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Reißt die Knospen ab PDF

194 Pages·2016·1.17 MB·German
by  Oe K
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Kenzaburō Ōe Reißt die Knospen ab... s&c by Ute77 Japan während des Zweiten Weltkriegs. Eine Gruppe heranwachsender Jungen soll aus einer Erziehungsanstalt wegen drohender Bombenangriffe evakuiert werden. Man bringt sie in ein entlegenes Bergdorf. Aus Angst vor einer Seuche fliehen die Dorfbewohner aber und versperren den Jungen den einzigen Fluchtweg über eine Schlucht. Nach anfänglicher Beklemmung beginnt die Gruppe ihr Überleben zu organisieren. Sie brechen in die verlassenen Häuser ein, versorgen sich mit Lebensmitteln und ergreifen vom Dorf Besitz. Doch dieser anarchisch-paradiesische Zustand einer solidarischen Kindergemeinschaft findet ein jähes Ende, als die Dorfbewohner zurückkehren. Sie etablieren erneut ihr Erwachsenenregime. Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!! Kenzaburō Ōe Reißt die Knospen ab... Roman Aus dem Japanischen von Otto Putz S. Fischer Die Originalausgabe erschien 1958 bei Kodansha / Tokyo unter dem Titel ›Me mushiri koo uchi‹ © by Kenzaburō Ōe, 1958 1997 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-10-055209-1 l Ankunft Spät in der Nacht waren zwei Jungen aus unserer Gruppe geflohen, und so hatten wir uns im Morgengrauen noch immer nicht auf den Weg gemacht. Wir verbrachten eine kurze Zeit damit, unsere grünen, steifen Mäntel, die während der Nacht nicht getrocknet waren, in der fahlen Morgensonne aufzuhängen oder auf den ockerfarbenen Fluß zu schauen, der hinter einigen Feigenbäumen jenseits der Straße vor der niedrigen Hecke dahinströmte. Der heftige Regen am Vortag hatte die Straße aufgerissen, und in den scharfgeränderten Rissen floß klares Wasser. Der Fluß war angeschwollen durch den Regen, geschmolzenen Schnee und die Fluten aus dem geborstenen Wasserreservoir und trug mit reißender Geschwindigkeit, unter ohrenbetäubendem Brausen, die Kadaver von Hunden, Katzen und Ratten mit sich fort. Dann versammelten sich Kinder und Frauen aus dem Dorf auf der Straße und starrten uns mit Blicken an, die vor Neugierde, Scham und stumpfer Unverschämtheit vibrierten. Leises, fiebriges Flüstern war zu hören und abruptes Gelächter, was uns wütend machte. Für sie waren wir Wesen aus einer anderen Welt. Einige von uns näherten sich der Hecke, um ihre kleinen, unterentwickelten Penisse, die rötlichen Aprikosen glichen, vor den Dorfbewohnern zur Schau zu stellen. Eine Frau in mittleren Jahren drängte sich durch die kichernde, aufgeregte Schar und blickte, die Lippen erregt gespitzt, auf die Geschlechtsteile und berichtete dann lachend, die Wangen dunkelrot verfärbt, mit obszönen Worten einigen Freundinnen, die Säuglinge auf dem Arm hatten. Wir aber hatten uns bereits wieder und wieder in verschiedenen anderen Dörfern an diesem Spiel delektiert, und die schamlosen Überreaktionen der Bauersfrauen angesichts der Beschneidungen, die unter 4 Jugendlichen in Besserungsanstalten üblich waren und unsere Geschlechtsteile verunstalteten, bereiteten uns kein Vergnügen mehr. Deshalb beschlossen wir, die Dorfbewohner, die hartnäckig auf der anderen Seite der Hecke verharrten und uns nicht aus den Augen ließen, vollständig zu ignorieren. Wir gingen auf unserer Seite der Hecke auf und ab, wie Tiere in einem Käfig, oder setzten uns auf von der Sonne getrocknete Trittsteine und starrten auf die schwachen Schatten von Blättern, deren schwankende bläuliche Umrisse wir auf der dunkelbraunen Erde mit den Fingern nachzeichneten. Nur mein kleiner Bruder, der sich über die Hecke beugte und dabei die Vorderseite seiner Jacke beim Kontakt mit den harten, ledrigen Blättern der Kamelien naßmachte, die feucht vom Nebel waren, beobachtete seinerseits aufmerksam die Dorfbewohner. Für ihn waren die Dorfbewohner äußerst bizarre Wesen aus einer anderen Welt, die seine Neugierde erregten. Von Zeit zu Zeit rannte er auf mich zu und erzählte mir, während sein heißer Atem über mein Ohrläppchen strich, enthusiastisch, mit vor Aufregung schwankender Stimme, was er gesehen hatte: die von Entzündungen entstellten Augen der Dorfkinder, ihre aufgesprungenen Lippen, die rissigen Finger der Dorffrauen, von der Feldarbeit schwärzlich verfärbt und zerschunden. Angestarrt von den Augen der Dorfbewohner, empfand ich Stolz über die rosig leuchtenden Wangen meines Bruders und die Schönheit seiner feuchten Iris. Dennoch, um vor jenen, die sie beobachten, sicher zu sein, ist es für Wesen aus einer anderen Welt, seltenen Tieren in Gefangenschaft, am besten, eine willen- und augenlose Existenz zu führen, wie Steine, Blumen oder Bäume -eine Existenz, die ausschließlich daraus besteht, betrachtet zu werden. Da mein Bruder hartnäckig darauf bestand, das Auge zu sein, das die Leute aus dem Dorf beobachtete, passierte es ihm ab und zu, daß seine Wangen von Spuckeklumpen, die die 5 Dorffrauen mit ihren dicken, gelblichen Zungen gerollt hatten, getroffen wurden oder von Steinen, welche die Kinder nach ihm warfen. Mein Bruder jedoch nahm strahlend lächelnd sein mit Vögeln besticktes Taschentuch zur Hand, wischte sich das Gesicht ab und starrte weiter auf die Menschen aus dem Dorf, die ihn beleidigt hatten, seine Augen leuchtend vor grenzenloser Bewunderung. Das bedeutete, daß sich mein Bruder noch nicht recht an die Existenz eines Beobachteten, die Situation eines Tiers im Käfig, gewöhnt hatte. Ganz anders der Rest von uns: Im Gegensatz zu ihm waren wir mehr als nur daran gewöhnt. Tatsächlich waren wir die eigenartigsten Dinge gewohnt. Tag für Tag blockierten Hindernisse unsere Wege, an die wir uns gewöhnen mußten, während unsere Körper und Seelen aufs extremste verletzt wurden, und wir hatten keine andere Wahl, als uns an diesen Hindernissen die Köpfe einzuschlagen. Verprügelt zu werden, zu bluten und zusammenzubrechen - das waren lediglich allererste Übungen. Unsere Kameraden, denen man einen Monat lang die Pflege von Polizeihunden übertrug, waren in der Lage, mit Geschick obszöne Figuren in die Wände und Dielenbretter zu ritzen, mit deformierten kindlichen Händen, die von kräftigen Kiefern gebissen worden waren, wenn sie allmorgendlich den hungrigen Hunden das Fressen gaben. Als aber später an diesem Morgen unsere zwei geflohenen Kameraden im Gefolge eines Polizisten und des Erziehers zurückkehrten, verloren selbst wir die Fassung. Man hatte die beiden gnadenlos zusammengeschlagen. Während sich der Erzieher und der Polizist unterhielten, umringten wir unsere tapferen Kameraden, deren Flucht fehlgeschlagen war. Getrocknetes Blut klebte an ihren zerfetzten Lippen, die Augen waren schwarz umrandet und die Haare feucht von Blut. Ich zog ein Alkoholfläschchen aus dem Sack mit meinen Siebensachen, reinigte ihre zahlreichen Wunden und bestrich sie mit einer Jodtinktur. Der Ältere der 6 beiden, ein Junge mit kräftigem Körperbau, hatte eine Prellung an der Innenseite des Schenkels, an der Stelle, wo er getreten worden war, aber wir hatten nicht die leiseste Ahnung, wie wir sie behandeln sollten, als er das Hosenbein hochkrempelte. »Ich wollte in der Nacht durch den Wald in Richtung Hafen fliehen. Und dann wollte ich mit einem Schiff in den Süden«, sagte der Junge voller Bedauern. Plötzlich brachen wir alle in ein rauhes Gelächter aus, obwohl wir immer noch angespannt waren. Der Junge hatte eine unstillbare Sehnsucht nach dem Süden und konnte ganze Tage damit verbringen, darüber zu erzählen, und so nannten wir ihn ›Minami‹*. »Dann aber haben mich Bauern entdeckt und verdroschen! Wo ich ihnen doch nicht einmal eine einzige Kartoffel geklaut habe. Die Schweine haben mich wie ein verdammtes Wiesel behandelt.« Ein Seufzen ging durch unsere Reihen, voller Bewunderung für den Mut der beiden, erfüllt von Wut über die Brutalität der Bauern. »Na, sag's ihnen! Viel hätte nicht gefehlt, und wir wären auf der Straße gewesen, die zum Hafen führt, was! Wir hätten uns nur noch an einen Laster hängen und verstecken müssen, und schon wären wir beim Hafen gewesen.« »Hm«, sagte der Jüngere der beiden kraftlos. »Viel hätte nicht gefehlt.« »Und alles für die Katz!« sagte Minami und fuhr mit der Zunge über seine verletzten Lippen. »Alles nur wegen deiner Bauchschmerzen!« »Ja«, meinte der Junge, blaß im Gesicht und noch immer gepeinigt von hartnäckigen Schmerzen im Bauch, und blickte vor Scham zu Boden. »Die Bauern haben dich verprügelt?« fragte mein Bruder mit glänzenden Augen. * Minami = Süden 7 »Was? Nein, verprügelt hat mich keiner!« antwortete Minami voller Stolz und Verachtung. »Aber ich bin total fertig, weil ich mir die Schweine vom Hals halten mußte. Die hatten Schaum vorm Maul, als sie meinen Arsch mit Feldhacken bearbeiten wollten.« Mein Bruder seufzte hingerissen und traumverloren. »Hacken auf deinem Arsch!« Als der Polizist die Menschenansammlung jenseits des Zauns verjagt hatte und anschließend abmarschiert war, rief uns der Erzieher zusammen. Als erstes schlug er Minami und seinem von Bauchschmerzen gepeinigten Komplizen auf die zerschundenen Lippen, ihre Kinnbacken mit frischem Blut besudelnd, dann verdonnerte er sie zu einem Tag Essensentzug. Das war eine milde Strafe, und da die Art, wie er zugeschlagen hatte, in nichts an einen Gefängniswärter erinnerte, sondern von einem - wie wir es nannten - feinen männlichen Geist zeugte, schlossen wir uns abermals zu einer engverschworenen Gemeinschaft zusammen, zu der auch er gehörte. »Und laßt gefälligst eure lächerlichen Fluchtversuche!« sagte der Erzieher, dessen jugendlich wirkender Hals anschwoll und sich rötete. »Hier in den Dörfern tief in den Bergen könnt ihr fliehen, wohin ihr wollt - die Bauern werden euch auf jeden Fall erwischen, bevor ihr eine Stadt erreicht. Sie hassen euch wie die Lepra. Durchaus möglich, daß sie euch töten. Für euch ist es schwieriger, von hier abzuhauen als aus einem Gefängnis.« So war es. Nach den Erfahrungen mit unseren mehrfachen Fluchtversuchen, die wir auf unserem Zug von einem Dorf zum anderen gemacht hatten, und deren Scheitern wußten wir, daß uns endlose Mauern umgaben. In den Dörfern glichen wir Dornen, die sich in Haut und Fleisch bohrten. Von einem Moment zum anderen umzingelten uns Menschen, wie dick werdendes Fleisch, die uns erstickten und uns dann ausstießen. Die Bauern, von Kopf bis Fuß gekleidet in die Rüstung ihrer 8 exklusiven Zusammengehörigkeit, lehnten es ab, uns durchziehen zu lassen - geschweige denn, daß sie uns ein Eindringen in ihre Gemeinschaft erlaubten. Unsere kleine Gruppe trieb auf einem Meer dahin, das alle Fremden wieder ausspie, ohne sie jemals aufgenommen zu haben. »Ich will damit sagen, daß wir die beste Methode gefunden haben, um euch einzusperren. Selbst der Krieg hat seine nützlichen Seiten«, meinte der Erzieher und entblößte seine kräftigen Zähne. »Ich wäre nicht in der Lage, Minamis Vorderzähne auszuschlagen. Dazu bräuchte es schon einige Bauern mit starken, prächtigen Fäusten!« »Ich bin mit einer Hacke geschlagen worden«, sagte Minami glücklich. »Von einem klapprigen alten Idioten.« »Halt den Mund, wenn du nicht gefragt wirst!« brüllte der Erzieher. »Wir brechen in fünf Minuten auf, macht euch fertig! Ich möchte bis zum Abend an unserem Zielort sein. Wenn ihr herumtrödelt, gibt's nichts zu essen! Beeilt euch gefälligst!« Unter Geschrei löste sich unsere Versammlung auf, und wir rannten, um unsere Sachen zu packen, zu dem alten Schuppen, einer Lehranstalt für die Zucht von Seidenraupen, die uns einen Tag lang als Unterkunft überlassen worden war. Fünf Minuten später, wir wollten gerade aufbrechen, übergab sich Minamis Komplize bei der fehlgeschlagenen Flucht leise stöhnend an der Hecke und spuckte fahle rötliche Kotze auf den Boden. Wir stellten uns auf der Straße in einer Reihe auf, sangen das feminine, laszive, schwerfällige Anstaltslied mit seinem schockierenden Text und brüllten aus voller Kehle den langen Refrain, der vollgestopft war mit religiösen Metaphern - bis sich sein akuter Anfall von Magenschmerzen gelegt hatte. Zutiefst erstaunte Dorfbewohner umstanden uns fünfzehn unterernährte singende Jungen in unseren grünen Mänteln aus wasserdichtem Stoff. Das Gefühl der Erniedrigung, das wir tagtäglich erlebten, tobte in uns, begleitet von düsterer Wut. 9 Nachdem der Junge sich übergeben hatte, schloß er sich unserer Marschkolonne an, wobei er, geräuschvoll schniefend, die Getreidekörner hochzuziehen versuchte, die in seiner Nase steckten, und wir trampelten in unseren Stoffschuhen los, hastig den Refrain der dritten Strophe brüllend. Es war eine Zeit des Mordens. Gleich einem lange andauernden Hochwasser überflutete der Krieg mit seinem kollektiven Wahnsinn die feinsten Verästelungen menschlicher Gefühle, die verstecktesten Winkel ihrer Körper, die Wälder, die Straßen und den Himmel. Ein Soldat, der in einer Maschine urplötzlich vom Himmel herunterschoß - ein junger, blonder Luftwaffensoldat, der im teilweise transparenten Rumpf seines Flugzeugs obszön sein entblößtes Gesäß zeigte -, hatte im Tiefflug das altmodische Ziegelgebäude, in dem wir untergebracht waren, und sogar dessen Innenhof mit einem wahnsinnigen Sperrfeuer belegt; und als wir früh am Morgen, in einer Reihe marschierend, die Anstalt verließen, um zur Arbeit zu gehen, lehnte am Tor mit seinem bösartigen Stacheldrahtverhau eine soeben an Hunger gestorbene Frau, die plötzlich dem Erzieher, der uns anführte, vor die Füße kippte. In fast allen Nächten, und mitunter sogar tagsüber, erhellten nach Luftangriffen Feuersbrünste den Himmel über der Stadt oder verschmierten ihn mit schwärzlichem Rauch. Es ist der Aufzeichnung wert, daß man in jener Zeit, als wahnsinnige Erwachsene verzweifelt durch die Straßen irrten, mit seltsamer Leidenschaft fortgesetzt Menschen hinter Gitter brachte, die am ganzen Körper eine glatte Haut aufwiesen oder nur einen kastanienbraunen Flaum, Menschen, die sich unerheblicher Vergehen schuldig gemacht hatten, darunter auch welche, denen man lediglich Neigungen zu jugendlicher Kriminalität zuschrieb. Als die Luftangriffe heftiger wurden und allerorten Zeichen des nahenden Endes sichtbar wurden, begannen Eltern, ihre 10

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