand in die Stadt, aber hörte, erlitt Norden schwere Verluste. Der Einfall einer Söld- auch eine zunehmende Verfremdung. In die Geschichte der Ar- nertruppe reduzierte die Bevölkerung um die Hälfte. Anschlie- beiterbewegung ging 1906 ein Streik in der Norder Eisenhütte ßend besetzten erst kaiserliche und dann hessische Truppen die ein. Statt die Arbeiterschaft zu beschwichtigen, ließ die Hütte Stadt. Da die Überlebenden für ihr Vieh und ihre Milchprodukte ganzseitige Zeitungsannoncen drucken, in denen sie die Namen kaum noch zahlungskräftige Abnehmer fanden, konzentrierten der Streikenden auflistete. Statt damit das Ansehen der Strei- sie sich auf neue Eindeichungen und verstärkten den Ackerbau. kenden zu beschädigen, wuchs die Zeitungsseite jedoch zu einer Die große Zeit der Schifffahrt neigte sich dem Ende. Denn die Art „Ruhmesblatt“ heran. Leybucht, an der Nordens Hafen lag, verschlammte durch die Nach dem Ersten Weltkrieg vermittelte der Teefabrikant Onno Eindeichungen. Behrends zwischen den Bürgerlichen und den Arbeiterräten, die sich überall in Deutschland gebildet hatten. Er hinterließ ein Sommerdeich heute noch bestehendes Unternehmen, das bereits zur Jahrhun- dertwende über 2.000 Verkaufsstellen hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm der Landkreis Norden 26.000 Menschen auf – ein Drittel seiner Gesamtbevölkerung. Durch den Niedergang der Doornkaat-Brennerei musste Norden 1986 die höchste Arbeitslosenquote vermelden, die eine Region Seedeich in Ostfriesland je hatte: 29 Prozent. Norden hat sich heute erholt und ist eine typische „Landstadt“ geworden: Es gibt auch jetzt noch eine Reihe von landwirtschaftlichen Betrieben, sogar in- nerhalb der Stadtgrenzen. Die Geest Ein Netz von Wallhecken und inselar- Schlafdeich tigen Waldungen verlieh der ostfrie- sischen Geest um 1800 das Aussehen einer Parklandschaft. Der Seedeich trennt Land und Meer, die Sommerdeiche liegen davor, Schlafdeiche dahinter. Sie bargen die Erde für den näch- sten Hauptdeich. Sommerdeiche fungierten im Winter als Wel- lenbrecher. Die preußische Zeit ab 1744 war geprägt durch eine verstärkte Ansiedlung von Handwerkern im Norderland (den sogenannten „Herrenhuter“) und einem systematischeren Abbau des Torfes. Die Torfmoore im Umkreis der Stadt Norden waren bereits um 1700 erschöpft. Es dauerte noch etliche Jahre, bis 1794 endlich Berumerfehn gegründet wurde. Die erste systematische Torfver- sorgung des Norderlandes nahm ihren Anfang. Ein Jahr später erlaubte Preußen niederländischen Einwanderern, unter neutraler Flagge zu fahren. Dies beflügelte auch wieder die Ostfriesische Idylle Schifffahrt. Zehn Jahre später wurde der größte Teil der Norder Schiffe durch Napoleons Streitigkeiten mit England beschlag- Die letzten Wallhecken stehen seit 1935 unter Naturschutz. Die nahmt. In diesem Zeitabschnitt erlebte die Weberei in Norden Marsch war hingegen von Gräben durchzogen. Das Wort „Geest“ ihre Blütezeit, weil es neben Weberei-Erzeugnissen kaum noch geht auf die Adjektive gest (trocken) und güst (unfruchtbar) zu- Waren gab, die auf dem Seewege Profit abwarfen. rück. Staubfeines Material wurde in vorchristlicher Zeit bis zum Teutoburger Wald geblasen. So blieben nur grobkörnige Sande Erst 1856, als Ostfrieslands große Städte bereits mit Chausseen übrig, und es konnten keine fruchtbaren Lößböden entstehen. verbunden waren, legte man eine befestigte Straße von Norden Die Geestbauern wurden früher auch „Sandhosen“ genannt. Sie nach Hage an, die 1865 bis nach Arle verlängert wurde. hatten es immer schwerer als die reichen Herren in der Marsch. Nachdem Norden 1866 wieder preußisch wurde, nahm die In- Der Gegensatz zur Marsch ist erst durch die moderne Landwirt- dustrialisierung zu (die in diesem Spiel aber nicht mehr behan- schaft verringert geworden. delt wird). Zum größten Unternehmen in Norden wurde die 1805 von einem Einwanderer gegründete Schnapsfabrik Doornkaat. Arle liegt im Übergangsbereich von der Marsch zur Geest. 6 Arle und seine Kirche Von Mönchsorden angeregt, setzten sich im 13. Jahrhundert Arle zählt zu den ältesten Siedlungen des nördlichen Ostfries- beim Bau von Kirchen die Backziegel durch. Der Wettbewerb lands. Um 1100, zu einer Zeit, als die Kirchen in Ostfriesland unter den Häuptlingsfamilien in Ostfriesland ließ in dieser Zeit noch mit Holz gebaut wurden, hieß es „Erle“, weil es in einen eine so große Zahl an Kirchen entstehen wie in kaum einer ande- Erlenwald hineingerodet wurde. Nichtsdestotrotz war Ostfries- ren Gegend von Deutschland. land durch seine ausgedehnten Moorlandschaften arm an Holz – und auch arm an natürlichen Steinen. Die Torfbrandziegelei in Nenndorf Nenndorf ist ein Nachbarort östlich von Arle. Von überregionaler Bedeutung ist die dortige Torfbrandziegelei, in der Klinkersteine auch heute noch in Handarbeit mit Torf befeuert werden. Der Torf wird heute aus dem Emsland (südlich von Ostfriesland) zugekauft. Die Zusammensetzung des Wiesenlehms aus der Ge- gend um Arle verleiht den gebrannten Klinkern und Ziegeln eine Farbtönung, die unter Fachleuten als „Blau“ bezeichnet wird. Beim Brennen entstehen einzigartige Farbnuancen. Die Steine werden nach Kundenwünschen handverlesen. Die Nenndorfer Ziegelei hat einen 40 Meter langen Ringofen. Pro Woche werden etwa 70.000 Steine gebrannt. Die Rohlinge werden im Sommer bei bis zu 50°C von Hand in der Brennkammer gestapelt und anschließend wieder Stein für Stein aus dem Ofen genommen. Im 12. Jahrhundert, als es durch den Seehandel immer reicher wurde, wurden Steinmetze beauftragt. Sie sollten zugekaufte Die Ziegelei in Nenndorf ist die letzte in Europa, bei der Back- Granitfindlinge bearbeiten, um Gotteshäuser für die Ewigkeit ziegel noch mit Torf befeuert werden. Dies ist der Grund, warum entstehen zu lassen. Der Arbeitsaufwand wurde unterschätzt, in „Arler Erde“ Torf zur Umwandlung von Lehm in Ziegel benö- und deshalb stiegen die Bauherren schon bald auf porösen Tuff- tigt wird (und nicht ersatzweise Holz oder Kohle). stein vom Mittelrhein um. Tuffstein ist vulkanisches Eruptivge- stein – leicht vom Menschen zu bear- beiten, aber auch leicht vom Wetter zu zersetzen. Eine der bekanntesten Tuff- steinkirchen, die es heute gibt, steht in Tuffstein an der Seite Arle. der Arler Kirche Die salzhaltige Luft setzt der Kirche zu, so dass immer wieder Restaurationsmaßnahmen erfolgen müssen. Schon im Mittel- alter erkannte man den Nachteil von Tuffstein als Baustoff und stieg auf die nächste Innovation um, die auch in diesem Spiel Bedeutung hat. Mittlerweile musste die Arler Kirche an vielen Stellen mit Back- steinen ausgebessert werden. Lehmarbeiter Die richtige Erde für Ziegel zu finden, ist nicht einfach. Ziegel werden nämlich nicht aus reinem Ton hergestellt, sondern aus einer Mischung von Ton, Sand und anderen Erdbestandteilen. Reiner Ton springt beim Brennen, zu sandiger zerbröselt. Um Klinkerbauten sind für die Häuser an der Nordseeküste typisch: die geeignete Mischung zu finden, lässt auch heute noch manch Der Klinker schützt vor Veralgung und Feuchtigkeit. Die Ziegel- eine Ziegelei die gewünschte Erdmischung (sie fällt unter den industrie wuchs um 1790 stark an. Im 19. Jahrhundert wurden Oberbegriff „Lehm“) mit einer Schaufel abtragen, statt Bagger selbst die Straßen mit handgemachten Ziegelsteinen gepflastert. zu bemühen Im 20. Jahrhundert hätten diese dem Gewicht der Lastzüge nicht mehr standgehalten. In den 1960er-Jahren gab es in Ostfriesland noch 30 Ziegeleien, heute sind es nur noch zwei. Die Geestböden in Ostfriesland sind stark mit Lehm und Ton durchsetzt. Vornehmlicher Grund für die Backstein-Herstellung war das gestiegene Bauvolumen im 13. und 14. Jahrhundert. Im 15. Jahrhundert wurden kaum noch große Gebäude errichtet, weil sich die ostfriesischen Häuptlinge zunehmend in kriege- rische Auseinandersetzungen verwickelten. Jean-Francois Millet (1814-1875) – Die Grabenden 7 Die Kirchen in Ostfriesland bekamen wegen des sumpfigen Bau- grunds oftmals einen allein stehenden Glockenturm, der in den Häuptlingskämpfen oft als Zufluchtsstätte genutzt wurde. Die Kirche war im Mittelalter ein Versammlungsort: Die Gläubigen liefen während des Gottesdienstes umher und unterhielten sich. Er- wachsene Christen sollten damals einmal jährlich einen Gottesdienst besuchen und die Beichte ablegen. Die Begegnung mit der Kirche beschränkte sich im Wesentlichen auf Taufe und Begräbnis. Ehen In dem Lebensmittelladen von Arthur de Vries kaufte Uwe Rosenbergs Vater bereits als kleiner Junge ein. wurden erst nach 1200 kirchlich geschlossen. Gulfhäuser Glockenturm in Hinte bei Emden Arles größte Bauernhöfe lagen in einem Halbkreis um die Kirch- Bemerkenswert ist, dass die Benediktiner in Ostfriesland meh- warft. Die Kleinbauern und Tagelöhner hatten ihre Arbeitsstellen rere Doppelklöster für Frauen und Männer gründeten. Dies ist südlich der Kirche. einzigartig in Deutschland. Die Geistlichkeit vermochte es nicht, (Das Wort Bauer, mittelhochdeutsch „Gebure“, hat übrigens auch in Ostfriesland das Zölibat unter Priestern durchzusetzen. nichts mit Anbauen zu tun. Ein Bauer ist jemand, der eine dau- Erklärt wurde dies damit, dass ein mit Landwirtschaft verbun- erhafte Bleibe, einen „Bau“, hat. Das Wort wurde gewählt, um dener Pfarrhaushalt nicht ohne Frauenhilfe auskommen könne. den Bauer von dem nicht sesshaften Hirten zu unterscheiden.) Dem Erzbischof Johann von Bremen waren die Ostfriesen un- Heute mutet es uns als selbstverständlich an, dass Gerätschaften heimlich. Er ließ sich im 14. Jahrhundert von Besuchen in ost- und Tiere getrennt vom Wohnbereich aufbewahrt bzw. gehalten friesischen Gemeinden entbinden. Dabei gab es dort über 70 werden. Ein Vorreiter dieser Wohnform war das ostfriesische Kirchen, die zu seiner Diözese gehörten. Als Gründe schob er Gulfhaus. den ewigen Nebel und die häufigen Überflutungen vor. Im 16. Jahrhundert ging es hoch her in Arle. Ein gewisser Bern- hard von Hackford wurde mit der Aufgabe betraut, die zer- störte Burg Esens wieder herzurichten. Er fand Gefallen an dem Bleidach der Arler Kirche und schickte einen Söldnertrupp zur Abdeckung der Kirche. Die Arler wehrten sich nach Kräften. Gräfin Anna von Ostfriesland gab wenige Jahre später den Be- fehl, Altäre, Bilder und Schmuck aus allen ostfriesischen Kir- chen zu schaffen – heimlich und „ohne Geschrei“, wie es damals hieß. Bis nach Arle ist diese Verlautbarung nicht vorgedrungen, und so sind in der Arler Kirche auch heute noch einige mittelal- terliche Schätze zu bewundern. Um das Jahr 1970 (als Uwe Rosenberg und Frank Heeren ge- boren wurden) hatte Arle noch drei Bankfilialen, eine Bücherei, eine Volksschule und eine Sägerei. Der Gulfhof von Uwe Rosenbergs Ururgroßvater steht heute noch. In der Zeit nach 1500 war dieser Haustyp, der in den Marsch- gebieten Ostfrieslands entstand, geradezu revolutionär. Nach und nach verdrängte er den bis dahin vorherrschenden Fach- werktyp. Auf diese Fassaden wurde bei Gulfhäusern verzichtet, weil Holz in Ostfriesland knapp war. Dieses Spiel würdigt den ostfriesischen Pioniergeist mit der Scheune, die auf eurem klei- nen Ablageplan dargestellt ist. Der Gulfhof ist eine Kombination aus Wohn- und Scheunenteil. Die zweite bedeutende Das Hebewerk einer Sägerei Ein Baumstamm auf Schienen Innovation der Gulfhäu- ser verlieh dem Haus- Die Sägerei wird in „Arler Erde“ mit Fuhrwerken angefahren, typ seinen Namen. Die um aus Holz Bauholz zu machen. Ernte wird nicht auf den Dachbalken, sondern zu Heute ist Arle ein verschlafenes Dorf. Es hat nicht einmal mehr ebener Erde in den soge- eine Gaststätte oder eine Bäckerei, dafür eine übergroße Kirche, nannten Gulfen gelagert. einige Bauernhöfe und einen kleinen Lebensmittelladen. Diese Stapelräume ent- stehen dadurch, dass es Dies ist ein Ausschnitt des Scheunenteils. an verschiedenen Stellen 8 der Scheune Stützbalken für Der wirtschaftliche Trakt des Gulfhauses wird durch Innenstän- das große Dach geben muss. der-Reihen in drei Längsschiffe geteilt, die unterschiedlich ge- (Gulfhäuser mit nur einem nutzt werden. Im Spiel ist nur das Mittelschiff dargestellt. Im Gulf heißen übrigens Land- Gegensatz zum Niedersachsenhaus hat das Gulfhaus einen erd- arbeiterhäuser.) Wegen des lastigen Bergeraum – Lagerfläche für Ernte und Gerätschaften. Winddrucks sind die Dächer Das wichtigste Erntegut war das ungedroschene Getreide. Es stark abgewalmt. Die meisten wurde vom Boden bis zum Dach gestapelt und trocknete nach, Gulfhäuser haben nur kleine bevor im Winter „die Spreu vom Weizen getrennt“ wurde. Die Fenster. „Draußen ist Licht ge- Seitenschiffe wurden beim Gulfhaus zum Dreschen oder zur nug“, sagen die Ostfriesen. In diesem Spiel ist das Landarbeiter- Viehhaltung genutzt. Hier überwinterten die Tiere. haus ein einfaches Hilfsgebäude. Karnhaus und Sommerküche Das Leben im Gulfhaus Das Karnhaus war ein abgetrennter Raum in der Gulfhof-Scheu- Um 1800 hat der Gulfhof seine „klassische“ Form gefunden. Er ne. Hier befand sich alles, was für die Milchverarbeitung be- besteht aus einem Wohntrakt und einem angrenzenden Stall-/ nötigt wurde. Das Buttern geschah vor Ort, weil frische Milch Scheunentrakt, der um einiges breiter ist als der Wohnbereich. schnell verdirbt und erst als Butter bzw. Käse zu einer geeig- Wandkamin und das Wohnen im Herdraum wurden aus dem nie- neten Handelsware wurde. Die Sommerküche war ein weiterer derländischen Kulturkreis übernommen. Raum in der Scheune. Dieser Scheunenraum war an Sommer- tagen der Hauptwohnraum. Hier wurden die Mahlzeiten ein- genommen. Sommerküchen waren deshalb etabliert, weil die ruhebedürftigen Ostfriesen den Lärm der Hausarbeit von ihren Wohnräumen fern halten wollten. Bauern und Gesinde nahmen nach getaner Arbeit ihre Mahlzeiten gemeinsam ein. Während es sich für den Bauern gehörte, die Kopfbedeckung abzunehmen, wurde dies bei Knechten als Zeichen unziemlicher Esslust ver- standen – als wollten sie beim „anstrengenden Essen“ Kühlung erlangen. Das Gulfhaus verdankt seine Entstehung der wirtschaftlichen Gegebenheit, dass die Metropolen der damaligen Zeit (Amster- dam, Antwerpen und Brügge) immer mehr Lebensmittel benö- tigten. Um 1600 führte dies im Marschgürtel der Nordseeküste Ein Gulfhof ganz in der Nähe der Arler Kirche zu verstärktem Anbau von Getreide (hauptsächlich Roggen), welches anschließend auch gelagert werden musste. Das Wohnhaus Während die Backsteine für die Gulfhöfe in Ostfriesland herge- Der Flur des Wohnhauses ist mit „Bremer Floren“ belegt. Das stellt wurden, musste das Kiefernholz für die Balken auf dem sind Sandsteinplatten, die via Bremen importiert werden. Ein Seeweg aus Skandinavien eingeführt werden. Denn so lange, ge- Raum wurde im 19. Jahrhundert als Reuterkammer abgetrennt: rade Baumstämme, wie sie zum Bau einer Scheune nötig waren, Die ostfriesischen Bauern wurden häufig gezwungen, über die gab es in Ostfriesland gar nicht. Sommermonate Kavalleristen bei sich aufzunehmen. Mit dem Aufkommen der Sommerküchen wurden die eigent- Besitzkonzentration lichen Kochräume zum Wohnzimmer. Und wer zu diesem Zeit- An der Nordseeküste kam es zu einer Be- punkt bereits ein Wohnzimmer hatte, wertete dieses zur „Guten sitzkonzentration der größten Marschbau- Stube“ auf. Sie wurde nur für Festlichkeiten genutzt. ern. Die reichsten Landwirte nannte der Schlafzimmer gab es noch nicht: Die Familie nächtigte in Wand- Volksmund „Polderfürsten“. Ihr Jahresein- betten. Die Milchprodukte wurden im kühlen Keller, Getreide kommen überstieg um 1800 das eines Rich- auf dem Kornboden des Wohntraktes gelagert. ters um 80 Prozent und das eines Pastors Ab 1840 mochten sich Herr und Knecht in Ostfriesland nicht um 120 Prozent. Um ihre Wirtschaftmacht mehr gemeinsam an einen Tisch setzen. Die Landarbeiter began- zu festigen, eiferten die Bauern der adeligen nen, für sich zu leben. Heiratspolitik nach, nur verwandtschafts- Unter dem Giebel ihres Hauses hat die Familie ihre „Upkam- nah zu heiraten. Die ländliche Zweiklassen- mer“ – eine Besonderheit vieler älterer Gulfhöfe. Hier wurden gesellschaft entstand um 1600. Die Groß- die wertvollen Dinge versteckt und Senioren oder Übernach- bauern nannten sich in Ostfriesland gerne tungsgäste untergebracht. Die Upkammer war ein Raum im „Hofbesitzer“ – ihnen fielen Verwaltung Wohntrakt, der wegen eines darunter liegenden, halb oberir- und Buchführung zu. Für die Feldarbeit hat- dischen Kellers höher angeordnet war als die übrigen Zimmer. In ten sie ihre Angestellten. der Außenansicht des Hauses ergab sich vielfach eine versetzte Um ihrer Wirtschaftskraft ein entspre- Anordnung der Fenster. chendes Antlitz zu verleihen, kleideten sich Für die Gulfhof-Scheunen waren flämische Klosterscheunen die Hofbesitzer gerne auffällig mit Frack Vorbild. Das Verbreitungsgebiet des Gulfhauses erstreckt sich und hoher Schirmmütze. von Westflandern (im heutigen Belgien) entlang der Küstenlinie bis nach Schleswig-Holstein (der nördlichsten Region Deutsch- lands). Unterbrochen wird diese Regelmäßigkeit durch das El- Die Polderfürsten residierten in breitstirnigen Gulfhäusern, be-Weser-Dreieck, in dem das Niedersachsenhaus (ein Vorläufer die sich wie Inseln aus weiten Kornmeeren erheben. des Gulfhauses, in dem Menschen und Tiere noch unter einem Detlef Hartlap Dach lebten) bis heute Bestand hat. 9 Durch Dämme geschützt vor der stürmenden Flut, Landgewinnung Manch geräumiger Hof, manch reiches Gut, Ab 1484 gingen die ostfriesischen Viel wogendes Korn und Vieh auf der Weide Küstenbewohner vermehrt zur Und mahlende Mühlen und schweigende Heide. Landgewinnung über. Es wurden Theodor Fontane Zäune in das Watt gerammt (so genannte Buhnen). Sie sollten Von der Warft zum Deich verhindern, dass durch die Flut Die Besiedlung der friesischen Marschgebiete reicht weit zurück angeschwemmter Schlick bei bis zur Zeitenwende. Schon damals war das Marschland Sturm- Ebbe wieder zurück ins Meer ge- fluten ausgesetzt. Die Siedler errichteten künstliche Erdhügel, Buhnen im Watt langte. auf die sie ihre Gehöfte verlegten. Diese Warften wurden immer weiter ausgebaut, so dass ganze Siedlungswurten entstanden. Anschließend wurden die „eingezäunten“ Lahnungsfelder ein- Aus der baumlosen Marsch ragten also vereinzelt größere Hügel gedeicht. Die alten Deiche blieben zunächst als „Schlafdeiche“ mit ihren Höfen heraus. bestehen. Um 1900 gab es Küstenregionen, in denen man bei Leider hielten die Wurten nicht allen Sturmfluten stand. Deshalb einem Spaziergang mehrere Schlafdeiche hintereinander über- deichte man bis ins 12. Jahrhundert die gesamte ostfriesische schreiten konnte. Küste ein. Neu eingedeichte Landstriche heißen Groden (von Englisch to Die folgenschwersten Sturmfluten standen erst noch bevor. Im grow = wachsen). Ein Gebiet, das aus mehreren Groden besteht, 14. Jahrhundert konnten die durch Hungersnöte und Pest ge- wird Polder genannt. Und genau solch ein Polder entsteht in die- beutelten Menschen der Deichpflege nicht mehr ausreichend sem Spiel. Wer auf den Poldern Land unter dem Meeresspiegel nachkommen. Die sogenannte Zweite Marcellusflut im Jahre zu bestellen hatte, quälte sich oft mit Sumpfwiesen ab. Wer da- 1362 (auf den Tag genau 600 Jahre vor der berühmten Sturmflut gegen Marschboden besaß, der sich über Normal-Null befand, von 1962) ließ daraufhin Dollart und Jadebusen entstehen und konnte schnell machte Ostfriesland zu einer Halbinsel. reich werden. Denn „Arler Erde“ spielt in einer Zeit, in der die Auswirkungen von frisch gewonnener Sturmfluten aus den Jahren 1715 bis 1720 noch zu spüren wa- Boden war der ren. Damals ließ eine Folge von Sturmfluten die Kosten für die fruchtbarste. Sich Deicherneuerung derart ansteigen, dass sie nicht mehr beglichen dem Lebensgefühl werden konnten. Die Kredite, die Ostfriesland in dieser Zeit auf- der vermögendsten nahm, konnten erst 1792 getilgt werden. Marschbauern, der Polderfürsten, zu nähern, ist das Ziel dieses Spiels. Ein Polder für den Polderfürsten Der Spieltisch möge einem prunk- vollen Schreibtisch gleichen, von dem Zeitgenössische Darstellung der Weihnachtsflut 1717 aus ihr eure Län- dereien verwal- Schlote tet. Die für dieses Das ostfriesische Marschland Spiel wichtigen ist von schmalen Gräben, den Phasen der Land- „Schloten“, durchzogen. Die gewinnung waren Schlote entwässern das Land übrigens historisch nicht nur. Sie hindern das Vieh korrekt die 1770er- auch am Fortlaufen und dienen Jahre, als das Amt gleichzeitig als Tränke. Berum die Polder Das Problem, welcher Bauer wel- nördlich von Arle So kann man sich das Erscheinungsbild eines chen Teil eines Schlots zu ziehen eindeichen ließ. Polderfürsten vorstellen. hatte, hatten die Ostfriesen gera- Ein Wassergraben, wie er für dezu spielerisch gelöst. Denn je- Ostfriesland typisch ist der Schlot kam ja immer gleich Sielorte zwei Familien zu gute. Die be- Eine wichtige Entwicklung beim Deichbau ist in diesem Spiel nachbarten Bauern trafen sich auf halber Strecke und zeigten sich nicht dargestellt: Die fruchtbaren Polder waren nach der Eindei- gleichzeitig an, ob sie den Schlot nach links oder nach rechts aus- chung zwar vor der Nordsee geschützt. Sie standen bei Regen heben wollen. Bevorzugten beide die gleiche Richtung, wichen aber unter Wasser. Der Boden drohte als Sumpfwiese zu ver- die Männer wenige Schritte zur Seite und zeigten sich ihre Prä- sauern. Das Binnenland musste also entwässert werden, und so ferenz erneut an. (Dieses Verfahren wurde nötigenfalls mehrfach wurden die Siele erfunden. Anfangs waren dies noch Löcher im wiederholt.) Deich mit einfachen Klappen, welche sich durch den Wasser- druck der Flut verschlossen haben. Um die Siele herum entstan- Lange Zeit gab es keine befestigten Straßen in der Marsch. Bei den ganze Ortschaften. Regen war es unmöglich, die Wege zu benutzen. Dann musste Bis 1900 hatten die ostfriesischen Marschsiedler übrigens mit das geerntete Getreide aufwändig per Boot abtransportiert wer- der Malaria zu kämpfen. Erst Fortschritte bei der Entwässerung den. Erst 1873 wurde mit dem Bau der ersten befestigten Straße leiteten eine Wende zum Besseren ein. begonnen. 10
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