NR. 299 03.07.2015 russland- analysen http://www.laender-analysen.de/russland/ RUSSISCHE WIRTSCHAFT ■■ANALYSE Lange Phase der wirtschaftlichen Stagnation wahrscheinlich 2 Gunter Deuber und Andreas Schwabe, Wien ■■ANALYSE Inlandsinvestitionen und »deofschorisazija« – ein Paradigmenwechsel in der russischen Finanzpolitik? 9 Ewa Dąbrowska, Amsterdam/Berlin ■■ANALYSE Russlands politische Antwort auf die »economic statecraft« des Westens 14 Richard Connolly, Birmingham ■■UMFRAGE Meinungen zur Wirtschaftskrise 18 ■■AUS RUSSISCHEN BLOGS Das Petersburger Wirtschaftsforum. Überwindung der Isolation Russlands? 20 ■■NOTIZEN AUS MOSKAU Strangulierte Medienöffentlichkeit in Russland 22 Jens Siegert, Moskau ■■CHRONIK 18. Juni – 1. Juli 2015 25 ► Deutsche Gesellschaft Forschungsstelle Osteuropa für Osteuropakunde e.V. an der Universität Bremen Die Russland-Analysen werden unterstützt von RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 2 ANALYSE Lange Phase der wirtschaftlichen Stagnation wahrscheinlich Gunter Deuber und Andreas Schwabe, Wien Zusammenfassung Der Wachstumsausblick für Russlands Wirtschaft hat sich bereits vor der Ukraine-Krise auf Grund struk- tureller Limitationen verschlechtert. Verstärkt wird dieser Trend nun durch nicht zu unterschätzende Fol- gen der Ukraine-Krise auf die Einbettung Russlands in die Weltwirtschaft. Angesichts limitierter Investiti- onsspielräume droht nun eine Phase der Stagnation. Einige Wirtschaftsakteure üben Kritik an der aktuellen wirtschaftlichen Ausrichtung, etliche heimische und ausländische Akteure setzen noch auf eine rasche Er- holung. Daher sind die Folgen einer »säkularen Stagnation« nicht zu unterschätzen. Die russische Wirtschaft im Abwärtstrend ist Russland seit 2014 fast komplett ausgeschlossen; lau- Das Wirtschaftswachstum Russlands war schon vor fende Auslandsschulden der Firmen und Banken werden 2014 und 2015 in einem Abwärtstrend. Letzterer hat zurückgezahlt. Der Anteil neuer Großgeschäfte mit Russ- seine Ursachen im Zusammenspiel zahlreicher struktu- land-Bezug auf dem globalen Finanzmarkt, die einem reller Faktoren. Zu nennen sind die Grenzen des auf Roh- stoffexport basierenden Wachstumsmodells, ein gemes- Grafik 2: Russische Wachsstumsschwäche begann sen am institutionellen Umfeld hoher Wohlstand, eine bereits vor dem Ukrainekonflikt gescheiterte Modernisierung, begrenzte Entfaltungs- räume des privaten Sektors, eine ineffiziente regionale 12 80 Faktorallokation bzw. Verspannungen am Arbeitsmarkt, 9 60 zu hohes Lohnwachstum in Relation zum Produktivi- 6 40 tätsfortschritt sowie zu geringe Investitionen bei hohem 3 20 Kapitalexport. Angesichts solcher Barrieren und Limi- 0 0 tationen hat sich Russland in den letzten Jahren von -3 -20 anderen großen aufstrebenden Ökonomien abgekop- -6 -40 pelt. Verstärkt wird dieser Trend nun durch nicht zu -9 -60 unterschätzende unmittelbare und mittelbare Auswir- -12 -80 kungen der Ukraine-Krise auf die Einbettung Russlands in die Weltwirtschaft. Grafik 1: Russlands globale wirtschaftliche Bedeutung Ölpreisänderung (Prozent ggü. Vorjahr) BIP- Veränderung (Prozent ggü. Vorjahr) 6,0 5,0 O Bis zur Finanzkrise 2008/2009: Starkes Wachstum; O Be- 4,0 reits 2012/2013: Wachstumsschwäche trotz hoher und stabiler Ölpreise über 100 Dollar; * Q2 2015 Schätzungen der Autoren 3,0 Quelle: Reuters, Rosstat, RBI/Raiffeisen RESEARCH 2,0 2 4 6 8 0 2 4 6 8 0 2 4 6 8 0 9 9 9 9 0 0 0 0 0 1 1 1 1 1 2 breiten Investorenkreis angeboten werden, hat 2015 ein 9 9 9 9 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 1 1 1 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 Allzeit-Tief erreicht. Investoren ziehen sich nach Jahren Russland Anteil am globalen BIP (%)* der Öffnung aus russischen Staatsanleihen zurück. Ger- man Gref, Geschäftsführer der »Sberbank«, hat die Lage Deutschland Anteil am globalen BIP (%)* auf dem Petersburger Wirtschaftsforum schonungslos * gerechnet zu Kaufkraftparitäten benannt. Er erklärte: Der Zugang zu westlichen Finanz- märkten ist für Russland essentiell, und asiatische Finanz- Quelle: IWF, RBI/Raiffeisen RESEARCH märkte bieten auf kurze und mittlere Sicht keine hinrei- Derzeit brechen internationale Bankfinanzierungen chenden Optionen. Er sieht sein Land nun in einer harten mit Russland-Bezug ebenso stark ein wie in der Krise Anpassungsphase. Zudem legen Studien über Effekte 2008/2009, allerdings in einem nun deutlich besseren von Sanktionen nahe (siehe die Beispiele Südafrika und globalen Umfeld. Von internationalen Finanzierungen Iran), dass die derzeitigen Entwicklungen in Russland RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 3 Grafik 3: Russland: Internationale grenzüberschreiten- rie eine sogenannte »säkulare Stagnation« drohen. Solch de Bankfinanzierungen (Mrd. US-Dollar)* ein Szenario ohne oder mit nur schwachem Wachstum, bei niedriger bzw. moderater Inflation und niedrigen 240 Realzinsen, ist in geschlossenen Ökonomien mit rela- 220 tiv hohem Pro-Kopf-Einkommen möglich. Reale BIP- 200 Zuwachsraten von unter zwei Prozent stellen in einer 180 Ökonomie wie Russland gleichsam eine Stagnation dar. 160 Zuwachsraten dieser Ordnung – weit unter den vom 140 Präsidenten auf dem Petersburger Wirtschaftsforum 120 in den Raum gestellten und anvisierten 3,5 Prozent 100 an mittelfristigem Zuwachs – reichen nicht aus, um 80 im Vergleich zu anderen aufstrebenden Ländern, aber 60 8 9 0 1 2 3 4 auch zu den Industrienationen, den Wohlstand anzuhe- 0 0 1 1 1 1 1 n n n n n n n ben. Russlands Pro-Kopf-Einkommen zu Kaufkraftpa- a a a a a a a J J J J J J J ritäten könnte so auf mittlerem Niveau, bei 65 Prozent * alle weltweit an die BIS berichtende Bankensektoren der EU bzw. 55 Prozent des Niveaus in Deutschland, Quelle: Bank für Internationalen Zahlungsgleich (BIZ), RBI/ »steckenbleiben«. Unterstützt wird das Szenario einer Raiffeisen RESEARCH »säkularen Stagnation« von der Tatsache, dass kaum erst der Beginn der negativen Folgen von länger anhal- Wachstumstreiber in Sicht sind und aktuelle wirtschafts- tenden Sanktionsregimen sind, vor allem auf die Investi- politische Strategien wenig nachhaltige Wachstumsim- tionstätigkeit. Zudem nimmt Umfragen zufolge die Hoff- pulse versprechen. nung auf ein baldiges Ende der westlichen Sanktionen zusehends ab. Dies passt zu empirischen Studien, wel- Rohstoffboom und Modernisierung über che eine lange Dauer von Sanktionsregimen (vor allem Megaprojekte kaum wiederholbar gegen große Länder) nahelegen. In das Gesamtbild fügen In der letzten Dekade profitierte Russland von einem sich die jüngsten Sanktionsverlängerungen ein (durch globalen »Rohstoffsuperzyklus«, der den Ölpreis von die EU um sechs Monate, auf russischer Seite gleich um 10–20 US-Dollar auf über 100 Dollar trieb, sowie von 12 Monate). einem Ausblick auf unbegrenzten Rohstoffhunger der aufstrebenden Volkwirtschaften. Beide Megatrends Grafik 4: Internationale Kapitalmarktfinanzierungen haben sich abgeschwächt, der Ölpreis sollte sich ange- mit Russland-Bezug (Milliarden US-Dollar) sichts aktueller Markttrends und Prognosen nur moderat erholen bzw. in den kommenden Jahren um Niveaus von 60 60–80 US-Dollar pendeln. Ohne fortwährende massive 50 Rohstoffpreissteigerungen liegt das geschätzte Wachs- tumspotenzial der russischen Wirtschaft bei 1–2 Pro- 40 zent. Die mittelbaren fiskalischen Implikationen eines 30 solchen Szenarios ohne Rohstoffpreisboom dürfen eben- 20 falls nicht unterschätzt werden. Dies vor allem vor dem Hintergrund der vorherrschenden fiskalischen Ideolo- 10 gien. In Russland gibt es aufgrund der Erfahrungen 0 der 1990er Jahre eine ideologische Abneigung gegen- 3 4 5 6 7 8 9 0 1 2 3 4 * 00 00 00 00 00 00 00 01 01 01 01 01 15 über hohen schuldenfinanzierten Defiziten sowie der 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 2 0 2 Monetisierung von Staatsschulden (also »Staatsschul- * 2015er Zahlen annualisierte Daten für das erste Quartal 2015 denfinanzierung durch die Notenpresse«). Damit ist Quelle: Bloomberg, RBI/Raiffeisen RESEARCH eine schuldenfinanzierte Ausgabenpolitik – angesichts der Staatschulden von 12 Prozent des BIP gäbe es Spiel- Strukturelle Limitationen, eine derzeit zurückgehende raum – unwahrscheinlich. Der Staat verfügt sogar noch Einbettung in globale Kapitalströme sowie sich ver- über fiskalpolitische Puffer in Form von zwei Reserve- schlechternde Erwartungen in Bezug auf eine solide fonds (in die Haushaltsüberschüsse aus dem Rohstoff- Wirtschaftsentwicklung legen nahe, dass Russland auf boom auf die Seite gelegt werden) in Höhe von 9 Pro- eine Stagnation zuläuft, sollten die Rahmenbedingun- zent des BIP. Um die fiskalischen Puffer allerdings in gen unverändert bleiben. Nach der aktuellen Rezes- einem nennenswerten Umfang zu erhalten, sollten diese sion kann dem Land gemäß der ökonomischen Theo- nicht über das in der Krise 2014/2015 vorgesehene Volu- RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 4 men von bis zu 4–5 Prozent des BIP hinaus angezapft talpuffern. Auch das Einlagenwachstum schwächt sich werden. Die fiskalischen Puffer sind ein zentraler Anker, ab, was angesichts limitierter internationaler und ein- um das Investorenvertrauen und die Länderrisikoein- heimischer Refinanzierung (ausgenommen Notenbank- schätzung Russlands nicht noch weiter sinken zu lassen. finanzierung) ebenso den Spielraum begrenzt. Zudem Angesichts der ideologischen und faktischen Limitatio- müssen sich viele russische Firmen nun auf dem ein- nen sind die fiskalischen Optionen Russlands eindeu- heimischen Markt in Rubel finanzieren. Hier sind die tig begrenzt, was den Wachstums- und den staatlichen Zinsen höher als auf den internationalen Märkten. Der Investitionsspielraum einengt. Dies gilt auch für soge- Prozess des internationalen Schuldenabbaus bzw. der nannte »Leuchtturm-« oder Megainvestitionsprojekte, Substitution durch inländische Finanzierung – soweit mit denen bisher versucht wurde, die Investitionstätig- keit zu stützen, die im Vergleich zu erfolgreichen auf- Grafik 5: BIP-Wachstum vs. Kreditwachstum (%) strebenden Ökonomien bei niedrigen 20 Prozent des BIP liegt. 55% Verschuldung im Privatsektor nicht mehr 35% niedrig – Deleveraging angelaufen1 Lange war der Bankensektor ein Katalysator des Wachs- 15% tums in Russland. Über eine Dekade lang haben die Kredite viel stärker zugelegt als die Wirtschaftsleistung, -5% 9012345678901234 die Relation »Kredite zu BIP« stieg von 2000 bis 2014 – 9000000000011111 9000000000000000 1222222222222222 auch in Zeiten starken BIP-Wachstums – von ca. 10 auf Kreditwachstum (% gg. Vorjahr) 60 Prozent an. Solch ein Anstieg des Verschuldungsgra- des, ausgehend von einem niedrigen Niveau, wirkt sich Nominales BIP-Wachstum (% gg. Vorjahr)* durch Rückkoppelungseffekte positiv auf das Wachstum * Reales BIP-Wachstum + Konsumentenpreisinflation aus. Hohes Kreditwachstum kann so kurz- bis mittelfris- Quelle: nationale Quellen, CBR, Weltbank, RBI/Raiffeisen tig ein BIP-Wachstum unterstützen – auch über Poten- RESEARCH zialwachstum, wie in Russland in den letzten Jahren. Die in so einem Prozess vergebenen Kredite sind aber möglich – erklärt auch, warum die Auslandschulden immer eine Wette auf eine weiterhin positive Zukunft. des privaten Sektors derzeit fallen, während die Schul- Insofern stellen die negative Wirtschaftsentwicklung der den bei heimischen Banken noch zunehmen. Allerdings letzten Quartale sowie der schwache Ausblick Kredit- sind bei lokal vergebenden Krediten die Laufzeiten kür- nehmer und -geber kurz- und mittelfristig vor Heraus- zer, was vor allem Projekt- und Investitionsfinanzie- forderungen. Und durch den starken Anstieg der Kre- rungen erschwert. Dies ist im aktuellen Umfeld weni- dite seit dem Jahr 2000 kann Russland nun nicht mehr ger problematisch, aber mittelfristig ein Engpassfaktor. als Volkswirtschaft mit niedriger Finanzintermediation Insgesamt wird der russische Bankensektor unter den gelten. Des Weiteren sind angesichts der Rubelschwäche aktuellen Rahmenbedingungen kaum einen Anschub bei Fremdwährungskrediten Kreditschuld und Rück- zu solidem Wirtschaftswachstum geben können. Ange- zahlungsraten gestiegen. Angesichts des Anstiegs von sichts zunehmender Herausforderungen agieren auch in Zinsen und Risikoprämien auf dem russischen Banken- Russland tief verwurzelte westliche Auslandsbanken vor- markt lässt sich nun ohnehin nur eine geringere Kredit- sichtig bzw. haben Expansionsstopps oder Reduktions- last tragen. Der Spielraum zur Neukreditvergabe, ohne pläne angekündigt. Zumal 70 Prozent der Bankaktiva hohe Kreditrisiken, ist damit fundamental limitiert. Es einen Moskau- und St. Petersburg-Bezug haben und könnte sogar eine Phase bevorstehen, in der die Kredite die aktuelle und erwartete Wirtschaftslage für die dort geringer zulegen als die Wirtschaftsleistung. ansässigen wohlhabenderen Privatkunden und oft inter- Des Weiteren kämpfen russische Banken mit weiteren national tätigen Firmenkunden besonders hohe Heraus- kurzfristigen Limitationen. Die Marktturbulenzen der forderungen mit sich bringt. letzten Monate sowie die rapide steigende Menge not- leidender Kredite zehren an Rücklagen und Eigenkapi- Explizite »Weichwährungspolitik« keine Option 1 Deleveraging – von Banken oder Unternehmen vorgenom- Empirisch gesehen waren viele Ökonomien (Indus- mene Substitution von Fremdkapital durch Eigenkapital bzw. trie- oder Entwicklungsländer) erfolgreich, die ihren die Reduktion von Fremdkapital, wodurch eine Verminderung Exportsektor bzw. dessen preisliche oder qualitative der Verschuldungsposition (Leverage) und damit des eingegan- genen Risikos erreicht wird; d. Red. Wettbewerbsfähigkeit gezielt gestützt haben. Vor allem RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 5 der nominale bzw. reale Wechselkurs ist eine zentrale sche Wirtschaftsakteure. Wie bereits beschrieben, treibt Stellschraube der preislichen Wettbewerbsfähigkeit, die eine zu starke und rasche Rubelabwertung so (bei noch zudem rasch wirken kann. Diesen Ansatz hat Russland im Boom vor 2008 verfolgt, als die Behörden versuch- Grafik 6: Reale Wechselkursentwicklung stark vom ten, den Rubel nicht zu stark werden zu lassen, um die Ölpreis getrieben sogenannten »holländische Krankheit« zu vermeiden. Insofern hat die massive nominale Rubel-Abwertung 160 der letzten 12–18 Monate um kumuliert 30 Prozent die 140 Wettbewerbsfähigkeit erhöht. Der reale Wechselkurs, 120 100 der von 2009 bis 2013 um 20 Prozent angestiegen war, 80 ist um 30 Prozent gefallen, was ihn auf das Niveau von 60 2005 zurückwirft. Daher ist es kein Zufall, dass einige 40 heimische oder internationale Produzenten, die bisher 20 auf den Heimatmarkt fokussiert waren, sich nun im 0 Export versuchen. Einigen internationalen Investoren 2 4 6 8 0 2 4 6 8 0 2 4 9 9 9 9 0 0 0 0 0 1 1 1 ist es gelungen, beim aktuellen Rubelkurs erfolgreich n n n n n n n n n n n n u u u u u u u u u u u u aus Russland heraus zu exportieren. Daher ist es nach- J J J J J J J J J J J J vollziehbar, dass die Notenbank sich unlängst gegen Rohölpreis (US Dollar per Barrel) eine zu starke Rubel-Erholung stemmte. Der preisliche Realer handelsgewichtet. Wechselkurs (VPI basiert, 2005=100) Entlastungseffekt durch die nominale Rubel-Abwertung sollte aber auch nicht überschätzt werden. Der durch Realer Wechselkurstrend (4,5 % Anstieg ggü. Vorjahr) die Abwertung ausgelöste Inflationsanstieg schlägt par- Quelle: Reuters, OECD, BIS, Raiffeisen RESEARCH tiell auf die Nominallöhne durch, so dass der Rubel real wieder aufgewertet wird und Russland also wieder etwas vorhandenen substantiellen Importabhängigkeiten) auch an preislicher Wettbewerbsfähigkeit einbüßt. die Inflation und Lohnentwicklung nach oben. Insofern Mittelfristig könnten neben Exporteuren auch offi- müssten erst die Importabhängigkeiten substanziell redu- zielle Akteure ein Interesse an einem schwachen Rubel ziert werden, um mehr Abwertungsspielraum zu schaffen. haben. Der Staatshaushalt und einige staatsnahe Fir- men profitieren tendenziell von einer moderaten Rubel- Importsubstitution mit wenig schwäche, da hier ein Großteil der Einnahmen fremd- Wachstumspotenzial währungsabhängig ist, auf der Ausgabenseite aber der Derzeit gibt es einen politischen Hype um die soge- Rubel dominiert. Ein schwächerer Rubel vermindert nannte Importsubstitution, die allerdings auch aus auch bei niedrigeren Energiepreisen Einnahmeverluste der Not geboren ist. Ölpreisverfall, Rubelabwertung, »auf dem Papier«, so dass Staatsausgaben (z. B. Sozial- erschwerter Kapitalmarktzugang, Sanktionen und ausgaben) weniger stark sinken müssen, als wenn der Gegensanktionen belasten die Importe ohnehin mas- Ölpreiseffekt voll durchschlagen würde. Die Möglich- siv. Die Importe sind in den ersten Monaten in 2015 keit, vordergründig Transfereinkommen hoch zu hal- um 35–40 Prozent zurückgegangen. Zudem lässt sich ten ist im aktuellen politischen Setting von besonde- der Fokus auf die Importsubstitution auch damit erklä- rer Bedeutung. Die Staatsmittel verlieren aufgrund der ren, dass so westlichen Firmen eine sinkende Markt- Kursschwäche und der höheren Inflation allerdings an präsenz droht. Kaufkraft, so dass eine Ausgabenkürzung durch die Bis zu einem gewissen Grad ist die Debatte um Hintertür erfolgt. Importsubstitution positiv. So wird eine aktivere Zudem haben die letzten Monate die Risiken eines Industriepolitik gefördert. Allerdings ist der Fokus auf schnellen und starken Rubelverfalls für das Vertrauen, Importsubstitution auch kritisch zu beurteilen. Ein- das Investitionsklima und vor allem für den Bankensek- griffe zum Schutz einheimischer Firmen können »nur« tor aufgezeigt. Bei größeren Privatbanken machen die auf dem (begrenzten) Heimatmarkt zu verbesserten US-Dollarkredite etwa 40 Prozent der Kredite aus, bei Bedingungen führen. Letzteres ist der Kern des soge- den großen Staatsbanken sind es immerhin knapp über nannten »Infant Industry«-Arguments, erscheint aber 20 Prozent. Insofern erscheint eine Ausrichtung, die auf angesichts des schwachen Wirtschaftsausblicks in Russ- eine prononcierte »Weichwährungspolitik« abzielt, wenig land wenig attraktiv. Eine Importsubstitutionsstrate- zielführend. Sie bringt in einer teilweise dollarisierten gie erscheint daher derzeit weniger erfolgsversprechend und von Kapital- und Konsumgüterimporten abhängi- als etwa eine Exportförderungsstrategie. Des Weiteren gen Ökonomie wie Russland auch Nachteile für heimi- ist zu hinterfragen, warum im Kontext einer staatszen- RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 6 trierten Importsubstitution in Russland nun Investitio- dings verspricht die Hinwendung nach Asien, kein mas- nen getätigt werden sollen, die vorher nicht erfolgten. siver Wachstumstreiber für Russland zu sein. Es geht Ohne massive Investitionen ist eine umfassende Import- eher um eine strukturerhaltende Umlenkung bei Ener- substitution – besonders außerhalb des Agrarbereichs – gieexporten von Westeuropa nach Asien (soweit tech- angesichts der bereits hohen Auslastung bestehender nisch und wirtschaftlich möglich), als um die Erschlie- Kapazitäten sowie der zunehmenden Überalterung des Kapitalstocks aber unrealistisch. Im Sinne der faktischen Grafik 7: Rezession trifft die meisten Industriebran- Limitationen für eine umfassende Importsubstitution ist chen (Veränderung in Prozent, ggü. Vor- zu betonen, dass bisher etwa 40 Prozent der russischen jahreszeitraum) Importe westliche Maschinen/Anlagen bzw. Techno- logie darstellten, die kurz- bis mittelfristig schwer sub- Industrieproduktion (gesamt) -2,2 darunter: stituierbar sind. Ohne tiefgreifende Strukturreformen Verarbeitendes Gewerbe (gesamt) -4,3 und eine Verbesserung des Investitionsklimas erscheint darunter: Lebensmittel eine Importsubstitution insgesamt kaum erfolgsverspre- 0,9 Textilprodukte -19,3 chend. In Japan und Südkorea konnte eine Importsub- Leder -19,8 stitution auf Boom-Märkten und bei Strukturreformen Holz -2,3 Papier und Druck -14,7 positive Effekte erzeugen, während viele lateinamerika- Mineralölerzeugnisse 1,2 nische Länder – ohne Reformen – mit solchen Strate- Chemieerzeugnisse 8,8 Gummi und Plastik gien wenig erfolgreich waren bzw. langfristig stagnierten. -4,0 Nicht-metallische Mineralprodukte -4,2 Metalle und Metallprodukte -6,1 Investitionsklima und internationales Maschinen- und Anlagenbau -14,1 Elektrotechnik Investorenvertrauen am Boden -9,1 Transportmittel -14,8 Den zuvor genannten Strategien (Importsubstitution Anderes-19,9 oder Exportförderung) ist gemein, dass sie Finanzie- -25 -20 -15 -10 -5 0 5 10 15 2013 (Gesamtjahr) rung und Investitionen erfordern. Hier geht es um ein- 2014 (Gesamtjahr) 2015 (Jan-Mai, zum Vorjahreszeitraum) heimische Investitionsaktivität und/oder Ausländische Direktinvestitionen (ADI). Gefördert werden kann eine Quelle: Reuters, Rosstat, RBI/Raiffeisen RESEARCH Importsubstitution eben auch durch den Eintritt auslän- discher Akteure in den Markt bzw. Kapital- oder Know- ßung neuer Märkte mit neuen Exportprodukten. Eher how-Transfer im Rahmen von Joint Ventures. Auch scheint es, dass China weiter erfolgreich seinen Anteil für eine Exportförderung sind ADI oder Joint Ventu- an den Importen in Russland ausbauen wird, was kein res meistens ein zentrales Element. Allerdings befindet Wachstum für Russland bedeutet und nur begrenzte sich derzeit die Einschätzung des Investitionsklimas Möglichkeiten der Substitution von westlichen Tech- durch einheimische oder internationale Akteure, auch nologien bietet. Und trotz aller Bekundungen ist das durch solche, die in Russland schon lange präsent sind, derzeitige Engagement Chinas in Form von bereits vor- auf einem Tiefpunkt. Vor allem bei den ausländischen handenen ADI oder der Präsenz chinesischer Banken Akteuren ist eine schnelle Kehrtwende unwahrschein- vor Ort im Vergleich zum Engagement westlicher und lich. Die Dominanz macht- und geopolitischer Darle- vor allem westeuropäischer Firmen bescheiden. Auf gungen über wirtschaftspolitische und pragmatische dem russischen Bankenmarkt betragen die bisherigen Überlegungen hat viel Vertrauen und Planbarkeit zer- Engagements chinesischer Banken etwa 2–3 Prozent der stört. Diese Stimmung steht ganz klar im Gegensatz Aktiva der großen westlichen Banken. Angesichts sol- zur Situation in der Krise von 2008/2009, wo das Han- cher Dimensionen kann ein verstärktes Engagements deln des russischen Staates von Wirtschaftskreisen im Chinas vorerst – in einem eher optimistischen Szena- In- und Ausland als sinnvoll und ökonomisch pragma- rio –vorsichtigere Engagements westlicher Akteure nur tisch angesehen wurde. partiell kompensieren, was noch keine Wachstumsim- pulse impliziert. Eurasische Wirtschaftsunion und Integration mit Asien als Wachstumstreiber? Stagnation wahrscheinlichstes Szenario Genauso wie um die Importsubstitution gibt es der- Angesichts der Gesamtlage ist – im aktuellen institu- zeit einen Hype um eine prononciertere Ausrichtung tionellen Rahmen – eine längere Stagnation das wahr- nach Asien. Letztere spielt nun in offiziellen Darstel- scheinlichste Szenario, zumal es Indikatoren gibt, dass lungen eine größere Rolle als vorige Bestrebungen zur sich die Politik mit solch einem Szenario anfreunden Etablierung einer Eurasischen Wirtschaftsunion. Aller- kann. Von offizieller Seite wurde auf dem Petersburger RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 7 Wirtschaftsforum betont, dass trotz schwacher Zahlen tung und die hohe Inflation haben einen massiven Rück- die »innere Stärke« der russischen Wirtschaft wachse, gang des Konsums, der Importe und damit des externen was plumpe Autarkieüberlegungen widerspiegelt. Präsi- Finanzierungsbedarfs zur Folge. Sorgen um die makro- dent Putin glänzte in Petersburg eher mit für viele Wirt- finanzielle Stabilität Russlands bzw. um die Devisenre- schaftsakteure enttäuschenden Durchhalteparolen als serven haben somit abgenommen. Bei einem Einbruch des Konsums um sechs Prozent in diesem Jahr und der Grafik 8: Die EU bleibt auf absehbare Zeit der wich- Investitionen von knapp zehn Prozent und einer Sta- tigste Absatzmarkt für russische Exporte gnation dieser Kenngrößen im nächsten Jahr liegen die (Anteil der Warenexporte in Prozent) Importe Russlands 2015 und 2016 in US-Dollar gerech- net bei ca. 200–230 Milliarden, 2011 bis 2013 waren es 60 im Schnitt 330 Milliarden. Damit sind die Importe um 35–40 Prozent eingebrochen, während der Export »nur« 50 um 25–30 Prozent eingebrochen ist, so dass sich der 40 Handelsbilanzüberschuss stabil hält. Auf einem gerin- gen Niveau der Importe und Investitionen kann Russ- 30 land so deutlich länger von seinen Reserven leben als 20 zuvor. Daher trägt aktuell und wohl auch in den kom- menden Jahren vor allem der private Sektor die Haupt- 10 last der gesamtwirtschaftlichen Schwäche Russlands. 0 199719992001200320052007200920112013 Erhebliche wirtschaftspolitische Fragezeichen USA EU Der schwache Wirtschaftsausblick sowie die skizzierten wirtschaftspolitischen Dilemmata resultieren in einer Deutschland GUS erheblichen mittelfristigen wirtschaftspolitischen Unsi- China Andere cherheit. In den Jahren 2016 und 2017 kann die Fiskal- politik weniger stützend wirken als noch in 2014 und Quelle: Reuters, Rosstat, RBI/Raiffeisen RESEARCH 2015. Will die Regierung das Ziel eines relativ ausgegli- chenen Haushaltes weiter verfolgen, wird dies erhebli- durch Anerkennung der Reformbaustellen und Restrik- che Ausgabenanpassungen in den Jahren 2016 und 2017 tionen. Es scheint so zu sein, dass die westlichen Sank- erfordern, was politisch herausfordernd sein wird. Daher tionen eine opportune Entschuldigung für Strukturpro- gibt es trotz aktuell geringerer Risiken im Sinne der bleme sind. Zumal eine »säkulare Stagnation« besonders makrofinanziellen Stabilität Investorensorgen in Bezug die an ein stärkeres Wachstum gewöhnte Mittelschicht auf die Stabilitätsorientierung in der Fiskal- bzw. Wirt- und – solange der Sozialstaat finanziert werden kann – schaftspolitik. Des Weiteren könnte es steigenden Druck weniger die Transferempfänger bzw. die unterentwickel- auf weitere Akteure geben, etwa die Notenbank oder ten Landesteile (die traditionelle Stützen des politischen große staatsnahe Geschäftsbanken, damit diese mit einer Systems) treffen würde bzw. so teils erhebliche regionale »Wachstumsagenda« die Regierung unterstützen. Bei soziale Diskrepanzen schrumpfen lassen könnte. nicht adäquaten strukturellen Voraussetzungen könn- Die Implikationen einer »säkularen Stagnation« soll- ten so neue Risiken entstehen. Zudem könnte so ein ten allerdings auch nicht unterschätzt werden. Noch set- Teil der graduellen institutionellen und wirtschaftspoli- zen viele Wirtschaftsakteure auf das »ewig« wirkende tischen Fortschritte der letzten Jahre zu Nichte gemacht Potenzial Russlands als einer sich nach einem Schock werden, etwa die Flexibilisierung des Wechselkurses, die rasch erholenden Ökonomie. Historisch wäre nach der Stärkung der Notenbank als unabhängiger Akteur oder Rezession von 2015 ein solcher sogenannter »Rückprall- die Öffnung der Kapitalmärkte. effekt« zu hohem Wachstum (ausgehend von niedrigem Angesichts des schwachen Ausblicks sowie der wirt- Niveau) zu erwarten. Allerdings haben sich solche Ent- schaftspolitischen Fragezeichen, ist es nicht verwunder- wicklungen in Russland immer unter anderen Umfeld- lich, dass die Investitionstätigkeit inländischer und inter- bedingungen als den derzeitigen vollzogen. Angesichts nationaler Akteure in Russland darnieder liegt. Vor allem noch vorhandener Hoffnungen auf einen Rückprallef- ausländische Investoren agieren derzeit in für sie attrak- fekt kann eine Phase der länger andauernden Stagnation tiven heimischen Sektoren – wie der Automobilbranche, damit mehr Potenzial zur Unzufriedenheit haben, als den Banken oder dem Einzelhandel – vorsichtig und fah- es derzeit erscheint. Zumal 2014 und 2015 der private ren Engagements eher zurück. Solche Prozesse basieren Sektor das Gros der Anpassung trägt. Die Rubelabwer- bis dato »nur« auf deutlich negativeren Planungen für RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 8 den heimischen Markt bzw. die Kaufkraft. Zudem wird her Akteure verbunden; etwa wenn die ökonomischen der schwache gesamtwirtschaftliche Ausblick auch den Zwänge größer werden bzw. ein Rückfall Russlands hin- Prozess des Aufholens der anderen Regionen Russlands ter andere aufstrebende Volkswirtschaften regionale und im Vergleich zu Moskau und St. Petersburg abschwächen; geopolitische Ambitionen begrenzen sollte. Interessant viele Geschäftsstrategien versuchten in den letzten Jahren ist in diesem Kontext die auf dem Petersburger Wirt- diesen Trend auszuspielen. Nur im Energiesektor gibt es schaftsforum geäußerte Forderung von Ex-Finanzminis- noch Neugeschäfte ausländischer Marktakteure in nicht ter Kudrin durch vorgezogene (Neu-)Wahlen (die wohl sanktionierten Bereichen; allerdings ist für solche Trans- keine Änderungen an der Staatsspitze, wohl aber eine auf aktionen der Binnenmarkt in Russland weniger relevant. der Ebene darunter bringen könnten) die Reformausrich- Bei vielen, in Russland lange präsenten, westlichen tung zu stärken. Sollten sich noch vorherrschende mode- Firmen, die auf den heimischen Markt ausgerichtet sind, rat optimistische Zukunftserwartungen in Bezug auf eine wird aber noch kein materieller Rückbau des Russland- Rückkehr der ökonomischen Rationalität in das politi- Engagements betrieben. Es gibt noch Hoffnung, dass ein sche Denken und Handeln in Russland allerdings nicht wirtschaftspolitischer Pragmatismus zurückkehrt. Teils bestätigen, könnte dies zu einer noch kritischeren Sicht werden solche Aussichten immer noch mit der Speku- bei heimischen und ausländischen Investoren führen. lation auf einen erhöhten Machteinfluss wirtschaftsna- Über die Autoren Gunter Deuber leitet die Analyseabteilung Osteuropa für Volkswirtschaft und Bankensektoren bei der Raiffeisen Bank International AG in Wien, einer der größten in Russland tätigen Auslandsbanken. Andreas Schwabe ist Senior Economist bei der Raiffeisen Bank International AG in Wien. Der vorliegende Beitrag repräsentiert die persönliche Auffassung der Autoren und nicht notwendigerweise die der Raiffeisen Bank International. Tabelle 1: Wichtige Wirtschaftsindikatoren und Wirtschaftsprognosen 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015e 2016f BIP (EUR Mrd.) 880 1.150 1.370 1.560 1.560 1.400 1.230 1.360 BIP/Kopf (EUR) 6.200 8.000 9.600 10.900 10.900 9.700 8.600 9.500 Reales BIP (% p.a.) -7,8 4,5 4,3 3,4 1,3 0,6 -4,0 0,5 Priv. Haushalte (% p.a.) -5,1 5,5 6,8 7,9 4,7 1,9 -6,0 1,0 Anlageinvestitionen (% -14,4 5,9 9,1 6,6 1,4 -2,5 -8,0 0,0 p.a.) Industrieproduktion (% p.a.) -9,3 8,2 4,7 2,6 0,3 1,7 -4,0 1,0 Verbraucherpreise (Dez, p.a.) 8,8 8,8 6,1 6,6 6,5 11,4 11,5 8,0 Verbraucherpreise 11,8 6,9 8,5 5,1 6,8 7,8 15,2 7,5 (Jahresschnitt, p.a.) Arbeitslosenquote (%) 8,4 7,5 6,6 5,7 5,6 5,3 6,5 6,5 Öffentl. Budgetsaldo (% -6,3 -3,5 1,6 0,4 -1,0 -1,0 -4,2 -3,0 BIP) Öffenl. Schulden (% BIP) 8,3 9,3 10 11 11,3 11,5 12,5 13,5 Leistungsbilanzsaldo (% 4,1 4,4 5,1 3,6 1,6 3,5 3,7 2,7 BIP) Direktinvestitionen (netto, -0,5 -0,6 -0,6 0,0 -0,5 0,0 -0,7 0,0 % BIP) Währungsreserven (Dez, 291,0 331,0 350 369 343 279 329 353 EUR Mrd.) Aussenschuld (Dez, brutto, 37,1 31,7 30 31 33,8 35,4 37,7 31,6 % BIP) EUR/LCY (Jahresschnitt) 44,1 40,3 40,9 39,9 42,3 51,0 64,4 64,6 USD/LCY (Jahresschnitt) 31,7 30,4 29,4 31,1 31,9 38,6 58,0 59,3 Quelle: Reuters, Rosstat, Russische Zentralbank, Raiffeisen RESEARCH RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 9 ANALYSE Inlandsinvestitionen und »deofschorisazija« – ein Paradigmenwechsel in der russischen Finanzpolitik? Ewa Dąbrowska, Amsterdam/Berlin Zusammenfassung Putins zunehmend anti-westliche Ideologie zeigt sich auch in der Wirtschaftspolitik. Seit 2012 fördert die russische Regierung verstärkt Investitionen aus inländischen Kapitalquellen und versucht, russisches Kapi- tal aus Steueroasen in das nationale Wirtschaftssystem zurückzuholen. Beide Maßnahmen sind angesichts der Krise 2008/2009 sowie der derzeitigen Krise vordringlicher geworden, zeigen aber bis jetzt nur mäßi- gen Erfolg. Es ist unklar, ob diese Initiativen Putins darauf abzielen, russische Oligarchen »patriotischer« zu machen, oder ob sie als Beruhigungsmaßnahme für die Bevölkerung und nationalistische Intellektuelle die- nen, die in Russland zunehmend eine Deutungshoheit haben. Angesichts der engen Verflechtung der rus- sischen Wirtschaft mit der globalen Wirtschaft (einschließlich des Netzwerks von Steueroasen) und ange- sichts der Schwäche des russischen Finanzsystems werden diese Maßnahmen nicht leicht zu realisieren sein. Rechte Ideen in der russischen Teil der Ölgewinne im Inland zu investieren. Auch ist sie Wirtschaftspolitik scheinbar bemüht, das russische Kapital aus den Steuer- Putins Präsidentschaft zeichnet sich seit 2012 durch oasen ins Inland zurück zu holen (russ.: »deofschorisa- eine verstärkt anti-westliche und anti-liberale Rheto- zija« – »Ent-Offshorisierung«). Kann diese Politik ange- rik und Politik aus. Diese ideologische Wende ist bis sichts der engen Verflechtung der russischen Wirtschaft vor kurzem nicht konsistent mit Russlands wirtschaft- mit dem globalen Finanzsystem gelingen? Und trägt licher Praxis gewesen, insbesondere mit der Politik der sie, als eine Folge der Wirtschaftskrisen, zur Abschot- führenden Konzerne, wie vor allem nationalistische tung des russischen Finanzsystems im Sinne der patrio- Akteure immer wieder betonten. Zum rechten Lager tischen Eliten bei? der russischen Politik gehören unter anderem Abgeord- nete der Kommunistischen Partei, der »Liberal-Demo- Einbindung der russischen Wirtschaft in kraten« von Schirinowskij sowie der von Rogosin und das globale Finanzsystem Glasjew reaktivierten Partei »Rodina«, Intellektuelle Die Einbindung der russischen Wirtschaft in die globale des »Isborskij Klub« sowie mit ihnen sympathisierende Ökonomie lässt sich am besten anhand der Struktur der Teile des russischen Militärs, des militärisch-industriel- internationalen Finanzströme demonstrieren. Aufgrund len Komplexes, der Geheimdienste und anderer staatli- des kapitalschwachen nationalen Finanzmarktes waren cher Strukturen. »Einiges Russland« und die Präsidial- expansionswillige russische Großunternehmen auch in administration repräsentieren zwar einen »zentristischen der Ölboom-Periode 2000–2008 gezwungen, finan- Nationalismus«, haben aber in den letzten Jahren viele zielle Ressourcen aus dem Ausland zu beziehen. Sie nah- Deutungsmuster von nationalistisch denkenden Eliten men Kredite bei ausländischen Banken auf, verkauften übernommen. Russische Oligarchen galten in ihrem ihre Anleihen an ausländische Investoren und führten Diskurs schon lange als Verräter nationaler Interessen. Börsengänge an internationalen Finanzbörsen durch. Die Tatsache, dass Oligarchen ihre Gewinne im Aus- Diese Dynamik führte dazu, dass die private Auslands- land, bevorzugt in Steueroasen, anlegen, statt sie in Russ- verschuldung der russischen Wirtschaft wuchs, paral- land zu investieren, wurde heftig kritisiert. Das galt lel zu den Bemühungen der russischen Regierung, die besonders für Gewinne aus dem Rohstoffgeschäft, da staatlichen Schulden zurückzuzahlen. So betrug im Jahr natürliche Ressourcen im »patriotischen« Diskurs als 2006 die Auslandsverschuldung der russischen Banken nationaler Reichtum gelten, von dem das ganze Volk und Unternehmen 261,9 Mrd. US-Dollar, 2007 bereits profitieren sollte. Aus dem gleichen Grund sorgte die 424,7 Mrd. und 448,3 Mrd. US-Dollar im Jahr 2008. seit 2004 betriebene Politik der russischen Regierung, Bezeichnenderweise waren staatliche oder halbstaatli- Überschüsse aus dem Ölgeschäft in Form von staatli- che Konzerne, wie z. B. »Gazprom«, »Rosneft«, die Rus- chen Ölfonds in westlichen Staatsanleihen anzulegen, sischen Eisenbahnen RZD, »Transneft«, »VTB« und für einen Aufschrei, nicht zuletzt in den regierungs- »Sberbank« für bis zu 75 % dieser Summe verantwort- treuen Medien. lich. Diese Summe entsprach in etwa dem Volumen der Seit 2012 reagiert die russische Führung auf Forde- ausländischen Reserven, die von der Russischen Zen- rungen der nationalistischen Akteure, zumindest einen tralbank gehalten wurden, einschließlich des Stabilisie- RUSSLAND-ANALYSEN NR. 299, 03.07.2015 10 rungsfonds: Im Jahr 2006 betrugen diese 303,7 Mrd. den Steuern auf Ölgewinnung (Steuer auf die Förderung US-Dollar, 2007 bereits 476,4 Mrd. und 2008 lagen sie von Bodenschätzen, russ.: NDPI) und aus Exportzöllen bei 427,1 Mrd. US-Dollar (zur Entwicklung des Natio- im Stabilisierungsfonds akkumulierte, der 2008 in den nalen Wohlfahrtsfonds siehe die Grafik auf S. 12). Die »Reservefonds« und den »Fonds der Nationalen Wohl- Reserven wurden wiederum in ausländischen Staatsan- fahrt« aufgeteilt wurde. Dieses Modell löste eine Kontro- leihen angelegt oder in ausländischer Währung gehalten. verse in der russischen Gesellschaft aus, da der Eindruck entstand, die Regierung verknappe künstlich das Geld Erschwerter Zugang zu finanziellen in Zeiten des Überflusses. Dies geschah tatsächlich mit- Ressourcen aus dem Ausland nach den hilfe einer Politik der sogenannten »Sterilisierung« (d. h. Krisen 2008/2009 und 2014/2015 einer Reduzierung der nationalen Geldmenge um die Die Finanzkrise 2008/2009 hat das oben beschriebene Summe der Öleinnahmen, die im Stabilisierungsfonds makroökonomische Modell infrage gestellt, dem zufolge angelegt werden). Diese Gelder standen allerdings der vor allem Regierung und Zentralbank die Stabilität des Wirtschaft in Krisenzeiten zur Verfügung, waren also Finanzsystems aufrechterhalten, indem sie substantielle nicht vollkommen gelöscht, wie der Begriff der Sterili- Reserven akkumulieren. In der zweiten Hälfte 2008 sation nahelegen würde. waren ausländische Banken aufgrund ihrer eigenen ver- Sowohl die nationalistisch-konservativen Politiker, schlechterten finanziellen Situation nicht mehr bereit, Ökonomen und Intellektuellen, als auch große Teile die Kredite russischer Firmen zu verlängern und ver- der Wirtschaftselite und der Bürokratie forderten noch langten ihre Rückzahlung. Daraufhin baten die russi- vor der Krise, den Stabilisierungsfonds (und später den schen Oligarchen den Staat um Hilfe. Ein Rettungspa- FNW) für inländische Investitionen zu verwenden. Auf ket wurde geschnürt, infolge dessen die Auslandskredite diese Forderungen ging Putin nur partiell ein, indem von der russischen Entwicklungsbank »Vneshekonom- 2007 etwa ein Zehntel des Stabilisierungsfonds in den bank« (VEB) aufgekauft wurden. Dafür wurden insge- neu entstandenen Entwicklungsinstitutionen – der Ent- samt 50 Mrd. US-Dollar bereitgestellt. Doch nur rund wicklungsbank, der Staatskorporation »Nanotechnolo- ein Viertel davon wurde genutzt. Nachdem sich die Lage gii« (heute: »Rosnano«) – und im Investitionsfonds ange- auf den internationalen Finanzmärkten stabilisiert hatte, legt wurde. Als ähnlich kontrovers galt die Tatsache, dass kehrte man jedoch erneut zum alten Modell zurück. Die die russische Wirtschaft massiv auf Offshore-Standor- »private« Auslandsverschuldung betrug wiederum über ten beruhte, d. h. auf ausländischen Steueroasen. Off- 400 Mrd. US-Dollar. shore-Standorte werden nicht nur dazu genutzt, um dem Erst die politische Krise 2014/2015 stellte diese Pra- Fiskus zu entfliehen, sondern auch, um Geld aus Kor- xis auf die Probe. Gerade diejenigen Firmen, die am ruption und anderen illegalen Geschäften zu »recyclen« meisten von ausländischen Krediten profitiert hatten, und im besten Falle als verkappte ausländische Investi- wurden von westlichen Sanktionen getroffen, die nach tionen in die inländische Wirtschaft zurückzubringen. der Krim-Annexion verhängt wurden. Darunter fan- Laut der Organisation »Global Financial Integrity« hat den sich Unternehmen wie Gazprom, Rosneft, und Russland seit 2008 einen illegalen Abfluss von Kapital Transneft und Banken wie die VTB, Sberbank, Gaz- von über 100 Milliarden US-Dollar jährlich verzeich- prombank sowie Vneshekonombank, denen von nun an net (mit einem Maximum von 187 Mrd. im Jahr 2011) der Zugang zu ausländischen Finanzmärkten verwehrt und damit im globalen Ranking nach China den zwei- wurde. Obwohl viele dieser Firmen Tochtergesellschaf- ten Platz eingenommen. ten im Ausland haben, die ihnen Ressourcen bereitstel- Nach der Krise 2008/2009 änderte sich zum Teil die len können, bekamen sie Liquiditätsprobleme. Aus die- wirtschaftspolitische Orientierung der russischen Regie- sem Grund beantragten sie daraufhin Gelder aus dem rung. Die Ölfonds wurden zwar angezapft, sowohl um »Fonds der Nationalen Wohlfahrt« (FNW). die ausfallenden Haushaltsausgaben zu ersetzen, als auch zur Stützung des Finanzmarktes und der Banken, aber Eine Wende hin zu einer »patriotischen« es erfolgten nur wenig staatliche Investitionen. Erst die Finanzpolitik? aktuelle Krise hat die russische Regierung dazu bewegt, Auch die russische Finanzpolitik folgte in der Zeit des ein umfassendes, aus dem FNW finanziertes Investiti- Ölbooms einem liberal-konservativen Modell: Die onsprogramm einzuleiten. Regierung sparte einen Großteil ihrer Einnahmen oder investierte sie. Trotz wachsender Staatsausgaben wurde Öffnung des »Fonds der Nationalen jedes Finanzjahr mit einem Haushaltsüberschuss von bis Wohlfahrt« zu 8 % abgeschlossen. Darüber hinaus bildete die Regie- Im Zuge einer neuen »patriotischen« Politik entschied rung substantielle Reserven, indem sie Einnahmen aus Putin im November 2013 bezeichnenderweise, einen
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