Schrift und Schriftlichkeit Writing and Its Use HSK 10.1 Handbücher zur Sprach- und Kommunikations- wissenschaft Handbooks of Linguistics and Communication Science Manuels de linguistique et des sciences de communication Mitbegründet von Gerold Ungeheuer Herausgegeben von / Edited by / Edités par Hugo Steger Herbert Ernst Wiegand Band 10.1 Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994 Schrift und Schriftlichkeit Writing and Its Use Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung An Interdisciplinary Handbook of International Research Zusammen mit/Together with Jürgen Baurmann · Florian Coulmas · Konrad Ehlich · Peter Eisenberg · Heinz W. Giese · Helmut Glück · Klaus B. Günther · Ulrich Knoop · Bernd Pompino- Marschall · Eckart Scheerer · Rüdiger Weingarten Herausgegeben von/Edited by Hartmut Günther · Otto Ludwig 1. Halbband / Volume 1 Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft / mitbegr. von Gerold Ungeheuer. Hrsg. von Hugo Steger; Herbert Ernst Wiegand. — Berlin; New York: de Gruyter. Früher hrsg. von Gerold Ungeheuer und Herbert Ernst Wiegand. — Literaturangaben. — Teilw. mit Parallelt.: Handbooks of linguistics and communication science. — Teilw. mit Nebent.: HSK NE: Ungeheuer, Gerold [Begr.]; Steger, Hugo [Hrsg.]; Handbooks of linguistics and communication science; HSK Bd. 10. Schrift und Schriftlichkeit. Halbbd. 1 (1994) Schrift und Schriftlichkeit: ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung = Writing and Its Use / in Verbindung mit Jürgen Baurmann ... hrsg. von Hartmut Günther; Otto Ludwig. — Berlin; New York: de Gruyter. (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; Bd. 10) NE: Günther, Hartmut [Hrsg.]; Writing and Its Use Halbbd. 1 (1994) ISBN 3-11-011129-2 © Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin V Vorwort 1. Gegenstand Wie selbstverständlichSchrift und Schriftlichkeitin unser tägliches Leben eingebunden sind und welche Bedeutung man ihnen zu allen Zeiten zugemessen hat, das zeigt schon ein Blick auf die vielen Redensarten, die dazu existieren. Scripta manent sagten die Lateiner; was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen denkt der Schüler im Faust. Bis daß Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüttel vom Gesetz (Matth. 5,18), und des Büchermachens ist kein Ende (Pred. 12,12), aber der Buchstabe tötet, und der Geist macht lebendig (2. Kor. 3,6). Mit dem Schlachtruf sola scriptura zog Martin Luther gegen die herrschende Kirche seiner Zeit zu Felde; freilich schaute er den Zeitgenossen aufs Maul, wollte gerade vermeiden, daß er redet wie ein Buch. Mancher aber lügt wie gedruckt, obgleich er das, was er sagte, nicht unterschreiben würde — darauf könne er Brief und Siegel geben. Das Alpha und das Omegasind Inbegriff von Anfang und Ende — und es gibt noch erheblich mehr stehende Wendungen dazu,von A bis Z. Schrift und Schriftlichkeit — das ist ein weites Feld. Schrift, das ist Handschrift, Druckschrift, Keilschrift. Schrift, das ist Wortschrift, Silbenschrift, Alphabetschrift. Schrift, das ist Unziale, Antiqua, Fraktur. Schrift, das ist lateinische, arabische, chi- nesische Schrift. Schrift, das ist Garamond, Times, Futura. Schrift, das allein ist schon ein weites Feld — und doch stellt dieser Begriff nur sozusagen den kleinsten gemein- samen Nenner dessen dar, was als Gegenstand dieses Handbuchs in Frage kommt. Der umfassendere Begriff heißt Schriftlichkeit. Er begreift alles in sich, was das Attribut ‘schriftlich’ tragen kann: durch Schrift konstituiert, durch Schrift bedingt, durch Schrift affiziert, durch Schrift bewirkt — Dinge, Begriffe, Menschen, Gesell- schaften, Kulturen. Wo Schrift in Gebrauch ist, da können Botschaften, Nachrichten, Einladungen, Vorträge, Reden schriftlich sein. Gesellschaften und Kulturen sind schrift- lich, wenn sie über Schrift verfügen und zentrale gesellschaftliche Transaktionen auf schriftlichem Wege bewerkstelligt werden. Das Ausmaß, in dem Individuen an Schriftlichkeitsprozessen partizipieren können, bestimmt vielfach ihre gesellschaftliche Stellung. Wo dies nicht bereits heute der Fall ist, werden Schriftlichkeitsprozesse künftig noch stärker im Brennpunkt vielfältiger Auseinandersetzungen stehen. Durch weltweite Migrationen und die Internationalisie- rung verschiedenster sozialer Prozesse und Organisationen verschieben sich die Rela- tionen von Sprechen und Schreiben, Hören und Lesen. Zugang zur Schriftlichkeit wird für viele Menschen immer schwieriger. Schließlich zeichnet sich in der Entwicklung elektronischer Medien zwar keine Aufhebung, aber eine tiefgreifende Veränderung der schriftlichen Kommunikation und ihrer Formen ab. Den Zusammenhang von Schrift und Schriftlichkeit stiftet der schriftliche Text. Schriftliche Texte umgeben uns tagtäglich, sie regeln unser Leben, greifen in seinen Ablauf ein, schaffen uns Möglichkeiten des Ausdrucks, erschweren uns das Leben. Wir richten unser Leben nach schriftlichen Texten. Es geht dabei nicht nur um die Konsti- tution, Form und Funktion schriftlicher Texte, sondern auch um die Tätigkeit der Menschen, die schriftliche Texte herstellen und verarbeiten, also um das Schreiben und VI Vorwort Lesen. Wir haben es auch zu tun mit dem Erwerb dieser Fähigkeiten im Unterricht; wir haben es zu tun mit den Auswirkungen des Schreibens und Lesens auf das private und das öffentliche Leben, mit dem Status schriftlicher Texte in Kultur, Sprache, Denken und individuellem Handeln. Der Gegenstand des Handbuchs ist in der Tat so weit gefaßt. Er begreift alle Völker und Individuen ein, die sich der Schrift bedient haben und bedienen, alle Sprachen, die neben der mündlichen eine schriftliche Sprachform ausgebildet haben, alle Gruppen und Individuen, deren Leben durch den Umgang mit Schrift und schriftlichen Texten mit organisiert wurde oder ist, in welchem Ausmaß auch immer. 2. Stand der Forschung und Aufgabenstellung Die Vielfalt und Heterogenität der Gegenstände bedingen, daß an ihrer Untersuchung verschiedene Wissenschaften beteiligt sind: Philosophie und Anthropologie, Sprach- und Literaturwissenschaften, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Geschichtswissen- schaften — um nur einige zu nennen. Die spezielle Kennzeichnung des Gegenstandes Schrift und Schriftlichkeit aber wird je nach Disziplin unterschiedlich ausfallen. Für den Historiker etwa ist das schriftliche Zeugnis das historische Zeugnis schlechthin; terminologisch bestimmt er dieVorgeschichteals die Zeit, aus der keine zeitgenössischen Quellen in schriftlicher Form vorliegen. In der Kunstgeschichte interessiert speziell die Form und Ästhetik der Schrift in den Zeitaltern, in der Sozialgeschichte ihre gesell- schaftliche Funktion. Dem Soziologen ist Schrift vielfach als eine soziale Gemeinschaf- ten konstituierende Kraft bedeutsam. Für den Psychologen ist der Anteil der Schrift- lichkeit an den kognitiven Prozessen ein wichtiger Untersuchungsgegenstand, den er im Falle von schriftbezogenen Sprachstörungen mit dem Mediziner teilt. Zudem werden die jeweils erarbeiteten Ergebnisse in den verschiedenen Wissenschaf- ten keineswegs gleich gewichtet, auch nicht in gleicher Weise dem Forschungsstand der gesamten Disziplin zugeordnet. Als spezielles Beispiel kann die Diskussion in der Sprachwissenschaft angeführt werden. Lange sah man von einer Differenzierung von Schrift und Sprache ab. Als die Notwendigkeit ihrer Unterscheidung klar wurde, setzte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Vorstellung von der systematischen Priorität der mündlichen Sprache durch; ‘die Schrift’ erschien als zweitrangiges Phänomen und wurde als Gegenstand sprachwissenschaftlicher Forschung bestenfalls am Rande zu- gelassen. Für viele Linguisten scheint es noch heute undenkbar, daß es in schriftlicher Sprache theoretisch bedeutsame Erscheinungen gibt, die nicht auf Aspekte der gespro- chenen Sprache zurückgeführt werden können. Tatsächlich aber bezog und bezieht man sich bei der Untersuchung von Sprache, selbst von mündlicher Sprache, auf schriftliche oder verschriftete Texte. So aber konnten Schriftlichkeit und Mündlichkeit nicht zu- friedenstellend voneinander abgegrenzt, Schrift und Schriftlichkeit nicht fundiert be- schrieben und ihre Beziehungen zur Mündlichkeit nicht hinreichend bestimmt werden. Dieser Überblick kennzeichnet eine zentrale Problematik: Einzelne Aspekte von Schrift und Schriftlichkeit werden aufgrund ihrer zentralen Rolle in der Herausbildung und Strukturierung moderner Gesellschaften von sehr vielen unterschiedlichen Diszi- plinen thematisiert. Die einzelnen Wissenschaftsrichtungen bringen dabei ihre fachspe- zifischen Theorien und Methoden ein; ihre Erkenntnisse sind an diese gebunden. Jede erfaßt und erforscht einen eigenen Aspekt von Schrift und Schriftlichkeit, und erst alle zusammen können ein einigermaßen vollständiges Bild ergeben. Schrift und Schriftlich- keit ist ein interdisziplinärer Gegenstand und nur mit dieser Perspektive zu erforschen. Dies ist bisher bestenfalls in Ansätzen geschehen. Es muß gesagt werden, daß die einzelnen wissenschaftlichen Diszplinen Schrift und Schriftlichkeit bislang unter Er- kenntnisinteressen erforscht haben, die — vom Gesamtzusammenhang des Gegenstan- Vorwort VII des her gesehen — als eher partikulär zu bezeichnen sind. Zum genuinen Forschungs- gegenstand konnte Schrift und Schriftlichkeit so nicht werden, weshalb es heute auch weder eine einheitliche Theorie über diesen Gegenstand gibt noch eine Vermittlung theoretischer Bezüge oder einen überfachlichen Austausch über Fragestellungen und Untersuchungsmethoden. Die wenigen Kompendien oder Handbücher, die es auf diesem Felde gibt, erfassen Einzelaspekte unter isolierten Fragestellungen. Das Handbuch ist somit das erste seiner Art. Ganz im Sinne der Zielsetzung der Reihe Handbücher zur Sprach- und Kommunika- tionswissenschaft soll das vorliegende Handbuch für Studierende, Lehrende und For- schende sowie für alle, die aus unterschiedlichen Gründen ein Interesse daran haben, eine möglichst breit gefächerte, strukturierte Übersicht über Fragestellungen, Methoden und Theorieansätze im Bereich von Schrift und Schriftlichkeit geben. Das bedeutete konkret: Es war eine umfassende Bestandsaufnahme vorzunehmen, um erst einmal einen Überblick über das Problemfeld gewinnen zu können. Dann war durch Zusammenstellen, Zusammenführen und Zusammenfügen der Teile eine Ordnung in dieses Feld zu bringen, die es erlaubt, jedem Teil einen Platz im Handbuch zuzuweisen und Bezüge zwischen den Teilen aufzuzeigen: Der Stoff war zu gliedern. Schließlich mußten die Teile gegeneinander austariert werden, um keine größeren Ungleichgewichte aufkommen zu lassen. Gerade diese Aufgabe erwies sich als schwierig, weil einzelne Bereiche schon lange und intensiv beforscht sind wie z. B. die Geschichte der Schrift bzw. der Schriften, andere nur wenig wie z. B. die Geschichte des Schreibens und Lesens. Darüber hinaus gibt ein systematisch angelegter Aufriß des gesamten Feldes Gele- genheit, Mängel in der Forschung ausfindig zu machen und auf Lücken grundsätzlicher Art hinzuweisen. Es kann nicht die Aufgabe eines Handbuches sein, sie zu beheben. Wohl aber haben die Herausgeber dieses Handbuchs es als ihre Pflicht (und die aller Autoren) angesehen, die erhebliche Heterogenität des Gegenstandes sichtbar zu machen, die Unterschiedlichkeit der Zugangsweisen, die in den verschiedenen Wissenschaften ausgebildet worden sind, deutlich werden zu lassen und auf die existierenden Theorie- defizite hinzuweisen, um auf diese Weise einen Beitrag zu leisten zu einer einheitlicheren und umfassenderen Bearbeitung des Gegenstandes. 3. Begrifflichkeit Wie bei vielen so fundamentalen und von sehr verschiedenen Wissenschaften verwen- deten Begriffen verwischt auch im Fall von Schrift und Schriftlichkeit ihre Omnipräsenz die Klarheit der Wahrnehmung und Begriffsbildung, und so kann es nicht überraschen, daß es keine einheitliche Begrifflichkeit und infolgedessen auch keine allgemein akzep- tierte Terminologie im Bereich von Schrift und Schriftlichkeit gibt. Ein guter Teil der im wissenschaftlichen Diskurs gängigen Ausdrücke stammt aus der Umgangssprache, und ihre Bedeutungen entfernen sich oft nur wenig von den allgemein gebräuchlichen. Nur ein recht kleiner Teil der Begriffe ist als rein fachsprachlich zu charakterisieren. Eine einheitliche Begrifflichkeit und eine allgemein akzeptierte Terminologie kann es allerdings auch nur in dem Maße geben, als eine Theorie der Schriftlichkeit oder eine integrierte Theorie aller ihrer Aspekte zur Verfügung steht; dies ist derzeit nur in Teilbereichen der Fall. Es ist ja auch durchaus die Frage, wie denn eine „interdisziplinäre Theorie” eigentlich zu konstituieren wäre. Es geht deshalb in den folgenden Abschnitten nicht darum, Vorschläge für eine einheitliche Begrifflichkeit zu machen oder gar die Terminologie im Bereich von Schrift und Schriftlichkeit zu normieren. Es soll auch nicht der Versuch unternommen werden, die in diesem Handbuch versammelten Artikel einer einheitlichen Sprachregelung zu unterwerfen. Es soll vielmehr eine grobe Orien- VIII Vorwort tierung über die verschiedenen Bedeutungen gegeben werden, die mit bestimmten Ausdrücken in der wissenschaftlichen Literatur verbunden werden. Beim gegenwärtigen Stand der Schriftlichkeitsforschung ist es nicht zu vermeiden, daß in den einzelnen Artikeln jeweils eigene Begrifflichkeiten verwendet werden, so daß der gleiche Ausdruck in verschiedenen Artikeln auch verschiedene Bedeutung haben kann. Es werden hier nur solche Begriffe angesprochen, deren Kenntnis in den verschiedenen Artikeln als bekannt vorausgesetzt wird. Die begriffliche Fassung spezieller Aspekte wird in den Artikeln selbst expliziert. 3.1.Schrift (Script; Writing) Das Wort Schrift weist eine breite Palette verschiedener Bedeutungen auf. In der Umgangssprache wie in der wissenschaftlichen Literatur kann der Ausdruck sowohl auf das gesamte Feld der Schriftlichkeit als auch auf Teilbereiche bezogen werden — den Duktus der Handschrift, die schriftliche Sprache, die Form der Schriftzeichen etwa, wobei ohne Kontext prima facie meist nicht erkennbar ist, welche Lesart zugrundeliegt. Im alltäglichen Sprachgebrauch lassen sich die folgenden drei Grundbedeutungen des WortesSchriftfeststellen: (1) die Menge der graphischen Zeichen, mit denen die gesprochene Sprache festgehalten wird (vgl. die chinesische, griechische Schrift) (2) die Gestalt bzw. Form der Schriftzeichen (vgl.eine schöne, unordentliche, erhabene Schrift) (3) das Produkt der Verwendung von Schriftzeichen, d. h. das Schriftstück oder der Text (vgl. Luthers Schriften, eine wichtige Schrift Lessings, die (Heilige) Schrift) Diese systematische Mehrdeutigkeit des Wortes Schrift findet sich auch in der wis- senschaftlichen Literatur. In vielen Fällen bezeichnet es einfach die Menge der Schrift- zeichen, die zur Verschriftung einer bestimmten Sprache Verwendung finden. In visuell- graphischen Kontexten ist dagegen die Formstruktur der verwendeten graphischen Zeichen das bestimmende Kriterium. In diesem Sinne spricht man davon, daß die Fraktur eine andere Schrift ist als die Antiqua. Ein Ausdruck wie ‘die deutsche Schrift’ ist also systematisch mehrdeutig: Es kann damit das zur Verschriftung des Deutschen verwendete Alphabet gemeint sein (linguistische Lesart) oder aber eine Schrift, mit der deutsche Texte geschrieben werden, also die Fraktur oder die Sütterlin-Handschrift (visuell-formale Lesart). 3.2.Schriftlichkeit (Literacy) Unter dem Oberbegriff Schriftlichkeit können alle Sachverhalte zusammengefaßt wer- den, denen das Attribut schriftlich zukommt. Bezogen wird der Ausdruck dabei ins- besondere auf: (1) Texte, die entweder durch das schriftliche Medium bedingt sind oder durch eine spezifische Weise, Texte zu konzipieren, zu komponieren oder zu formulieren, geprägt sind; (2) Personen, die lesen und schreiben können und/oder über das in kanonischen Schriften niedergelegte Wissen verfügen (so schon im lateinischenlitteratus); (3) gesellschaftliche Zustände, die dadurch gekennzeichnet sind, daß nicht nur repräsentative Teile der Bevölkerung lesen und schreiben können, sondern daß auch das gesellschaftliche Leben insgesamt durch Formen schriftlicher Kommunikation bestimmt ist; (4) Kulturen, in denen wichtige Institutionen wie z. B. die Religion sich auf schriftliche Texte berufen, der Erwerb von Lesen und Schreiben eines der Ziele von Unterricht ist oder das Lesen und Schreiben von Menschen sich auf ihr Denken und Handeln auswirkt. Die Verwendung von Schriftlichkeit als Oberbegriff scheint eine deutsche Eigentüm- lichkeit zu sein. Seine Verwendung zur Kennzeichnung einer spezifischen Verfaßtheit von Individuen, Gesellschaften, Kulturen und Texten geht auf den englischen Begriff literacy zurück, der seinerseits entstanden ist im Zusammenhang mit dem Gegensatz Vorwort IX zu orality, ins Deutsche teilweise als „Mündlichkeit/Schriftlichkeit”, oft auch als „Li- teralität/Oralität” übersetzt. Dies führt bisweilen zu Unklarheiten, weil die deutschen Ausdrücke Literalität und Schriftlichkeit nicht in jedem Kontext austauschbar sind. 3.3.Schriftliche Sprache, geschriebene Sprache (Written Language) Wie Schriftlichkeit und Schrift wird auch der Ausdruck geschriebene oder schriftliche Sprache häufig als Oberbegriff für das gesamte Begriffsfeld verwendet oder aber auf einen Teilaspekt des Feldes bezogen. In der wissenschaftlichen Literatur lassen sich fünf Ansätze unterscheiden, den Begriff differenzierter zu verwenden. (1) Schriftliche Sprache als sprachliche Gestaltung von Texten. In diesem Falle wird nicht zwischen der Form einer schriftlichen Äußerung und der bei ihrer Herstellung verwendeten sprachlichen Mittel unterschieden. Eine solche Verwendung des Ausdrucks ist in der sprach- wissenschaftlichen Literatur heute nicht mehr anzutreffen, doch spielt sie in anderen Diszi- plinen, vor allem in den Literaturwissenschaften, noch eine Rolle. (2) Schriftliche Sprache als eine unter funktionalen Gesichtspunkten getroffene Auswahl sprach- licher Mittel (stilistisches Konzept). Man spricht auch von Varietäten, Sprachstilen, Registern. Hier geht es nicht um Eigenschaften von Texten, sondern um die in schriftlichen Äußerungen/ Texten verwendeten sprachlichen Mittel (morphologische, syntaktische, lexikalische, prag- matische). In der neueren Sprachwissenschaft ist diese Konzeption weit verbreitet. (3) Schriftliche Sprache als schriftliche Form einer Sprache (glossematisches Konzept). Man geht von der Tatsache aus, daß viele Sprachen in zwei Ausdrucksformen vorliegen, einer münd- lichen und einer schriftlichen, daß aber beide zusammen als eine Sprache angesehen werden. (4) Schriftliche Sprache als die schriftliche Norm der Sprache (funktionalistisches Konzept). Die Prager Strukturalisten, auf die dieses Konzept zurückgeht, unterschieden die Funktionen schriftlicher und mündlicher Äußerungen und Texte und schlossen daraus auf zwei Normen einer Sprache. (5) Schriftliche Sprache als die Sprache, die beim Schreiben und Lesen Verwendung findet. Nicht die Beziehung zwischen mündlicher (gesprochener) und schriftlicher (geschriebener) Sprache liegt dieser Konzeption zugrunde, sondern die Beziehung, in der die Sprache zu den Menschen steht, die sie benutzen. Man gebraucht zum Schreiben eine andere Sprache als zum Sprechen, und genau sie ist es, die man als geschriebene oder schriftliche Sprache bezeichnet. Es muß gerade bei diesem Ausdruck aber auf den Umstand verwiesen werden, daß seine Bedeutung selbst in ein und demselben Text schwanken kann. 3.4.Schriftsystem, Orthographie (Writing System, Orthography) Aufgrund der Vieldeutigkeit der BegriffeSchrift, Schriftlichkeitundschriftliche Sprache sind in den vergangenen Jahrzehnten insbesondere in den Sprachwissenschaften einige Konzepte etwas strenger gefaßt worden, die weniger scharf teilweise auch in anderen Wissenschaften und der Umgangssprache auftreten. Die Art und Weise, wie Sprachen verschriftet werden, ist von Sprache zu Sprache unterschiedlich. In logographischen Schriftsystemen beziehen sich die Schriftzeichen grosso modo auf Wörter bzw. Bedeutungsträger, in syllabographischen Systemen auf Silben, in alphabetischen Systemen auf minimale Einheiten der Lautsprache. Der Begriff Schrifttyp bezeichnet im sprachwissenschaftlichen Kontext die Art der Verschriftung einer Sprache nach Maßgabe des vorherrschenden Verschriftungsverfahrens; zwischen dem Sprachtyp (isolierend, agglutinierend, flektierend) und dem Schrifttyp bestehen des öfteren systematische Beziehungen. (Ganz anders wird der Ausdruck Schrifttyp verwendet, wenn wir uns im Bereich der Typographie befinden; hier bezieht er sich auf visuelle Charakteristika; unterschieden werden z. B. im lateinschriftlichen Bereich als Schrifttypen die Antiqua von den gebrochenen Schrifttypen wie z. B. der deutschen Fraktur). X Vorwort In den Einzelsprachen wird von den durch den Schrifttyp bereitgestellten Mitteln in unterschiedlicher Weise Gebrauch gemacht. Das Schriftsystem einer Sprache determi- niert die Form schriftlicher Äußerungen. Dazu gehören neben den Beziehungen zwi- schen den Lautsegmenten und den Schriftzeichen die Interpunktion, die Unterscheidung verschiedener Schriftzeichentypen wie Groß- und Kleinbuchstaben sowie die Konven- tionen für die Form schriftlicher Äußerungen und Texte (Briefe, Aufsätze etc.). Es gibt eine engere Auffassung, wonach der Terminus Schriftsystem auf die untere Ebene der doppelten Artikulation beschränkt wird; in der Vergangenheit hat sich die linguistische Schriftlichkeitsforschung häufig auf diesen Bereich beschränkt. Von verschiedenen Autoren wird dafür der Begriff Graphematik (oder Graphemik ) verwendet, den andere für die Schriftforschung insgesamt benutzen. Innerhalb bestimmter Theorien wird der Begriff Schriftsystem sehr strikt gehandhabt; in anderen Ansätzen, u. a. in verschiedenen Artikeln des Kapitels VIII dieses Handbuchs, wird darunter alles verstanden, was linguistisch über Schrift und die geschriebene Sprache zu sagen ist. Die meisten neueren Schriftsysteme weisen bestimmte Kodifikationen auf, d. h. prä- skriptive Regelwerke, die die Norm der Schreibung vorschreiben. Eine solche Kodifi- kation wird als Orthographie bezeichnet. Eine Orthographie ist eine Menge von Vor- schriften, die bestimmen, ob eine schriftliche Äußerung korrekt ist oder nicht, d. h. eine präskriptive Form der Beschreibung eines Schriftsystems. Für Schreibregularitäten, zu denen keine präskriptive Kodifikation vorliegt, wird neuerdings vor allem im histori- schen Bereich der AusdruckGraphieverwendet. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird die Unterscheidung von Schriftsystem, Graphie und Orthographie in der Regel nur von Sprachwissenschaftlern und Philologen gemacht; namentlich in der kognitionspsychologischen und pädagogischen Literatur wird hier selten differenziert. 3.5.Schriftzeichen, Graphem (Character, Grapheme) Die Konzepte Schrift, Schrifttyp, Schriftsystem etc. beruhen auf der Vorstellung, daß schriftliche Sprache sich eines begrenzten Inventars von Elementen bedient, die theorie- neutral als Schriftzeichen bezeichnet werden. Dieser Begriff hat den Vorteil, weiter als Begriffe wieBuchstabeoderGraphemzu sein und auf unterschiedliche Schrifttypen und -systeme anwendbar zu sein — lateinische oder griechische Buchstaben, japanische Kana, chinesische Hanzi sind sämtlich Schriftzeichen in diesem Sinne. Die Untermenge der Schriftzeichen, aus denen in Silben- oder Alphabetschriften die Bedeutungsträger zusammengesetzt sind, werden als Grapheme bezeichnet. Wie der Begriff Phonem, so ist auch der Begriff Graphem ein theoretisches Konstrukt, abhängig von der jeweiligen Theorie. Dabei stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber. In der ersten, älteren Kennzeichnung versteht man unter Graphem diejenigen Schriftzei- chen(kombinationen), durch die Phoneme der Lautsprache schriftlich wiedergegeben werden. Die jüngere Konzeption definiert das Graphem rein distributionell als die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit der schriftlichen Sprachform ohne Bezug auf die Phonologie. — Außerhalb der Sprachwissenschaft kann beim Gebrauch des Ausdrucks Graphem nicht davon ausgegangen werden, daß eine bestimmte Lesart intendiert ist; häufig genug bezeichnet man mit dem Begriff einfach ein Schriftzeichen oder einen Buchstaben. 3.6.Schreiben, Lesen, Text (Writing, Reading, Text) Diese Begriffe sind wohl am wenigsten terminologischen festgelegt; sie werden auch in diesem Handbuch höchst unterschiedlich verwendet. Gerade deshalb scheint es sinnvoll, die Hauptunterschiede der Verwendungsmöglichkeiten zu kennzeichnen. Das Wortschreibenhat umgangssprachlich drei Bedeutungen: