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Russland-Analysen Nr. 331 (03.03.2017) PDF

33 Pages·2017·1.42 MB·German
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NR. 331 03.03.2017 russland- analysen http://www.laender-analysen.de/russland/ MIGRATIONSPOLITIK IN RUSSLAND ■■ANALYSE Zwischen Liberalisierung und Restriktion: Entwicklungen der russischen Migrationspolitik 2 Matthew Light, Toronto ■■ANALYSE One way ticket oder vorübergehende Zuflucht? Flüchtlinge aus der Ukraine in Russland 9 Irina Kuznetsova, Birmingham ■■ANALYSE Wer kommt? Die aktuelle Entwicklung des Zuwanderungsmanagements Russlands 13 Olga Gulina, Berlin / Moskau ■■UMFRAGE Immigration nach Russland 19 Emigration aus Russland 22 Flüchtlingssituation in Europa und Russland 23 Krieg in der Ostukraine 24 ■■NOTIZEN AUS MOSKAU Isaaks-Kathedrale 25 Jens Siegert, Moskau ■■AUS RUSSISCHEN BLOGS »Überläufer«. Zwei ehemalige Duma-Abgeordnete finden Zuflucht in der Ukraine 27 Sergey Medvedev, Berlin ■■CHRONIK 17. Februar – 2. März 2017 31 ► Deutsche Gesellschaft Forschungsstelle Osteuropa für Osteuropakunde e.V. an der Universität Bremen RUSSLAND-ANALYSEN NR. 331, 03.03.2017 2 ANALYSE Zwischen Liberalisierung und Restriktion: Entwicklungen der russischen Migrationspolitik Matthew Light, Toronto Zusammenfassung Obwohl die Russische Föderation von Vielen im Westen als ein Emigrationsland wahrgenommen wird, hat es seit der Unabhängigkeit 1991 eine beträchtliche Immigration nach Russland gegeben, meist aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Darüber hinaus hat das Land auch eine erhebliche Binnenmigration erfah- ren. Diese Migrationsprozesse haben die Größe und die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Russ- lands sowie deren Verteilung über die Regionen verändert. Die Politik zur Steuerung der Migration hat sich von dem äußerst strikt reglementierten System der Sowjetunion fortbewegt, ohne eine vollkommene Libe- ralisierung zu erreichen. Dieser Beitrag untersucht die Gründe für diese Entwicklung der Migrationspoli- tik, unter anderem die Weigerung des russischen Staates, Migrationsrechte voll durchzusetzen, die Unter- ordnung der Migrationspolitik unter geopolitische Ziele und die rhetorische Festlegung auf einen ethnisch russischen Nationalismus. Der jüngste politische Wandel deutet auf eine Bewegung hin zu einer größeren Steuerung der Auswanderung russischer Staatsangehöriger und der Annahme anderer Staatsangehörigkei- ten. Darüber hinaus verknüpft die staatliche Politik Migrationsrechte mit einer politischen und wirtschaft- lichen Integration zwischen Russland und anderen postsowjetischen Staaten. Steuerung internationaler Migration in der das Land auf Zeit zu verlassen, z. B. als Tourist. Doch die Sowjetunion wurden dann gründlich geprüft und durften gewöhn- Die Migrationsprozesse in der Sowjetunion (1917–1991) lich nur in Gruppen reisen. Wie diese Beschränkungen sind auf ganz andere Weise gesteuert worden als seiner- bei Auslandsreisen sollte auch der nahezu totale Bann zeit in den kapitalistischen Staaten des Westens, seien auf Immigration in die UdSSR die ideologische Konfor- sie nun autoritär oder demokratisch verfasst gewesen. mität fördern. Der Sowjetstaat wollte verhindern, dass Die Sowjetunion war bereits ganz früh bestrebt, den seine Bürger Informationen von Ausländern erhielten, Bevölkerungsaustausch mit der Außenwelt zu beschrän- sei es über das Leben im Ausland oder über die Sow- ken, sowohl in Bezug auf Emigration, als auch – was jetunion selbst. Zur Beschränkung des Informations- im Westen weniger bekannt ist – auf Immigration. Seit flusses, und um sicherzustellen, dass alle Sowjetbürger den ausgehenden 1920er Jahren bis zu den letzten Jah- loyal zum Regime sind, war die Regierung bereit, auf die ren der Sowjetherrschaft hat es erhebliche Restriktio- Vorteile einer zahlenstarken Immigration zu verzichten, nen für eine Ausreise gegeben; eine Ausreise war mehr selbst in der Nachkriegszeit, als das Land verwüstet war ein Privileg als ein Recht. Hauptzweck dieser Politik und von einem Zustrom von Gastarbeitern (wie dem in war es, ungenehmigte Emigration zu verhindern. Das die BRD) profitiert haben könnte. Die Sowjetunion hat wiederum spiegelte die stillschweigende Erkenntnis der nie eine Politik verfolgt, die eine routinehafte Immigra- Sowjetregierung wieder, dass viele Sowjetbürger gehen tion von ausländischen Staatsangehörigen erlaubt hätte. könnten, wenn sie die Gelegenheit dazu bekämen, weil das Leben in der UdSSR äußerst stark reglementiert war, Regulierung von Mobilität in der es keine Möglichkeit gab, sich in der Zivilgesellschaft Sowjetunion frei zusammenzuschließen, die politische Mitwirkung Auch die innersowjetische Migrationspolitik unterschied erheblich beschränkt war und der Lebensstandard nied- sich im internationalen Vergleich. Wie viele andere euro- riger als in den nichtkommunistischen Gesellschaften päische Gesellschaften damals und jetzt auch, verlangte Europas sowie von ernsthaften Versorgungsschwierig- die UdSSR eine Registrierung des Wohnsitzes ihrer Bür- keiten bei Konsumgütern und von materiellen Härten ger. Anders als in liberalen kapitalistischen Gesellschaf- geprägt war. Ausnahmen vom Emigrationsverbot gab ten diente das Meldeverfahren nicht der Information, es nur bei vereinzelten Dissidenten (etwa bei Solsche- sondern erforderte eine Genehmigung. In der Praxis nizyn), und bei einigen Angehörigen bestimmter eth- setzte der Staat die Steuerung der Binnenmigration zu nischer Gruppen mit Verbindungen zu anderen Staaten, mehreren Zwecken ein. Zum einen lenkten die Behör- die deren Umsiedlung ausgehandelt hatten (Deutsche den damit Arbeiter in jene Regionen und Unterneh- und Juden). In einer späteren Phase der sowjetischen men, in denen sie gebraucht wurden; sie begrenzten Geschichte wurde es Bürgern, denen man traute, erlaubt, und steuerten die Abwanderung von Bauern, die in RUSSLAND-ANALYSEN NR. 331, 03.03.2017 3 den Kolchosen gebraucht wurden, in die Städte; und 1990er ging die Emigration in den 2000er Jahren erheb- sie beschränkten die Migration nach Moskau und in lich zurück, hat aber in letzter Zeit wieder zugenommen, bestimmte andere Städte, die besser mit knappen Gütern vor allem durch Fachkräfte und aus einer Mischung aus oder Dienstleistungen versorgt waren. Ein zusätzli- wirtschaftlichen und politischen Motiven, unter ande- cher Grund für eine Steuerung der Binnenmigration rem wegen einer Unzufriedenheit mit Russlands politi- war die Kontrolle über unliebsame Bürger, etwa über scher und wirtschaftlicher Entwicklungsbahn. Angehörige bestimmter ethnischer Minderheiten (zu Zweitens ist Russland, und das ist weniger bekannt, denen wiederum die Wolgadeutschen gehörten) oder jetzt das Zentrum eines der weltweit größten internatio- über politisch unzuverlässige Individuen. Schlüsseldo- nalen Migrationsnetzwerke. Dabei hat in der postsow- kumente für die Handhabung der Binnenmigration jetischen Zeit Immigration beharrlich die Emigration waren der sogenannte »Inlandspass« und die propiska überwogen und angesichts der niedrigen Geburtszahlen (Wohnsitzgenehmigung). und der hohen Sterblichkeit in Russland ist es die wich- Die sowjetische Migrationspolitik war zwar in vieler- tigste (und bisweilen einzige) Quelle für Bevölkerungs- lei Hinsicht repressiv, bestand aber nicht ausschließlich wachstum gewesen. Trotz einer Zunahme der Immigra- aus Verboten. Der sowjetische Staat förderte Binnenmi- tion aus einigen asiatischen Ländern erfolgt der größte gration durch die Entwicklung von Infrastruktur und Teil der Immigration nach Russland aus anderen post- Beschäftigung sowie subventionierte Reisen und andere sowjetischen Staaten. Viele Autoren unterscheiden zwei Formen von Sozialleistungen, die über den Arbeitsplatz Phasen postsowjetischer Immigration nach Russland. erteilt wurden. Der sowjetische Staat überwachte die Die erste Phase fiel grob betrachtet mit den 1990er Jah- Transformation des Landes von einer mehrheitlich länd- ren zusammen, als diese Art Immigration zum größten lichen Gesellschaft zu einer überwiegend städtischen Teil durch politische Wirren und ethnische Konflikte und industrialisierten. Er stimulierte darüber hinaus in anderen Teilen der ehemaligen UdSSR verursacht Migrationsprozesse, durch die viele Teile des Landes in wurde und einen erheblichen Anteil ethnischer Russen größerem Maße multiethnisch wurden, beispielsweise, aufwies, die nach Russland umsiedeln wollten. In der indem Bürger aus dem europäischen Teil des Landes zur zweiten Phase, ungefähr nach der Jahrtausendwende, Ansiedlung in Sibirien und Zentralasien bewegt wur- wurde die politisch motivierte dauerhafte Umsiedlung den. Rückblickend besteht der beste Ansatz zu einem zu großen Teilen von vorübergehender Arbeitsmigration Verständnis der sowjetischen Migrationspolitik in der abgelöst, nun vor allem aus Zentralasien. Die meisten Erkenntnis, dass sie auf etwas ausgerichtet war, dass Beobachter sind der Ansicht, dass eine weitere Immi- ich als »Folgsamkeit gegenüber dem Regime« bezeich- gration ethnischer Russen aus anderen postsowjetischen net habe, und zwar durch Schaffung einer bestimmten Staaten wohl kaum in großem Umfang stattfinden wird. Art Sowjetbürger, die sich in voller Harmonie mit den Angenommen wird auch, dass »nichteuropäische« Immi- Bedürfnissen des politischen Systems und den Ansprü- gration (aus Zentralasien und in der Zukunft vielleicht chen des Regimes befindet. zunehmend von außerhalb der ehemaligen UdSSR) ein permanentes Phänomen sein werde, auf das mit einer Neue Migrationsmuster im postsowjetischen staatlichen Politik zur erleichterten Erlangung eines Russland ständigen Wohnsitzes oder der Staatsbürgerschaft rea- In einigen meiner Veröffentlichungen habe ich die Ände- giert werden muss, und das das Entstehen einer stärker rungen in den Migrationsmustern und der jeweiligen multikulturellen Gesellschaft erfordert. Politik im frühen postsowjetischen Russland skizziert und analysiert. Zum einen öffnete die Abschaffung der Regionale Unterschiede sowjetischen Restriktionen für Auslandsreisen (eine Die rechtlichen Änderungen der postsowjetischen Zeit Politik, die in der Verfassung von 1993 und nachfol- haben auch den regulatorischen – lies: restriktiven – genden Gesetzen verankert wurde) bekanntermaßen die Charakter der Wohnsitzregistrierung formal abgeschafft. Schleusen für eine ständige oder aber vorübergehende Bürger Russlands und ausländische Staatsangehörige, Ausreise von Bürgern Russlands. Neben den »Diaspora- die sich legal in Russland aufhalten, haben nun theore- Minderheiten« sind Bürger mit unterschiedlichstem eth- tisch das umfassende Recht, sich im Land zu bewegen, nischen oder sozialem Hintergrund in großen Zahlen zu übernachten und Besuche zu unternehmen, wo sie emigriert. Viele andere, die ihren Hauptwohnsitz in wollen. Dieser Politikwechsel hat in Kombination mit Russland beibehielten, haben sich an ungehinderte Aus- der Privatisierung staatlicher Unternehmen und dem landsreisen zu geschäftlichen oder persönlichen Zwe- Ende der meisten Subventionen der Sowjetzeit zu einem cken (einschließlich Tourismus) gewöhnt. Nach einer massiven Anwachsen Moskaus geführt und (zusam- anfänglichen Welle während der Krisenjahre Anfang der men mit internationaler Migration) der Stadt und eini- RUSSLAND-ANALYSEN NR. 331, 03.03.2017 4 gen anderen Teilen von Russland einen sehr viel stärker multikulturellen Charakter verliehen; die Konzentration ethnischer Gruppen aus Zentralasien und dem Kau- kasus ist nun viel größer als zu Sowjetzeiten. Als logi- sche Folge haben Moskau und einige andere Städte nun einen viel größeren Anteil von Einwohnern, die zumin- dest formal muslimisch sind. Anderenorts haben diese Tendenzen zu einer Umkehr der sowjetischen Bevölke- rungsentwicklung geführt, etwa in Sibirien und dem Hohen Norden Russlands, die beide eine beträchtliche Abwanderung ihrer Bevölkerung erlebt haben. Wenn auch Russlands Migrationspolitik zweifellos liberalisiert wurde, indem sie nicht mehr dermaßen reg- lementiert und restriktiv war, so war sie dennoch davon entfernt als liberale Migrationspolitik bezeichnet zu wer- Werbetafel für Halal-Fleisch in einem Moskauer Markt den. Wie erwähnt, bestand für die Bewegungsfreiheit Foto: Matthew Light der Bürger Russlands der größte Gewinn darin, dass die Restriktionen bei der Ausreise wegfielen, was zumindest werden, oder im Gegenteil dafür, dass die Immigrati- bis vor kurzem in der Praxis wie auch formal Bestand onsvorschriften nicht angewandt oder Kontrollen der hatte. Bei der Binnenmigration wie auch bei der Immi- Arbeitskräfte nicht durchgeführt werden. Im gleichen gration ist die Lage weniger eindeutig. Ich habe darauf Zusammenhang ist der Unwillen vieler Vermieter zu hingewiesen, dass die Regionalregierungen in Russland sehen, Mietern eine Registrierung zu geben, weil sie de facto – und von der Zentralregierung toleriert – eine Scherereien und Erpressung durch die Behörden fürch- vielfältige, restriktive Politik betreiben, durch die die ten. Es gibt zwar Hinweise, dass diese Praktiken im tatsächliche Freizügigkeit sowohl von Ausländern als 21. Jahrhundert weniger extrem vorhanden sind, ver- auch von Bürgern Russlands eingeschränkt wird. Die schwunden sind sie jedoch nicht. Motive für eine derartige Politik sind erneut teils wirt- schaftlicher, teils (in mehrfacher Hinsicht) politischer Phasen der postsowjetischen Natur. Einige florierende Regionen – vor allem Mos- Migrationspolitik kau – haben versucht, die Registrierung neuer Residen- Die Forschung unterteilt die russische Immigrations- ten (und somit deren politische, soziale und sogar deren politik in verschiedene Phasen. Die 1990er Jahre zeitig- Vertragsrechte) zu beschränken, selbst wenn es sich um ten eine Politik im Staatsangehörigkeitsrecht, die nach Bürger Russlands handelt. Das erfolgte zum Teil aus allen internationalen Standards höchst großzügig war fiskalischen Überlegungen heraus: In Russland besteht und im Wesentlichen auf eine freie Immigration post- zwischen den Regionen ein Ungleichgewicht bei öffent- sowjetischer Staatsangehöriger nach Russland hinaus- lichen Leistungen, und Transferzahlungen aus dem Zen- lief. Daneben erfolgte die praktisch unkontrollierte Ein- tralhaushalt reichen nicht aus, die Kosten hierfür voll- reise von Bürgern postsowjetischer Staaten, die Arbeit ständig abzudecken, insbesondere in wohlhabenderen suchten, was zum Teil auf die rechtlichen Unklarhei- Regionen. Manchmal gibt es ethnische Motive für sol- ten hinsichtlich der Arbeitsrechte von nichtrussischen che Restriktionen. Moskau und einige andere Regio- Staatsangehörigen zurückzuführen war. In den frühen nen haben sich geweigert Angehörigen bestimmter eth- 2000er Jahren allerdings wurde das Staatsangehörig- nischer Gruppen einen Aufenthaltsstatus zu gewähren, keits- und Immigrationsrecht revidiert, um die Einwan- vor allem jenen aus dem Kaukasus und insbesondere derung zurückzufahren und die Arbeitsrechte von Aus- Tschetschenen. Und schließlich geht es bei der Ein- ländern einzuschränken. Durch diese neue Politik wurde schränkung der Registrierung einfach darum, die Sub- die Erlangung der Staatsbürgerschaft zu einem komple- jekte einer Kontrolle zu unterstellen. Wenn Niederlas- xen, mehrstufigen Prozess, bei dem zeitweilige und stän- sungsrechte beschnitten werden können, wird die Lage dige Aufenthaltsgenehmigungen Voraussetzung für eine einer Person (sei sie ein Ausländer oder ein Bürger Russ- Beantragung der Staatsangehörigkeit waren. Durch die lands) angreifbarer und erhöht auf allen Ebenen die Gesetze wurde es darüber hinaus wahrscheinlicher, dass Macht des Staates über ihn oder sie. Darüber hinaus der vorübergehende Aufenthalt und die Beschäftigung fördert eine restriktive Politik Korruption, und wird von Gastarbeitern Gesetze verletzt werden. Die Bürger ihrerseits von letzterer geprägt. Schmiergelder können der meisten postsowjetischen Staaten konnten zwar wei- bei der Ausstellung notwendiger Dokumente verlangt terhin visafrei nach Russland einreisen – im Gegensatz, RUSSLAND-ANALYSEN NR. 331, 03.03.2017 5 wert ist auch, dass diese Veränderungen von professio- nellen Demographen und anderen Sozialwissenschaft- lern vorgeschlagen wurden, und dass sich die russische Regierung als empfänglich für solche Ratschläge erwie- sen hat. Andererseits sind einige Aspekte der Immigra- tionspolitik nicht liberalisiert worden, und es hat bei den begrenzten, gerade beschriebenen Veränderungen wieder einige Rückschritte gegeben. Die Registrierung des ständigen Aufenthalts und der Staatsangehörigkeit ist immer noch ein extrem komplizierter Prozess, was darauf hinweist, dass die russische Regierung sich immer noch nicht an die Aussicht auf eine dauerhafte Immigra- tion gewöhnt hat, insbesondere jener durch Nichtslawen. Die Regierung hat auch ein kompliziertes und regional Anzeige für den Service, Zugezogenen bei ihrer Registrierung zu festzulegendes System von Beschäftigungsquoten einge- helfen. Diese Dienstleistungen beinhalten häufig Korruption. führt, die zum Teil den liberalisierenden Effekt zunich- Foto: Matthew Light tegemacht haben, der sich aus dem Übergang von den früher zwingend erforderlichen Beschäftigungsangebo- ist hier anzumerken, zu Menschen aus Lateinamerika ten zu Immigrationspatenten ergeben hatte. die in die USA wollen, oder zu Personen aus Nordafrika und dem Nahen Osten, die in die EU wollen –, doch Nationalismus und Informalität als gab es de jure oder de facto eine Reihe von Maßnahmen, Ursachen einer widersprüchlichen Politik durch die die Betroffenen tendenziell in die Illegalität Die Erklärung für diese widersprüchliche Politik umfasst getrieben werden, wenn sie auf Arbeitssuche eingetrof- eine Reihe von Faktoren. Zum einen hat Informalität, fen sind. Eine dieser Politiken betraf die Schwierigkeit, wie beschrieben, einen kriminellen Wert für Offizielle eine Registrierung des Aufenthalts zu erlangen, eine Vor- aller Ebenen, um rechtswidrige Renten mit Hilfe von schrift, die sowohl für Ausländer galt, als auch für Bürger Korruption abzuzweigen, aber auch, um leichter Kon- Russlands. Ein weiterer Aspekt bestand in dem Behar- trolle über eine Person zu erlangen: Russland ist somit ren darauf, dass von einem konkreten Arbeitgeber eine ein negatives Beispiel, das die Bedeutung durchsetzbarer Einladung zu erlangen ist, wobei dem Arbeitsmigranten Niederlassungs- und Migrationsrechte für die allgemeine hierfür eine nur sehr begrenzte Zeit eingeräumt wird. Rechtstaatlichkeit illustriert. Caress Schenk hat auf die Wiederum dürften viele Arbeitgeber nicht bereit sein, regionalen Beschäftigungsquoten verwiesen, mit denen – formale Arbeitsverträge abzuschließen, entweder, weil so aus politischen wie wirtschaftlichen Gründen – ein gewis- eine Ausbeutung der Arbeiter erleichtert wird, oder aus ses Maß an Illegalität bei Gastarbeitern erreicht werden Furcht vor Erpressung oder Druck seitens der Behörden. soll, wobei die politischen Gründe wiederum den allge- Seit Mitte der 2000er Jahre hat sich die Migrati- genwärtigen Unwillen auf allen Ebenen des Staates reflek- onspolitik Russlands erneut gewandelt, mit weiterer tieren, die Realität eines stärker multikulturellen und ins- Liberalisierung, stärkerer Restriktivität, fortgesetz- besondere verstärkt islamischen Russland zu akzeptieren. ten Verschiebungen bzw. einer Ungewissheit, die in Zu beachten ist aber, dass dies nicht als pauschale Kritik unterschiedlichen Bereichen zu Tage trat. Einerseits an der Gesellschaft in Russland gemeint ist. Russland ist beschloss die Zentralregierung Maßnahmen zur Legali- in der Tat immer eine multikulturelle Gesellschaft gewe- sierung wenigstens einiger Arbeitsmigranten. Zu diesen sen; und es ist in mancher Hinsicht systematischer mul- Maßnahmen gehörten eine Erleichterung der »vorüber- tikulturell als andere Industriestaaten, beispielsweise in gehenden Registrierung« für Gastarbeiter am Arbeitsort Politikbereichen wie dem offiziellen Schutz bestimmter wie auch am Wohnort. Darüber hinaus wurde ein neues Minderheitensprachen. Gleichwohl haben die Zentral- und international herausragendes System von »Patenten« regierung wie auch die Regierungen in vielen Regionen, geschaffen, über die Migranten praktisch periodisch so stellen es viele Wissenschaftler heraus, einen offiziel- Steuern für das Recht auf vorübergehende Beschäfti- len russischen Nationalismus kultiviert, nämlich ein Ver- gung in Russland zahlen. Eine solche Politik verweist ständnis der russischen Identität, das den Vorrang der rus- auf ein implizites offizielles Eingeständnis, dass massen- sischen Kultur und der orthodoxen Kirche betont, und hafte Illegalität im Zusammenhang mit Einwanderung die ethnisch oder kulturell andersgearteten Bürgern kühl und Arbeitsmigranten zu verstärkter Unordnung und oder gar feindselig gegenübersteht (ein eigentümliches Korruption führt und die Bürger verärgert. Bemerkens- Beispiel für diesen offiziellen Nationalismus ist die Politik, RUSSLAND-ANALYSEN NR. 331, 03.03.2017 6 mit der die Immigration der sogenannten »Landsleute« erleichterten Einwanderungsbedingungen und einer (sootetschestwenniki) gefördert werden soll; die »Lands- Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion leute« sind eine mehrdeutige Kategorie, die angeblich (EAWU) zu sehen. Diese Organisation soll postsowje- postsowjetische Staatsangehörige mit einer Affinität zur tische Staaten mit Russland integrieren und vermutlich russischen Kultur umfasst, vielleicht aber in Wirklich- deren Integration mit der Europäischen Union (oder keit ethnische Russen meint). Eine umfassende Reform gar eine Mitgliedschaft) ausschließen, also eine Ent- der Politiken zur Binnenmigration und zur Immigration wicklung, die aus russischer Sicht nicht hinnehmbar würde von dem Staat auf allen Ebenen verlangen, sich zu ist. Bürger postsowjetischer Staaten wie Kirgistan, die einem offiziellen Multikulturalismus und zu Toleranz zu der EAWU beigetreten sind, werden nun bevorzugten bekennen. Es würde darüber hinaus den Verzicht auf die Zugang zum russischen Arbeitsmarkt haben, anders als allgegenwärtige Informalität bedeuten, die viele Aspekte Bürger von Nicht-Mitgliedsstaaten. Fairerweise ist zu des gesellschaftlichen Lebens in Russland umfasst. sagen, dass dieses Instrument einer Konditionierung Beobachter wie Alena Ledeneva haben darauf verwie- internationaler Migrationsrechte durch politische und sen, dass diese Informalität – zum Teil manifestiert in internationale Integration auch in anderen Teilen der Netzwerken offiziell tolerierter Korruption – in der Tat für Welt kaum unbekannt sein dürfte: Tatsächlich stellen das Überleben des Regimes von essentieller Bedeutung sie eine Parallele zu einer ähnlichen Politik der Europäi- ist, da es Funktionäre auf regionaler und föderaler Ebene schen Union dar. Fragwürdiger ist vielmehr der Einsatz sowie Manager zementartig an den Kreml bindet. So lang von Methoden der Nötigung, um Staaten zum Beitritt das derzeitige Regime besteht, werden diese beiden Fak- zur EAWU zu bewegen, was weithin als ein Instrument toren – der offizielle Einsatz von russischem Nationalis- russischer Kontrolle über die postsowjetische Region mus und die allgegenwärtige Informalität –wohl wei- betrachtet wird. Interessant ist hier die Frage, in wel- terhin der Liberalisierung der Politik in den Bereichen chem Maße eine solche Nötigung durch einen autori- Immigration und der Binnenmigration Grenzen setzen. tären Staat möglicherweise einer tatsächlich liberalen Die Ambivalenz und Fragilität der postsowjetischen Migrationspolitik zum Aufstieg verhelfen könnte, die Liberalisierung wird auf unterschiedliche Weise auch auf Achtung der Menschenrechte und Rechtstaatlich- durch andere Entwicklungen in der russischen Politik keit beruht. illustriert. Seit 2008, als die wirtschaftliche Lage und die Diese Überlegung führt zu der grundlegenden Frage, Beziehungen zum Westen sich stark eingetrübt haben, was die postsowjetische Migrationspolitik Russlands im hat die Zentralregierung offensichtlich Überlegungen internationalen Vergleich heraushebt, oder eben auch angestellt, ob die totale Ausreisefreiheit eine kluge Sache nicht. Generell lässt sich sagen, dass die derzeitige Politik ist. So hat der Staat Angehörige der Polizei und des Mili- Russlands systemisch weniger Unterschiede zu den ent- tärs dazu verpflichtet, sich alle Auslandsreisen genehmi- sprechenden Politiken im Westen aufweist, als noch zu gen zu lassen, selbst die zu touristischen Zwecken. 2015– Sowjetzeiten: Der Staat hat zumindest formal bestimmte 2016, im Gefolge des Streits mit dem Erdoğan-Regime in Arten der Kontrolle über die eigenen Bürger abgeschafft Bezug auf die Syrien-Krise, erließ die Regierung ein de und er erkennt, dass in großer Zahl eine Einreise auslän- facto-Verbot für russischen Tourismus in die Türkei, die discher Staatsbürger stattfinden wird. Darüber hinaus für Bürger Russlands ein wichtiges Ferienziel gewesen wäre es zu einfach zu sagen, dass die Politik Russlands (in war. Dieser Eingriff in die persönlichen Reisemöglichkei- jeder Hinsicht) »repressiver« sei, auch wenn hier weiter- ten ist in der postsowjetischen Zeit beispiellos. Im Zuge hin beträchtliche Unterschiede zwischen der russischen einer noch bedrohlicheren Entwicklung hat die Regie- Politik und (zusammengefasst) der im Westen bestehen. rung eine neue Vorschrift erlassen, der zufolge alle Bür- Zutreffender wäre es, die Migrationsrechte hinsichtlich ger Russlands, die auch über eine ausländische Staats- der Mobilität nach, innerhalb und nun wohl aus Russ- angehörigkeit verfügen oder ihren ständigen Wohnsitz land als fragiler und schwächer als in den industriali- im Ausland haben, dies den russischen Behörden mel- sierten Demokratien zu bezeichnen. Informalität und den müssen und eine Unterlassung strafrechtliche Fol- fehlende Ordnung im Gegensatz zu schierer Repres- gen nach sich zieht. Wenn auch keiner dieser Schritte sion sind heute die Markenzeichen der Migrationspo- eine totale Abkehr von der postsowjetischen Ausreise- litik in Russland. freiheit bedeutet, so weisen sie doch auf eine Bereitschaft Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder hin diese, herunterzufahren; sie könnten ein offizielles Ausloten sein, wie viel Repression politisch möglich ist. Informationen über den Autor und Lesetipps finden Sie Ein weiterer Schritt in Richtung eines politischen auf der nächsten Seite. Migrationsmanagements ist in der Verknüpfung von RUSSLAND-ANALYSEN NR. 331, 03.03.2017 7 Über den Autor Matthew Light erlangte seinen Doktortitel in Politikwissenschaft 2006 an der Yale-Universität. Seit 2008 ist er an der Universität Toronto tätig, wo er gegenwärtig Associate Professor für Criminology and Sociolegal Studies ist. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Migrationspolitik, Polizeiwesen und die Strafjustiz in der postsowjetischen Region. Lesetipps • Light M.: Fragile Migration Rights: Freedom of Movement in Post-Soviet Russia, Abingdon, Oxon, New York, NY: Routledge 2016. • Schenk C.: Controlling Immigration Manually: Lessons from Moscow (Russia), in: Europe-Asia Studies, 65. 2016, Nr. 7, S. 1444–65. Grafik 1: Internationale Migration von und nach Russland 1997–2015 (Personen) 700.000 600.000 500.000 400.000 300.000 200.000 100.000 0 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 Immigration nach Russland 597.651513.551379.726359.330193.450184.612129.144119.157177.230186.380286.956281.614279.907191.656356.535417.681482.241590.824598.617 Emigration aus Russland 232.987213.377214.963145.720121.166106.685 94.018 79.795 69.798 54.061 47.013 39.508 32.458 33.578 36.774 122.751186.382310.496353.233 Quelle: Angaben von Rosstat <http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/migr2.xls, 1. März 2017> RUSSLAND-ANALYSEN NR. 331, 03.03.2017 8 Grafik 2: Zuwanderung nach Russland 2015 (Zehn wichtigste Zuwanderländer und »Andere«) Ukraine 32% Usbekistan 12% Andere Länder 10% Kasachstan China 11% 2% Tadschikistan Belarus 8% Armenien 3% Moldau 8% Aserbaidschan Kirgisien 6% 4% 4% Quelle: Angaben von Rosstat <http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/migr2.xls, 1. März 2017> Grafik 3: Migrationsbewegungen in Russland (Schätzung Frühjahr 2008) Immigration insgesamt: Ungefähr 7–8 Millionen (geschätzte Anzahl der Einreisen) 200.000 pro Jahr erlangen einen Wirtschaftliche / unternehmerische unbefristeten Aufenthaltstitel Immigration aus dem Westen: Vorübergehende Arbeitsmigration: mindestens 500.000 6–7 Millionen (jährliches Maximum aufgrund saisonaler Schwankungen) Genehmigt (mit Registrierung und Ohne Papiere: Arbeitserlaubnis): 2 Millionen pro rund 4–5 Millionen Jahr Haben eine Registrierung, aber Haben weder Registrierung noch keine Arbeitserlaubnis: 70% Arbeitserlaubnis: 30% Illegale Beschäftigung »Illegaler Aufenthalt« Quelle: Matthew Light RUSSLAND-ANALYSEN NR. 331, 03.03.2017 9 ANALYSE One way ticket oder vorübergehende Zuflucht? Flüchtlinge aus der Ukraine in Russland Irina Kuznetsova, Birmingham Zusammenfassung Russland hat Hunderttausenden Bürgern der Ukraine aus den Gebieten des bewaffneten Konflikts zeitwei- lige Zuflucht gewährt, die von dort fliehen mussten. Russland gewährt ihnen zwar keinen Flüchtlingsstatus, doch genießt diese Kategorie Migranten besondere Rechte. Der Diskurs zur Hilfe für die Flüchtlinge aus der Ukraine bewegt sich zwischen der offiziellen Rhetorik vom »Brudervolk«, Mitgefühl von Seiten eines Teils der Gesellschaft sowie negativen Haltungen bei Migrationsgegnern. Die Spaltung in der ukrainischen Gesellschaft und die Angst vor einer Rückkehr in die Heimat haben eine sehr große Zahl der Migranten dazu genötigt, in Russland zu bleiben, was im Kontext einer zukünftigen Politik zur Aussöhnung und Sta- bilisierung der Lage im Südosten der Ukraine zusätzliche Fragen aufwirft. Einführung files/documents/files/ukraine_humanitarian_needs_ Die jüngste Nachricht, dass Russland die von den Struk- overview_2017_eng.pdf>). Über 1,3 Millionen Men- turen der Separatisten in der Ostukraine ausgestellten schen sind zu Flüchtlingen geworden, von denen ein Pässe anerkennt, hat weltweit in den Medien Beachtung großer Teil in Russland (1,09 Millionen) und Belarus gefunden. Die Anerkennung von Ausweisen der Volks- (130.000) Zuflucht suchte (nach Angaben des UNHCR republiken Donezk und Luhansk sind der »Washing- von 2016). Rund 1,7 Millionen Menschen mussten in ton Post« vom 18. Februar 2017 zufolge »ein umstrit- andere Teile der Ukraine fliehen. Dem »Internal Displa- tener Schritt, der Moskau einer de facto-Anerkennung cement Monitoring Centre« zufolge weist die Ukraine der abtrünnigen Republiken näher bringt«. In Russland heute die weltweit achtgrößte Gruppe von Binnenflücht- wird das als eine »technische Frage« betrachtet, die in lingen (internally displaced persons, IDP) auf. Russland der Angleichung der Rechte von Migranten Von Beginn des bewaffneten Konfliktes an trafen aus diesem Teil der Ukraine dienen soll. »Etwas irgend- Tausende Flüchtlinge in Russland ein, organisiert – in wie Politisches kann ich hier nicht erkennen, von einer das Gebiet Rostow, wo sie in Übergangslagern unterge- Anerkennung kann hier keine Rede sein«, kommentierte bracht wurden –, wie auch eigenständig. Aus dem Gebiet der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Föde- Rostow wurden die Flüchtlinge nach einem Quotensys- rationsrates, Wladimir Dshabarow, den Erlass des Prä- tem in verschieden Regionen Russlands gebracht. Mos- sidenten (TASS, 18. 02. 2017). kau und St. Petersburg waren sehr bald für eine Regis- Der Erlass war zweifellos nicht »technischer«, son- trierung als zeitweiliger Flüchtling versperrt. Unter den dern politischer Natur. Allerdings lohnt sich ein Blick Personen, die als vorläufige Flüchtlinge anerkannt wur- aus einer anderen Richtung auf die politische Kompo- den, sind zu ungefähr gleich großen Teilen Männer und nente des Erlasses, indem wir nämlich die Frage betrach- Frauen sowie zu 70 Prozent Personen im erwerbsfähi- ten, wie es um die Lage der Flüchtlinge aus der Ukraine gen Alter und 23 Prozent Kinder unter 15 Jahren (Stand in Russland bestellt ist, und was für eine Zukunft vor vom 01. 01. 2016, laut der Statistikbehörde »Rosstat«) ihnen liegen könnte. Einer Erklärung der Leiterin der Hauptverwaltung für Migrationsfragen des russischen Innenministeri- Die soziale und rechtliche Situation der ums, Olga Kirillowa, zufolge halten sich derzeit rund Flüchtlinge aus der Ukraine in Russland 2,5 Millionen Bürger der Ukraine in Russland auf, von Der bewaffnete Konflikt zwischen der international denen rund eine Million aus dem Südosten der Ukraine nicht anerkannten »Volksrepublik Donezk« (DNR) und stammen. Von diesen wiederum haben 442.000 um der »Volksrepublik Luhansk« (LNR) einerseits sowie der »zeitweilige Zuflucht« (wremennoje ubeshischtsche) nach- Zentralregierung der Ukraine andererseits hat den süd- gesucht; 411.000 haben eine vorübergehende Niederlas- östlichen Teil der Ukraine an den Rand einer humani- sungserlaubnis beantragt, über 230.000 wollten in das tären Katastrophe gebracht. Seit dem April 2014 sind »Staatlichen Programm zur Förderung der freiwilligen über 9.700 Menschen umgekommen und eine Vielzahl Umsiedlung von im Ausland lebenden Landsleuten in von Schulen und Infrastrukturobjekten zerstört worden die Russische Föderation« aufgenommen werden und (UN OCHA: Humanitarian needs overview Ukraine, 175.000 haben ihre Unterlagen zum Erhalt der russi- 2017; <https://www.humanitarianresponse.info/system/ schen Staatsangehörigkeit eingereicht (4. Januar 2017, RUSSLAND-ANALYSEN NR. 331, 03.03.2017 10 Pressekonferenz des Innenministeriums). Unter den Per- land lebenden Landsleuten in die Russische Föderation«, sonen, die im Jahr 2015 die russische Staatsangehörig- eine Niederlassungserlaubnis erhalten, ohne vorher eine keit erlangten, waren zu einem Drittel ehemalige Bür- Aufenthaltserlaubnis ausgestellt bekommen zu haben. ger der Ukraine. Die Niederlassungserlaubnis bedeutet unter anderem Auch wenn Russland diese große Anzahl Flücht- ein Recht auf Altersversorgung, das Recht, den Wohn- linge aufgenommen hat, wird deren Status meist ent- ort zu wechseln, Wahlrechte, das Recht auf Einstellung weder als »Personen, die zeitweilige Zuflucht erhalten ohne Vorlegen einer Arbeitserlaubnis und das Recht auf haben« eingestuft, oder aber in seltenen Fällen als »Ver- Hypothekendarlehen. triebene« (wynushdjonnyje pereselenzy). Den Status eines Als weitere Bevorzugung von Flüchtlingen aus den »Flüchtlings« (beshenez) haben zwischen 2014 und 2016 Konfliktgebieten in der Ukraine hinsichtlich ihres lediglich 688 Personen aus der Ukraine erhalten (Anga- rechtlichen Status ist zu nennen, dass ihnen der Sta- ben von »Rosstat«). tus »zeitweilige Zuflucht« für ein ganzes Jahr gewährt Wie viele Flüchtlinge aus der Ukraine gibt es in Russ- wird, während ukrainische Staatsangehörige aus ande- land tatsächlich? Diese Frage ist mit Hilfe der offiziellen ren Regionen der Ukraine sich seit November 2015 nur Statistiken nicht zu beantworten. Nach dem Zerfall der 90 Tage innerhalb eines halben Jahres ohne entspre- UdSSR ist Russland aufgrund der Visafreiheit, der stark chende Genehmigung in Russland aufhalten dürfen. Bei entwickelten sozialen Bindungen und fehlender Sprach- der Ausstellung der Ausweise für Personen, die zeitwei- barrieren eines der häufigsten Ziele für Arbeitsmigranten lige Zuflucht erhielten, wird der ukrainische Pass ein- aus der Ukraine gewesen. Daher ist die Entscheidung behalten. Das führt dazu, dass viele Flüchtlinge nicht für Russland als Zufluchtsland auch dadurch diktiert nach Hause fahren können, um noch Unterlagen zu worden, dass die Menschen beim Beginn der Kampf- holen, Verwandte zu besuchen oder nachzuschauen, ob handlungen entweder sich bereits zur Arbeit in Russland ihr zurückgelassenes Hab und Gut unversehrt ist. befanden oder aber wussten, wohin sie fahren können. Unsere Studie hat ergeben, dass Flüchtlinge aus der Da die Dokumente für eine »zeitweilige Zuflucht« Ukraine trotz dieser günstigen Vorschriften oft den glei- ständig verlängert werden müssen, schreckten viele chen Problemen begegnen, wie die anderen Migranten: Flüchtlinge vor dieser Ungewissheit zurück und woll- Bürokratie, Unklarheit und Ambivalenz des Quoten- ten nicht nach Hause zurückkehren, selbst wenn ihre systems und der Arbeitsbeschaffung. Stadt wieder unter die Kategorie »ungefährlich« fällt. Unsere Studie hat ergeben, dass viele dieser Personen Warum Russland? lieber um eine Arbeitserlaubnis nachsuchen oder aber Unserer Studie hat festgestellt, dass bei der Entscheidung inoffiziell zu arbeiten begannen und für längere Zeit für Russland als Zufluchtsland folgende Gründe eine im Lande blieben. Rolle spielten: 1) jemand hat Verwandte oder Freunde in Seit Beginn des Konflikts hat die Ukraine die Aus- Russland; 2) Notevakuation mit Hilfe russischer huma- stellung von Dokumenten für Bewohner der »Volksre- nitärer Stellen aus dem Gebiet der Kampfhandlungen; publiken« in der Ostukraine eingestellt. Die meisten 3) wirtschaftliche Motive (Hoffnung, eine Arbeit zu fin- dieser Bewohner trafen in Russland mit Dokumen- den); 4) Sorge um die persönliche Sicherheit (Furcht vor ten der DNR oder der LNR ein. Dieser Umstand hat Gerichtsverfahren in der Ukraine; Furcht vor Diskri- die Feststellung ihres rechtlichen Status komplizier- minierung); 5) russische Staatsangehörigkeit bei einem ter gemacht, weil sie dadurch unter die Kategorie der der Familienmitglieder. Migranten ohne Papiere fallen, was nicht selten zu einer Die Haltung gegenüber Leuten aus den Aufstandsge- Abschiebung führt. In anderen Fällen hatten die Flücht- bieten in der Ukraine ist oft ambivalent. Studien, die in linge zwar einen ukrainischen Pass, aber Bildungsnach- der Ukraine durchgeführt wurden, haben in der Bevöl- weise, die von den Stellen der Aufständischen ausgestellt kerung ein Misstrauen festgestellt, dass Leute aus dem waren. Dann hatten sie Probleme eingestellt zu werden Donbass die Separatisten unterstützen könnten. Von oder sich an einer Hochschule oder einem College zu Spaltungen sind auch Familien betroffen. So verwei- immatrikulieren. gerten ukrainische Verwandte einer der Interviewten Im Mai 2016 wurde ein Gesetz verabschiedet, das ihre Hilfe: »Was denn, hat man dort noch nicht alle von für Flüchtlinge und Personen, die in Russland zeitwei- euch umgebracht? Haben euch die Separatisten noch lige Zuflucht erhalten hatten, den Erhalt einer Niederlas- nicht beschossen?« (Frau, 24 J.). Die Frau fuhr letztend- sungserlaubnis erleichtert (Föderales Gesetz Nr. 129-FZ lich zu entfernten Verwandten nach Kasan (Tatarstan). vom 1. Mai 2016). Nun können diese Personenkatego- Eine ähnliche Geschichte hat ein anderer Gesprächspart- rien, wie auch Teilnehmer am »Staatlichen Programm ner erlebt: »Hier [in Russland] haben wir Verwandte in zur Förderung der freiwilligen Umsiedlung von im Aus- Tatarstan. Sie haben darauf bestanden, dass wir kom-

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Sergey Medvedev, Berlin. □□ CHRONIK. 17. bestimmte andere Städte, die besser mit knappen Gütern Zum einen ist die Quote einer erfolgreichen Verabschiedung als Gesetz bei solchen Initiativen nicht hoch. Allerdings.
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