WAS IST SCHÖNHEIT? Skulpturen von Bärbel Dieckmann WAS IST SCHÖNHEIT? Skulpturen von Bärbel Dieckmann Mit Texten von Charles Sarvan Königstraße 50 · 30175 Hannover T +49 511 34 20 06 · F +49 511 388 03 60 [email protected] · www.galeriekoch.de Ausstellung vom 17. Mai bis 17. Juni 2017 4 Gabriela Bronze, 2016 Länge 95 cm Eva Bronze, 2011 Höhe 116 cm 6 7 Bärbel Dieckmann, 1961 in Bielefeld geboren, ist eine Skulptur von Kratzen und Schnitzen (carve), das Wort ex pressionistisch-realistische Bildhauerin. Auf einem Plastik von Formen, Gestalten. Nimmt man das Wort huma nistischen Gymnasium kam sie schon frühzeitig in Schnitzen, gibt es zwei Aspekte: etwas aus einem Mate- Kontakt mit klassischer Literatur und ihren Gestalten. rial heraus schneiden und in eine Figur oder Form hin ein Ihre Geschichten und Themen sind von bleibendem In- schneiden. In einem Schaffensakt wird Material bear- teresse für sie und haben ihre Arbeit stark beeinflusst. bei tet, wird damit gerungen, ein dreidimensionales Kunst - Die griechischen und römischen Götter und Göttinnen werk entstehen zu lassen. John Donne schrieb in seinem sind in ihren Tugenden und Untugenden sehr mensch- Gedicht A Valediction: Of Weeping von Teilen, die zu- lich. In dem Mythischen sieht Bärbel Dieckmann nicht das sammengefügt einen Globus ergeben: das, was vorher Ferne und Fremde, sondern das Unmittelbare und Mensch- Nichts war, wird zur Welt, wird zu Allem. In einer Skulptur liche. Nach dem Abitur studierte Bärbel Dieckmann an ist etwas „um-gestaltet“ (trans-formed) in eine andere einer Fachhochschule und unterrichtete später an einer Form, in Schönheit und Bedeutung. Der fast instinktive Meisterschule für Steinbildhauer. Sie hat in Europa und und unmittelbare Appell, den eine Skulptur für uns hat, in Amerika vielfach ausgestellt und zahlreiche Preise kann auf die Freude zurückgeführt werden, die wir ge wonnen. Anerkannt als eine der begabtesten zeitge- durch Sehen und Berühren erfahren, und zwar insbe- nössischen Künstlerinnen lebt sie in Berlin und arbeitet sondere durch Berühren, Fühlen und Streicheln: so haben ausschließlich als Bildhauerin. In Anbetracht des begrenz- auch Blinde Freude daran, eine Figur zu ertasten. ten Raumes will ich mich darauf beschränken, einige Elemente ihrer Arbeit vorzustellen und die Aufmerksam- keit auf diese zu lenken. Etymologisch kommt das Wort 8 Viel von dem, was sich als moderne Kunst ausgibt, ist Wieder und wieder feiert sie die „Lebendigkeit“ der affektiert und kompliziert; Unverständlichkeit wird fälsch- menschlichen Figur. Auf diese Art vermeidet sie, was lich für tiefe Komplexität gehalten. Bärbel Dieckmann zeitgenössischer Geschmack mit seinem Verständnis hat den aus der Überzeugung entsprungenen Mut und von „the body beautiful“ ist – dementsprechend wird das Selbstvertrauen, einen einsamen Weg zurück zur auch das Schwere, Ungelenke von ihr dargestellt. Be- Klassik zu gehen oder in Richtung von Werken, wie der deutung wird oft im Einfachen gesucht, zum Beispiel in Bibel und den mit ihr verbundenen Geschichten. Dies der Schönheit eines Gesichtes, in einem Moment oder jedoch vollzieht sich nicht als schlichtes Zurückkehren, in einer Stimmung. Bärbel Dieckmann arbeitet in Gips, sondern als ein Versuch, dem Vergangenen eine Bezie- Terrakotta, Bronze, Stein und Zement. Wiederum, der hung zur heutigen Zeit zu geben und damit eine Bedeu- Zeit entgegengesetzt sind die von ihr bevorzugten Ma- tung, diese nämlich, sich der Vergangenheit für die Re- te rialien Bronze und Stein. Sie habe eine Idee, sagt die flexion der Gegenwart zu bedienen und sie dadurch Künstlerin, ein Thema, eine Inspiration. Ihr nächster lebendig zu erhalten. Es ist ein Zurückgehen in das Ver- Schritt ist, sich für ein Material zu entscheiden, danach gangene, um ein Licht auf das Zeitgenössische zu wer- wird ein Gerüst gefertigt und das Weitere sei dann das fen. Doch ist ihre Arbeit weit davon entfernt ausschließ- Formen der eigentlichen Figur. Sie arbeitet von dieser lich von der Klassik oder aus der religiösen Tradition zu Grundform nach außen - unter Vermeidung der Gefahr, kommen. Ihre Themata sind ebenso die „gewöhnlichen“ dass sich Einzelheiten verselbständigen könnten und Männer und Frauen - sie zeigen dieses insbesondere in für sich ein Leben und eine Richtung entwickeln wür- dem anscheinenden Gemeinplatz und im Alltäglichen. den. Oft sind ihre Figuren - getreu dem Leben und der Wahrheit - asymmetrisch, uneben, rauh und gebrochen. Eva Bronze, 2011 Höhe 116 cm 11 Kunstkritiker haben Dieckmanns Vorliebe für das Kon- vexe dem Konkaven gegenüber bemerkt, und wenn auch aufgrund des ersten das zweite unvermeidbar folgt, so ist der Gesamteindruck doch überwiegend einer von Volumen. Die links abgebildete weibliche Figur, füllig und in sich ruhend, ist so lebendig in ihrer Gedanken- verlorenheit – eine vorübergehende Stimmung verewigt in einer Skulptur. Der Betrachter möchte fast protestie- ren, dass die Bildhauerin sie mit ihrem scharfen Instru- ment behelligt. Wie Dieckmann sich äußerte, lebt die Skulptur nicht nur von dem Umriss und dem Äußeren, sondern von dem, was vom Inneren ausstrahlt: eine ih- rer Ausstellungen hatte den passenden Titel: Raum im Inneren. Inka I Bronze, 1993 Höhe 37 cm 13 Da ich von der Klassik sprach, will ich mich jetzt einer so komplex macht. So ist auch der Minotauros ein Tier Figur zuwenden, die in ihrer Arbeit wiederholt erscheint: und gleichzeitig ein Mann, gleichzeitig mächtig und kläg- der Minotauros. Der moderne Fokus ist nicht auf Prinz lich. Er ist nicht nur irgendeine mythologische Figur, Hamlet gerichtet, sondern auf Rosencrantz and Guilden überliefert Hunderte von Jahren, sondern eine Metapher stern (siehe Tom Stoppard’s Schauspiel: Rosencrantz menschlicher Umstände, eingeschlossen, wie wir sind and Guildenstern are Dead), konzentriert sich nicht auf in dem Labyrinth des Lebens. Mary Shelley beschreibt Jane Eyre (die Titelheldin), schön und konventioneller in ihrem Roman ein vom Menschen geschaffenes Unge- Moral folgend, sondern auf die wahnsinnige Frau, das heuer, das sich verständlicherweise seinem Schöpfer sich zur Furie wandelnde Opfer, eingesperrt und auf Frankenstein zu nähern versucht, aber auf Abscheu trifft. dem Dachboden tobend, siehe Jean Rhys Roman Wide Das Geschöpf wendet sich dann Verständnis und Sargossa Sea. Ähnlich wendet sich Bärbel Dieckmann Freundschaft suchend, an andere menschliche Wesen, nicht dem glorreichen und heldenhaften Jason, sondern begegnet aber Entsetzten, Angst und körperlicher Be- dem Ungeheuer (monster) zu, das Jason überwältigen drohung. Es ist dieses Verstoßen, das aus dem Unge- und töten muss, auf dass er das Goldene Vlies forttra- heuer ein Ungeheuer werden lässt: das zerstörerische gen kann. Ungeheuer, zu dem das Geschöpf wird, ist das Resultat Wenn wir dieses Werk von unten nach oben betrachten, von menschlichem Vorurteil, von Verstoßung und Ge- dann sehen wir einen perfekt geformten, muskulösen, walt. Bärbel Dieckmanns Minotauros ist ähnlich und männlichen Körper, der plötzlich nicht nur in einem steht als die Quintessenz des Außenseiters da, einsam, Stierkopf endet, sondern einem Kopf, der skelettartig missverstanden, mutig und entschlossen, von nackter ist: ein memento mori. Es gibt wenige Menschen, die Stärke und herausfordernd in seiner Einsamkeit - häss- ganz aus einem Guss sind und es ist das Nebeneinan- lich und großartig zugleich. der von Widersprüchen in der Persönlichkeit, das uns Minotauros Bronze, 1996 Höhe 145 cm 14 15 In Zusammenhang mit dem Minotauros steht Bärbel Man kann sagen, dass die Religion und die Liebe die bei- leblos, sondern sie reicht zu uns heraus. Und wenn Dieckmann Kykloptauros, eine Wortprägung aus „run- den größten inspirierenden Impulse westlicher Kunst, ob Gott, dem Christentum entsprechend, eines Menschen des Auge“ und „Tauros“ oder „Bulle“. Das Geschöpf ist in der Skulptur, der Musik, Malerei oder Poesie, waren. Gestalt annahm, dann ist das, was wir sehen, ein mensch- urzeitig und zerzaust, stark, trotzend und drohend. Und Über Jahrhunderte ist die Darstellung und Interpreta - liches Wesen und doch Gott (wiederum das Paradoxe): dennoch wirkt er wie ein verlorenes und orientierungs- tion der Kreuzigung von zahlreichen Künstlern versucht Gott als Mensch. Die christliche Tradition sagt, dass loses Wesen, ein Eindruck der durch sein augenloses worden. Aber Bärbel Dieckmanns Re-Präsentation un- Gott den Menschen als sein Ebenbild schuf. Dann muss Gesicht entsteht, durch die leeren Augenhöhlen, mit terscheidet sich auf wunderbare und originale Weise. es umgekehrt auch wahr sein, das Gott das Ebenbild denen er intensiv aber vergeblich starrt, empfindend, Ihr Kreuz ist nicht das traditionelle, sondern ein einfa- des Menschen ist: dieser Gedanke ist auch vorhanden aber blind und unfähig zu verstehen. Weit entfernt da- ches großes T. Während die meisten Darstellungen des in den folgenden Zeilen, die auf diese Skulptur geschrie- von ein Ungeheuer, ein zu fürchtendes Etwas zu sein, gekreuzigten Christus ihn seiner Bewegung beraubt ben wurden: ist es das Geschöpf selbst, das hilflos und verletzlich zeigen, hat sich hier eine Hand befreit und hängt nicht ist. Diese Art von Gegensatz (hier Schrecken und Mit- leiderweckendes, Stärke und Verletzlichkeit) ergibt die Der Körper vornüber geneigt Spannung, die für Bärbel Dieckmanns Arbeit typisch zeigt noch immer übergroße Stärke, ist. Im Grunde ist die Aggression des Kykloptauros ein und seine Hand vom Kreuz gelöst, Versuch der Verteidigung und wie beim Minotauros der sie segnet noch im Fall. Ausdruck eines der ursprünglichsten Instinkte, der des Christ als der Menschheit Widerhall Überlebens. Die Aura des Schreckens die den Kyklop tauros umgibt, geht nicht so sehr von ihm aus – arm- Wir stehn im Tal und blicken auf seliges, blindes Geschöpf – eher ist es ihm auferlegt und fühlen das Geschenk der Kraft, durch unser „Schauen“ (im Sinne Lacans), durch unseren Gott schafft uns neu im Tod. eigenen Mangel an Verständnis und Mitgefühl, durch unsere Mutmaßung, unser Vorurteil und der Angst vor Liebetraut Sarvan dem Fremden, dem Anderen. Wir sind es, die wir unsere Ungeheuer erschaffen in Sciencefiction, Fantasien für Kinder und oft im wirklichen Leben. Kykloptauros Christus Bronze, 2002, Höhe 125 cm Stuck, 2001, Höhe 177 cm 16 Es ist ein Leiden, wie wir Menschen leiden, Leiden wie so dass der Kreis, die in sich geschlossenste aller For- wir menschlichen Wesen es kennen in seinen unterschied- men, vollendet ist. Obwohl sie kühn und herausfor- lichen Erscheinungsweisen und Stärken. (Das Leiden dernd ist, setzt Bärbel Dieckmann sich nicht zum Ziel, Christi war ein extremes Beispiel, tatsächlich so hart, zu schockieren oder skandalisieren: Die Figuren, die sie dass die muslimische Überlieferung festhält, Gott, barm- darstellt, die Bedeutung, die sie nahelegen, die Inter- herzig und nicht gewillt, seinen Propheten so grausam pretationen, die sie herausfordern, führen nie zu einem behandelt zu sehen, habe die Seele fortgenommen und Respektsverlust für das Leben. Wystan Hugh Audens die Römer nur im Glauben gelassen, sie folterten, kreu- Gedicht Musee des Beaux Arts ist eine Meditation über zigten und töteten.) Es mögen sich vielleicht einige Per- das Leiden. Natürlich ist unser eigenes Leiden unmittel- sonen dasselbe Bild, Gemälde oder dieselbe Skulptur bar für uns und besorgniserregend, aber auch wenn ein ansehen, aber sie werden nicht Dasselbe sehen, nicht Leiden von größerer, fast universaler Bedeutung vor- gleich interpretieren und auf identische Weise reagieren. kommt, ist es umgeben von Unbedeutendem: jemand So betrachtet würden sie nicht dasselbe Objekt sehen. isst, andere gehen dumpf umher, Kinder spielen, die Wie Susan Sontag in Regarding the Pain of Others fest- Hunde leben weiter ihr Hundeleben, und das Pferd stellt, unabhängig von der Absicht des Künstlers, der kratzt sich sein unschuldiges Hinterteil an einem Baum Künstlerin, die Reaktion des Betrachters auf seine oder (Auden). In dieser Skulptur ist das Überwältigende, das ihre Darstellung kann nicht vorausgesagt werden und Schreck liche ins Gleichgewicht gebracht durch den wird in jedem Falle unterschiedlich sein. Große Kunst Umhang oder das Tuch, achtlos über einen Arm des ist vielschichtig und vieldeutig. Eine weitere mögliche Kreuzes geworfen und lässig hängend, fast so lang wie Interpretation dieser Skulptur ist, dass ebenso wie die die hängende Figur. Es ist so belanglos wie wahrhaft in Menschheit Gott braucht, braucht Gott in seiner großen dem gleich gültigen Schauplatz des Tragischen, ob groß- Liebe die Menschheit. Der Arm, der sich vom Kreuz frei- artig oder unbe deutend. gemacht hat, öffnet sich in einem versuchten Umfassen, Junger Mann Bronze, 2006 Höhe 35 cm 18 19 Die Geschichte Sankt Martins erzählt, dass er an einem Diese Komposition und andere ihrer Arbeiten bezeugen kalten Tag einem armen Mann begegnet und da er Bärbel Dieckmanns Meisterschaft der Bewegung selbst nichts anderes zu geben hat, teilt er seinen eigenen im widerstrebensten Material. Großartige Plastik ist Mantel und reicht die Hälfte dem Mann. In dieser Kom- nicht eingefrorene Bewegung, kein plötzlicher Halt wie position bemerkt man die Würde des armen Mannes. etwa in einer Fotografie. Schon die Griechen waren von Die muskulösen Arme und Beine stehen im Einklang mit dem Phänomen der Bewegung fasziniert - wie von fast dem machtvollen Schwung des Pferdehalses, auch allen Lebensaspekten oder Phänomenen - und argumen- wenn das Tier wegsieht, aus Langeweile, Ungeduld oder tierten, dass, wenn ein Mensch oder Tier zwischen zwei auch aus Takt. Im Kontrast zu dem würdigen und for- Punkten von A nach B liefe und wenn die Zeit in immer dernden Bettler sieht Sankt Martin zerbrechlich aus. Ist kleinere Abschnitte unterteilt wäre, man den klei nen es die zerbrechliche Zartheit des Gutseins und der Bruchteil der Zeit erreichen müsse, wenn Mensch oder Groß zügigkeit in einer Welt, in welcher man diesen Tu- Tier nicht in Bewegung wären: dieser Moment stellt das genden nicht oft begegnet? Der Bettler liegt auf den Statische innerhalb der Bewegung dar. Es ist dieses Knien, er ist ein Bittender, wie die zum Empfang der Al- kleins te Fragment der Zeit, das einzufangen Bärbel mosen gehöhlten Hände bewegend bezeugen, und den- Dieckmann gelingt. Hierin sieht man nicht stasis son- noch kann man ihn nicht als unterwürfig bezeichnen dern Bewegung - das anscheinend Stillstehende ist in noch als elend abtun. Die Kritik hat darauf hingewiesen, Bewegung, eine Bewegung übersetzt in Stein oder dass, wenn man eine Linie vom Kopf des Heiligen zu Bronze. Man möchte behaupten, der Eindruck des Sta- dem des Bettlers zieht und dann weiter von dessen tischen wäre Illusion und dass die Figuren (nahezu) at- Knien zu den Hufen des Pferdes, die wesentliche Inte- men und sich bewegen - Sankt Martin sich vorwärts gration der Komposition klarer gemacht werden kann. lehnend, der erhobene Pferdehuf und selbst die An- Jemand, der in der glücklichen Lage ist, die wirkliche spannung in den ausgestreckten Händen des Bettlers. Figur zu betrachten, wird viele andere Einzelheiten be- Das Fließende der Bewegung lässt einen zögern das merken, zum Beispiel hat Sankt Martin, selber arm, kei- Wort „Tableau“ zu benutzen, da man sich darunter eine nen Sattel und er ist gegen den unteren Teil des Pferde- eingefrorene, erstarrte Gruppe vorstellt. halses gelagert, als er den Mantel herüberreicht: die größere Anstrengung ist auf Seiten des Gebenden, ob- wohl es der Mangel des Empfängers ist, der die Geste und das Opfer erforderlich macht. St. Martin Bronze, 2000, Höhe ca. 220 cm, Blomberg Burghof
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