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Rüdiger Zill (Hg.): Angst PDF

15 Pages·2011·0.18 MB·German
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1 Eva Horn (Wien) World Trade Center Paranoia. Politische Ängste nach 9/11 Erscheint in: Rüdiger Zill (Hg.): Angst – Kon(junk)turen eines Gefühls, Berlin: Akademie Verlag 2012 (im Druck) Daß ein terroristischer Anschlag Angst auslöst, das Gefühl einer allgegenwärtigen Verletz- lichkeit und Bedrohtheit bei jeder alltäglichen Verrichtung außer Haus, bei jeder Reise, jeder Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel – dies ist eine Trivialität, die in der Natur der Sache liegt. Terror ist eine Form der Kommunikation und was kommunziert wird, ist exakt dieses Gefühl der Bedrohtheit. Es ist eine Botschaft, die simpel lautet: fürchte dich! Über politische Ängste nach 9/11 zu sprechen, erscheint darum zunächst als eine Tautologie, die auch da- durch nicht interessanter wird, dass – wie in jüngster Zeit immer wieder angemerkt wird – die reale Bedrohung durch einen Terroranschlag in unserer Lebenswelt unendlich viel geringer ist als die durch Autounfälle, Krebserkrankungen oder Suizid. Angst äußert sich aber nicht nur in benenn- und nachvollziehbarer Furcht vor konkreten Ereignistypen, sondern – und das ist vielleicht ihre wichtigste und zugleich unheimlichste Funktion – auch in der Art und Weise, wie wir Dinge erkennen, beschreiben und erklären. Angst ist ein psychisches Phänomen, das nicht nur affektiv wirksam ist, sondern auch kognitiv: sie steuert unsere Wahnehmung und unsere Vorstellung von der Wirklichkeit, in der wir leben. Wer einen Gegenstand mit Angst betrachtet, sieht darin die potentielle Bedrohung, das inhärente Risiko, etwas Verborgenes, das allen anderen zu entgehen scheint. Allerdings ist der ‚Kern’ der Angst möglicherweise nicht unbedingt das, was lauthals kommunizierbar ist, was sich besonders schön an der Ge- schichte kollektiver Angst-Konjunkturen zeigt: in den Achtziger Jahren die Angst vor der Kernkraft, in den Neunzigern vor sexuellem Kindesmißbrauch, heute vor islamistischem Terr- ror. Das, wovor wir uns wirklich fürchten, ist nicht so sehr Gegenstand von Kommunikation, sondern es prägt deren Form: etwa als Misstrauen, das wir bestimmten Informationen, be- stimmten Sprechern oder Instanzen entgegenbringen. Sieht man Angst nicht ausschließlich als Affekt, sondern auch als kognitive Haltung, dann ist sie eine Art und Weise, den Verstand zu benutzen, Informationen zu verarbeiten, Verknüpfungen herzustellen. Genau um diesen – kognitiven – Einsatz von Angst wird es den folgenden Überlegungen gehen. Angst wäre dann eine Wahrnehmungs- und Erkenntnisform, die sich als spezifischer Denkstil oder als Diskurs niederschlägt, die eine bestimmte Risikowahrnehmung, ein Mißtrauen oder eine Vorstellung von Bedrohung hervorbringt. Ein Diskurs, in dem sich diese Seite von Angst äußert, muß vordergründig Angst gar nicht zum Thema machen. Oder anders gesagt: das, was als Gegens- 2 tand und Inhalt von Ängsten lauthals publik gemacht wird, ist nicht notwendig ihr tatsächli- cher Kern oder Grund. Angst verbirgt sich unter Symbolisierungen und Symptomatiken, unter Verschiebungen und Deckphänomenen. Möglicherweise läßt sich Angst, trotz ihrer lautstar- ken Ausdrucksformen und ubiquitären öffentlichen Rhetorik, eben gerade nicht direkt ausdrü- cken. Sie verbirgt sich in diskursiven Verkleidungen, die von allem Möglichen sprechen – außer von Angst. Der 11. September 2001 ist weithin nicht nur als Einsatzpunkt einer neuen Form von politi- scher Bedrohung sondern auch als Initialzündung einer neuen Form politischer Angst gesehen worden – eine Angst, die sich jenseits aller alltagspraktischen Wahrscheinlichkeit entfaltete, selbst Opfer eines Terroranschlags zu werden. Dabei muß man aber eigentlich von zwei ver- schiedenen Gegenständen der Angst sprechen: Neben der Furcht vor weiteren Terroranschlä- gen entstand eine andere, ihr diametral entgegengesetzte Furcht: die, daß die Informationen über das Ereignis zutiefst verzerrt seien und daß jede Form der Berichterstattung und Aufklä- rung des Anschlags nichts als eine Lüge sei. Es schien, als hätten die Anschläge von 9/11 nicht nur die Wahrnehmung politischer Gefahr, sondern auch die der politischen Wirklichkeit grundlegend erschüttert, in einer Weise, die nur mit dem historischen Schock angesichts der Ermordung von John F. Kennedy 1963 vergleichbar ist. Don DeLillo nannte den Anschlag auf JFK ein „natural disaster in the heartland of the real, the comprehensible, the plausible“1, eine Katastrophe, die ins Herz der Wirklichkeit zielte – und genau diese Wirkung schien auch 9/11 zu haben.2 Diese Erschütterung der Wirklichkeitswahrnehmung ließ sich schon unmittelbar nach dem Ereignis beobachten. Das Geschehen der Attentate wurde, jenseits des unmittelba- ren Schocks, sofort Gegenstand intensiver Debatten über seine wahren Hintergründe, über die Drahtzieher, den genauen Ablauf und den Wahrheitsgehalt seiner Berichterstattung. Noch bevor man richtig wußte, was geschehen war, begann der Streit darüber, was eigentlich die Wahrheit über dieses Ereignis gewesen sein könnte. Dieses Phänomen betraf nicht etwa nur notorische Verschwörungstheoretiker, die – geschult im Auffinden regierungsamtlicher Lügen und Inkonsistenzen – von der vierzig Jahre alten Debatte um JFK nun dankbar auf ein neues Betätigungsfeld wechselten. Es betraf auch die Verlautbarungen des FBI und der amerikani- schen Regierung selbst. Von Anfang an kämpfte die Regierung weniger um eine Aufklärung 1 Don DeLillo: „American Blood. A Journey Through the Labyrinth of Dallas and JFK”, in: The Rolling Stone, 8. Dezember 1983, S. 23. 2 Zu Verschwörungsdenken, Wirklichkeitswahrnehmung und Feindkonstruktion vgl. Eva Horn: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt/M: Fischer Ta- schenbuch 2007, insbesondere das Kapitel: „Nach 9/11“. 3 als um eine Interpretationshoheit über die Attentate, indem sie schon Stunden nach den Ein- schlägen Schuldige benannte; indem man Spuren präsentierte, die so überdeutlich waren, dass sie aussahen wie Ablenkunsmanöver; und indem man unmittelbar zum Feldzug gegen Afgha- nistan rüstete, als sei dies eine notwendige Konsquenz aus den Anschlägen. Es schien vor allem darum zu gehen, die politische Bedeutung der Attentate ein für alle mal festzulegen. Neun Tage nach dem Attentat gab Präsident Bush dafür die entscheidenden Stichworte: „On September 11, enemies of freedom committed an act of war against our country...“.3 Über die Konsequenzen dieser semantischen Verschiebung vom terroristischen Anschlag zur Kriegs- handlung ist genug gesagt worden: diese Verschiebung ermöglichte den unmittelbaren Über- gang von Terrorabwehr zum „Präventivkrieg“ (der keinerlei Prävention diente, sondern eher eine Rachefeldzug gegen die in die Anschläge verstrickten Taliban war). Der pauschale Ter- minus „Feinde der Freiheit“ ist ebenfalls bemerkenswert, insofern diese Generalisierung des Feind-Begriffs eine der wichtigsten politischen Verschiebungen nach 9/11 darstellt. Einen Monat später machte Bush vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen diesen Deu- tungsanspruch explizit, der jede Position, die die offizielle Rekonstruktion des Tathergangs anzweifelte, in ihre Schranken weisen sollte: „We must speak the truth about terror. Let us never tolerate outrageous conspiracy theories concerning the attacks of September 11th, mali- cious lies that attempt to shift the blame away from the terrorists themselves, away from the guilty.“4 Ganz offensichtlich – das wird in jedem Anspruch, die einzige Wahrheit zu besitzen, deutlich – war 9/11 eben kein selbstevidentes Ereignis, sondern ein hochgradig aufklärungs- und deutungsbedürftiges Geschehen. Was damit allerdings einsetzte, war ein Kampf um Deu- tung, der auch mit dem offiziellen Report der Untersuchungskommission noch immer nicht abgeschlossen scheint. Denn ebenso schnell, wie die amerikanische Regierung Beweisstücke und Spuren vorlegte, Täter benannte und mit Osama Bin Laden einen mächtigen und exotischen Drahtzieher vor- weisen konnte, begannen vom 12. September an Journalisten, politische Gruppen und Privat- leute, diese offiziellen Verlautbarungen in Frage zu stellen.5 Es ist diese Welle von Infrage- stellung, die nach 9/11 zunächst zaghaft einsetzte und die 2006/7 eine ungeahnte Blüte erleb- 3 Präsident George W. Bush am 20. Sept. 2001 vor einer joint session of Congress. 4 Präsident George W. Bush vor der Generalversammlung der UNO am 11. 10. 2001. 5 Eine hervorragende Studie dieser Verschwörungstheoretiker-Szene nach 9/11 liefert Peter Knight: „Outrageous Conspiracy Theories: Popular and Official Responses to 9/11 in Germa- ny and the United States“, in: Eva Horn (Hg.): Dark Powers. Conspiracies and Conspiracy Theory in History and Literature, New German Critique 104, Winter 2008, S.165-193. 4 te, die ich mit einem etwas zweideutigen Begriff „World Trade Center Paranoia“ nennen möchte. Den Begriff „Paranoia“ verwende ich damit nicht im klinischen Sinne einer spezifi- schen Wahnbildung, sondern in dem Sinne, in dem ihn Richard Hofstadters berühmter Essay über den „Paranoid Style in American Politics“ zur Signatur einer bestimmten politischen Wahrnehmungsform gemacht hat. Das zentrale Stichwort dieses Stils, so Hofstadter, ist „Ver- schwörung“: „a vast and sinister conspiracy, a gigantic and yet subtle machinery of influence set in motion to undermine and destroy a way of life“.6 „Paranoid“ an dieser politischen Phan- tasie vom unsichtbaren „inneren Feind“ ist dabei weniger eine psychologische Form individu- eller oder kollektiver Wahnbildung, vielmehr besteht sie in „a way of seeing the world and of expressing oneself“, eine Interpretation der Wirklichkeit und eine Verortung in ihr.7 Die Ei- genart der politischen Paranoia liegt darin, die Welt als eine Welt des omnipräsenten Geheim- nisses und der Bedrohung zu betrachten. Angst wird zur zentralen Wahrnehmungsform. Mit der klinischen Paranoia des Individuums verbindet den „paranoiden Stil“ der Impuls der Ab- wehr eines Angriffs dieser intransparenten Welt.8 Ist die Welt ein einzige undurchschaubare und bedrohliche Szenerie, so geht es dem paranoiden Stil darum, ihren trügerischen Schein zu durchbrechen, indem andere Identitäten und andere Antagonismen vermutet werden als die offensichtlichen. Es muss alles neu, anders und mit Mißtrauen gelesen werden: „Paranoia is an interpretive disorder“, so Timothey Melley, „that revolves around questions of control and manipulation“.9 Diese „Interpretations-Krankheit“ – etwas verächtlicher „Verschwörungsthe- orie“ genannt – entwirft ein weltumspannendes, unsichtbares Netzwerk, imaginiert geheime Codes und Symbole, Mechanismen und Medien der heimlichen Manipulation. Sie richtet ihr Misstrauen auf mögliche Umsturz- und Weltherrschaftspläne, aber auch allgegenwärtige staatliche Überwachung, Lüge und Manipulation. Der allgegenwärtige, aber unbestimmte Feind wird zur Projektionsfläche sozialer und kultureller Ängste. Das heißt aber nicht, daß der „paranoide Stil“ nichts als eine Form politischer Über-Erregung ist, oder – wie Fredric Jame- son etwas verächtlich meinte, „the poor person’s cognitive mapping in the postmodern age; it is a degraded figure of the total logic of late capital, a desperate attempt to represent the lat- 6 Richard Hofstadter: The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, New York: Alfred Knopf 1965, S.3-40, hier: 29. 7 Hofstadter: Paranoid Style, a.a.O., S.4. 8 Vgl. Sigmund Freud: Analyse eines Falls von chronischer Paranoia, in: Gesammelte Werke, Bd. 1: Werke aus den Jahren 1892-1899, Frankfurt/M.: Fischer Verlag 1952, S.392-403, hier: 392. 9 Timothy Melley: Empire of Conspiracy. The Culture of Paranoia in Postwar America, Itha- ca/London: Cornell University Press 2000, S.16. 5 ter’s system“.10 Jamesons Herablassung über die paranoiden Armen im Geiste ist bezeichnend für die Behandlung von Verschwörungstheorie als Ideologie, als ein System falscher Antwor- ten auf die richtigen Fragen, eine totalisierende Sicht auf eine nicht totalisierbare Welt. Was diese ideologiekritische Herablassung verkennt, ist die enge Verschränkung von Einsicht und Blindheit, die den paranoiden Stil prägt. Seine Hellsichtigkeit liegt in der profunden Skepsis gegenüber dem Anschein: der a-politischen Harmlosigkeit des Privaten, der Autorität offiziel- ler Verlautbarungen, der Erkennbarkeit des Feindes. Verstanden als ein Diskurs über das, was im Raum des Politischen notwendig verborgen und geheim bleiben muß, ist politische Para- noia weniger ein hypertrophes System von Erklärungen denn ein Infragestellen ‚offizieller’ Erklärungen. Was sich in ihr niederschlägt, ist eine Haltung tiefsten Misstrauens: ein Miss- trauen des Staats gegenüber seinen Bürgern, der Bürger gegen den Staat, der Nicht-Experten gegenüber den Experten, der Anwender von Technologie gegen diese Technologie, der Me- diennutzer gegen diese Medien. Es ist der Verdacht gegen genau das, was zur technischen und kulturellen Grundlage einer Gesellschaft gehört, all das, dem man sich nicht entziehen kann: sei es das Trinkwasser, seien es die Botschaften der Medien, seien es die Zeichen auf den Geldscheinen.11 Und dieser paranoide Stil verbindet die regierungsamtlichen Deutungen der Bush-Administration strukturell mit den Vertretern der populären Verschwörungstheorie zu 9/11. Beginnen wir mit den staatskritischen Verschwörungstheoretikern. Eine der ersten Stimmen, die die öffentliche Interpretation in Frage stellten, war der deutsche Journalist Mathias Brö- ckers, der – glückliche Fügung! – gerade an einem Buch über Verschwörungstheorien saß und sofort begann, in einem Weblog mit dem Titel WTC Conspiracy die offizielle Version in Zweifel zu ziehen. (Blog vom 13.9.2001) Wie kann ..., fragt sich der Verschwörungstheoretiker, drei Mo- nate nach der aus Ägypten kommenden Warnung vor einem Großanschlag die logisti- sche Meisterleistung gelingen, vier Flugzeuge gleichzeitig zu entführen und unent- deckt zu den Anschlagszielen zu fliegen? Passagiere konnten aus den entführten Ma- schinen mit ihren Angehörigen telefonieren - aber Flugsicherung und Militär, deren 10 Fredric Jameson: „Cognitive mapping“, in: Cary Nelson/Lawrence Grossberg (Hg.): Marx- ism and the Interpretation of Culture, London: Macmillan 1988, S.356. 11 Die amerikanische Dollarnote ist insbesondere Gegenstand verschwörungstheoretischer Lektüren ihrer Ikonographie geworden, vgl. dazu Peter Knight: Introduction, zu: Ders. (Hg.): Conspircay Nation. The Politics of Paranoia in Postwar America, New York/London: New York University Press 2002, S. 1. 6 weltweiten Schnüffelsystemen kein Furz eines indischen Reisbauers entgeht, haben nichts mitbekommen? Und das über ihrer eigenen Zentrale im Pentagon? ....Dieser Skandal wird merkwürdigerweise mit keiner Silbe thematisiert... Bröckers Verschwörungstagebuch, das vom 13. September bis zum 22. März 2002 erst fast täglich, dann wöchentlich im Internet-Magazin Telepolis erschien, war die Avantgarde einer höchst heterogenen Bewegung, die von der Infragestellung einzelner Details im Tathergang bis hin zur These eines von der amerikanischen Regierung selbst gesteuerten „inside-jobs“ reicht. Interessanterweise beginnt der verschwörungstheoretische Verdacht gegen die offiziel- le Version frühzeitig in Europa: Thierry Meyssan publizierte 2002 seine These vom „Pentaga- te“, nämlich dass nicht ein Passagierflugzeug, sondern eine Rakete oder ein Militärjet ins Pen- tagon geprallt sei, 12 Staatssekretär a.D. Andreas von Bülow behauptete, dass zahlreiche In- konsistenzen in der Rekonstruktion des Tathergangs vorlägen (unvollständige Passagierlisten, Fahndungspannen im Vorfeld der Anschläge, allzu deutliche Hinweise auf die Gruppe um Atta, die wie getürkte Spuren aussahen usw.), wobei er anfangs sein wichtigstes Material weitgehend von Bröckers Website übernahm (ohne diese zu nennen).13 Bröckers selbst fand seine Daten – wie er in der späteren Buchpublikation seines Blogs deutlich machte – durch „zweimal täglich googlen“, dh. durch den internet-gestützten Zugriff auf alles, was sich an relevanten oder auch nur schein-relevanten Informationen im Netz finden lies. Seine Quellen waren die online-Ausgaben internationaler Zeitungen und Nachrichtenagenturen, Sicher- heitsdienste wie Jane’s oder Intellingence online, aber auch Websites von Polit-Aktivisten und Privatleuten. Erst mit einiger Zeitverzögerung hat sich die Infragestellung der offiziellen Version dann auch in Amerika durchgesetzt, zunächst auf Websites, in Buchpublikationen und neuerdings verschiedenen Dokumentarfilmen. Die wohl wichtigste Plattform der 9/11 Paranoiker ist mittlerweile das 9/11 Truth Movement, das eine Unzahl sehr verschiedener An- sätze vereint. Das reicht von alternativen kriminalistischen Rekonstruktionen des Tather- gangs, der Untersuchung von Seitenaspekten wie der verschwiegenen Umweltbelastung für Lower Manhattan über ausführliche Timelines der Vorgeschichte, des Ablaufs und Nachspiels der Attentate bis hin zu umfassenden politischen Analysen. Zwei wichtige Dokumentarfilme erschienen letztes Jahr, einerseits 9/11 Press for Truth, der im Namen der Opferfamilien noch 12 Thierry Meyssan: 11. September 2001. Der inszenierte Terrorismus – Auftakt zum Welten- brand?, Kassel: de facto 2002. 13 Andreas von Bülow: Die CIA und der 11. September. Internationaler Terror und die Rolle der Geheimdienste, München: Piper 2002. Ähnlich argumentiert auch Gerhard Wisnewski: Operation 9/11: Angriff auf den Globus, München: Knaur 2003 und Ders.: Mythos 9/11, München: Knaur 2004. 7 einmal die unaufgeklärten Inkonsistenzen des Attentats und den politischen Missbrauch des Desasters für die Kriege der USA anprangert. Noch populärer aber ist der von dem abgelehn- ten Filmstudenten Dylan Avery gemachte Dokumentarfilm Loose Change.14 Loose change, der direkt aus dem Netz heruntergeladen werden kann, greift einige der wichtigsten Motive über die Inkonsistenzen der offiziellen Version wieder auf, die bereits sehr früh formuliert und überwiegend längst widerlegt worden sind. Das sind vor allem der schon von Meyssan vorgebrachte Verdacht, dass kein Passagierflugzeug vom Typ Boeing 757 das Pentagon ge- troffen haben könne, weil das Loch im Gebäude dafür viel zu klein sei; dass die Identitäten einiger der Attentäter, die das FBI identifiziert haben will, nicht stimmen könnten (etwa, weil sie nach dem 11. September noch lebend gesehen wurden); die wohl wichtigste These, dass die Twin Towers und das Gebäude WTC 7 durch „controlled demolition“ zum Einsturz ge- bracht worden seien; und dass die Unfähigkeit der amerikanischen Luftabwehr NORAD, die entführten Flugzeuge durch Abfangjäger zur Landung zu zwingen, darauf hinweise, dass man die Attentate habe absichtlich geschehen lassen. Loose change bearbeitet vor allem die ersten drei Motive ausführlich und fügt den Verdacht an, dass im später eingestürzten Gebäude WTC 7 große Goldreserven gelegen hätten, die bei der Gelegenheit gestohlen wurden. – In dem weiten Feld der 9/11-Verschwörungstheorien, das im Grunde alle umfasst, die irgendei- nen Zweifel an der Konsistenz der offiziellen Version anmelden, vertritt Loose change eine Extremposition, nämlich die, dass die Attentate von amerikanischer Seite selbst inszeniert wurden. Andere Positionen, wie die des eher experimentierfreudigen Veteranen Bröckers oder die Autoren der Complete 9/11 Timeline, die minutiös etliche Geheimdienst-Ereignisse des Mittleren Ostens schon 20 Jahre vor 2001 auflisten und die Attentate selbst minutengenau zerlegen, oder das 9/11 Truth movement sind weniger radikal in ihren Schlußfolgerungen.15 Sie beschränken sich entweder darauf, nach den ungeklärten Details in der Rekonstruktion der Ereignisse zu fragen und eine neue Untersuchung zu fordern, die politische Instrumentalisie- rung der Attentate durch die Bush-Regierung zu kritisieren oder die Ansicht vorzutragen, dass die Regierung die Attentate mehr oder weniger sehenden Auges zugelassen habe. Was an diesen Theorien interessant ist, ist selbstverständlich nicht der Wahrheitsgehalt ihrer Thesen. Interessant für die Frage nach einer Struktur der Angst nach 9/11 ist vielmehr die unterliegende Form dieses Diskurses. Auffällig ist, daß sich die vorgetragenen Verschwö- rungstheorien selbst nicht restlos auf die Wahrheit ihrer Behauptungen verlassen, sondern eher ein experimentelles Verhältnis zu den eigenen Thesen haben. Wird eine dieser Thesen – 14 Unter http://www.youtube.com/watch?v=7E3oIbO0AWE (Zugriff 22.7.2008) 15 Unter http://complete911timeline.org/ (Zugriff 22.7.2008) 8 wie im Fall der Gold-These von Loose Change, plausibel widerlegt, ändert man den Film und setzt einen Trailer voran, dass es noch weitere Irrtümer im Film gäbe und man schon damit sein Ziel erreicht habe, wenn sich nun andere mit der Untersuchung der wahren Sachverhalte beschäftigen. Die Welt zu interpretieren und sich in ihr zu verorten ist nichts anderes als eine Erkenntnisoperation - die Eigenart der politischen Paranoia besteht nun darin, die Welt als intransparent zu sehen, als etwas, das ständig neu und anders interpretiert werden muß, ein dunkler, inintelligibler Zusammenhang, der zutiefst bedrohlich ist. Die Selbstverortung in dieser Welt ist darum von profundem Mißtrauen gegenüber allen Evidenzen und Konsensen geprägt, was offensichtlich scheint, was alle denken, ist gerade das Falsche, die Welt ist gleichsam „bodenlos“. Aber das heißt offenbar auch, nicht einmal an den eigenen Annahmen eisern festzuhalten. Der paranoide Stil in der Politik nun ist von zwei zentralen Elementen geprägt: einerseits der Projektion eines übermächtigen, allgegenwärtigen , aber schwer er- kennbaren Feindes; andererseits der Vorstellung eines verborgenen Netzwerkes von Bezügen und Verbindungen, das den zufälligsten und unverbundensten Ereignissen einen heimlichen Zusammenhang gibt. „Everything is connected“ ist das Mantra dessen, was Psychiater den „Beziehungswahn“ in der Paranoia nennen. Wenn alles mit allem verknüpft ist, dann gibt es keine Zufälle, keine Pannen und Koinzidenzen, sondern nur unerkannte kausale Verbindun- gen, die zu entziffern sind. Wenn der Feind unsichtbar ist, dann gibt es keine klaren Fronten, ein „wir“ oder „sie“, sondern nur scheinbar harmlose Figuren, die überhaupt erst einmal als Feinde entlarvt werden müssen. Klassischerweise führte das zu Verschwörungtheorien über kompakte – wenngleich weltumspannende – Netzwerke, von der jüdischen Weltverschwö- rung bis zu den reds under the beds. Die klassischen Verschwörungstheorien, die Hofstadter vor Augen hatte, unterstellen zentrierte und hierarchisierte Strukturen, deren primärer Opera- tionsmodus die Manipulation von Subjekten und Institutionen ist. Die neueren Verschwö- rungstheorien gehen nicht unbedingt so weit, sondern entfalten eher ein spielerisches Verhält- nis zu ihrem eigenen Verdacht, eine Reflexivität, mit der sie sich selbst gelegentlich ironisch als „Verschwörungstheoretiker“ bezeichnen. Die Frage ist, ob der paranoide Stil als Ausdruck politischer Ängste nur eine Haltung der Machtlosen ist: Wer keinen Durchblick hat und keinen Entscheidungsspielraum, der verfällt in ein fundamentales Mißtrauen gegenüber allen offiziellen Verlautbarungen. Interessanter- weise ist der paranoide Stil aber durchaus nicht nur „the poor man’s cognitive mapping“, wie Jameson fand. Legt man nämlich die zwei zentralen Denkfiguren des paranoiden Stils nach 9/11 – also Vernetztheit und Unsichtbarkeit der Feinde – als Kriterium zugrunde, dann erfüllt überraschenderweise auch die offizielle Version über die Ereignisse und Täter des 11. Sep- 9 tember Kriterien des paranoiden Stils: Al-Qaida als globales terroristisches Netzwerk, Bin- Laden als ihrem Master Mind, Saddam Hussein als heimlicher Verbündeten, scheinbar harm- lose Studenten aus arabischen Ländern, die in ihren WGs blutige Attentate vorbereiten und übers Netz oder über Madrasas ihre Ideologie verbreiten. Auffällig daran ist, daß die Vorstel- lungen von den Verursachern der Attentate vom 11. September zunächst sehr stark an Bildern der klassischen kommunistischen Verschwörung orientiert waren. Der salafische Djihad, der sich heute mehr und mehr als eine unverbundene und durchaus nicht zentral koordinierte Massenbewegung mit heterogenen Hintergründen und Zielen präsentiert, wurde so zunächst einmal zu einer „conspiracy“ im juridischen Sinne des Wortes erklärt. Die neuen Feinde, jene „enemies of freedom“ sind nichts anderes als ein verschwörerisches unsichtbares Netzwerk. So steht es in der US-Sicherheitsdoktrin von 2002: Enemies in the past needed great armies and great industrial capabilities to endanger America. Now, shadowy networks of individuals can bring great chaos and suffering to our shores for less than it costs to purchase a single tank. Terrorists are organized to penetrate open societies and to turn the power of modern technologies against us.16 Den Feind als „schattenhaftes Netzwerk“ zu beschreiben ist durchaus nicht neu und erinnert an die Theorien von straff organisierten kommunistischen Unterwanderungsverbänden, wie sie einst ein J. Edgar Hoover imaginierte. 17 Was neu ist, ist die Struktur der Netzwerke: ge- sprochen wird von „networks of individuals“, die auf einer zunehmend verschwimmenden Grenze zwischen individueller Straftat und politischer Intention, zwischen Kriminalität und Kriegführung angesiedelt sind. Seit dieser doch sehr grobschlächtigen Feindbestimmung aber hat sich die Netzwerk-Metapher allerdings zunehmend verselbständigt. Die Vernetztheit ist dabei zum Kriterium für eine Gefährlichkeit geworden, die nicht einmal mehr in politischen Termini gefasst sein muß. Es geht nicht so sehr darum, was die Intentionen und Programmati- ken des Feindes sind, nicht so sehr darum, warum und in welcher Weise er unser Feind ist – sondern darum, wie er operiert. Das zeigt sich schon in der mittlerweile klassischen Studie von John Arquilla und David Ronfeldt, die im Auftrag der RAND Corporation eine Theorie von „Networks and Netwars“ vorgelegt haben (die Studie erschien zuerst, relativ unbeachtet, 1996, erfuhr aber Ende 2001 eine vielbeachtete Neuauflage mit einem Zusatzkapitel zu 9/11). 16 The National Security Strategy of the United States of America, September 2002, http://www.whitehouse.gov/nsc/nss.html. Hervorhebungen EH. 17 J. Edgar Hoover: Masters of Deceit. The Story of Communism in America and How to Fight It, New York: Holt, Rinehart and Winston 1958. 10 Netwar ist das Operieren in kleinen, dispersen Einheiten, die intensiv (aber auch selektiv) miteinander kommunizieren, nicht-hierarchisch strukturiert sind und nicht so sehr von Füh- rern als von Ideologien zusammengehalten werden. Ihre Vernetztheit ist es darum auch, die terroristische Gruppen wie al-Qaida mit kriminellen Organisationen wie den chinesischen Triaden oder den kolumbianischen Drogenkartellen verbindet. „The term netwar refers to an emerging mode of conflict (and crime) at all societal le- vels, short of traditional military warfare, in which the protagonists use network forms of organization and related doctrines, strategies, and technologies attuned to the in- formation age. These protagonists are likely to consist of dispersed organizations, small groups, and individuals who communicate, coordinate, and conduct their cam- paigns in an internetted manner, often without central command. Thus, for example, netwar is about the Zapatistas more than the Fidelistas, Hamas more than PLO, the American Christian Patriot movement more than the Ku Klux Klan, and the Asian Tri- ads more than the Cosa Nostra.” 18 Wo das Spektrum des „netwar“ von der Planung terroristischer Anschläge über Drogenhandel und Hacking bis hin zu Bürgerinitiativen und Menschenrechtsgruppen reicht, zeigt sich ein Formalismus der Analyse, der die Frage nach „guten“ oder „bösen“, politischen oder wirt- schaftlichen Absichten zugunsten eines Interesses an Taktiken und Operationsmodi suspen- diert. Der Blick auf „netwars“ ist der kühle Blick auf eine vielfältige Avantgarde der Kom- munikationsgesellschaft, deren einziger gemeinsamer Nenner in „the use of network forms of organization, doctrine, strategy and technology attuned to the information age“ besteht.19 Der eigentliche Feind der Netzwerke ist damit nicht dieser oder jener Gegenspieler, sondern jede Form der hierarchischen, formalisierten und reglementierten Organisation. Die neuen Netz- werke sind, folgt man Arquilla/Ronfeldt, eine Kriegsmaschine im Sinne Deleuzes/Guattaris, deren „Furor“ sich der avanciertesten Formen der Kommunikation und Logistik bedient.20 Dabei folgt die Beschreibung der effizientesten – sprich: gefährlichsten – Netzwerke sehr genau deren Modell des „Rhizoms“: miteinander verbundene, aber nicht zentral kontrollierte „cluster“ von Personen, die wiederum Bündel von Gruppen bilden, welche relativ eigenstän- dig operieren können. Arquilla/Ronfeldt unterscheiden zwischen linearen Netzen (chain net- works), wo Information immer einen vorgeprägten Weg nehmen muss, um von einem Mit- 18 Arquilla/Ronfeldt: Networks and Netwars. The Future of Terror, Crime and Militancy, San- ta Monica: RAND zu einem Bestseller. Unter http://www.rand.org/publications/MR/MR1382/ ist sie noch immer in ihrer aktualisierten Form von 2001 im Netz. S. 6. 19 Arquilla/Ronfeldt: Netwars and Networks, a.a.O., S. 7. 20 Gilles Deleuze/Felix Guattari: Tausend Plateaus, Berlin: Merve 1997, insbesondere Kap 2: „1914: Einer oder mehrere Wölfe“ und Kap. 8: „Abhandlung über Nomadologie“.

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Der 11. September 2001 ist weithin nicht nur als Einsatzpunkt einer neuen Form von politi- . 13 Andreas von Bülow: Die CIA und der 11. September.
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