REINKE DE VOS Nach der Ausgabe von Friedrich Prien herausgegeben von ALBERT LEITZMANN mit einer Einleitung von KARL VORETZSCH 3. durchgesehene Auflage mit Vorwort von WILLI STEINBERG VEB MAX NIEMEYER VERLAG • HALLE (SAALE) 1960 Altdeutsche Textbibliothek, begründet von Hermann Paul Nr. 8 Alle Rechte, auch da« der Übersetzung io fremde Sprachen, vorbehalten. Veröffentlicht uoter der Lizenz»Nr. 259-315/22/60 Druck: F. Uli mann KG. Zwickau/Sa. I1I/29/2 Buch bin der ¡»che Verarbeitung; C. Scfaremmel. Leipzig Vorwort Da die im Jahre 1925 von Albert Leitzmann besorgte und mit einer umfangreichen, von der Forschung größten- teils zustimmend aufgenommenen Einleitung von Karl Voretzsch versehene letzte Ausgabe des „Reinke de Vos" in der Altdeutschen Textbibliothek1) bereits seit langem vergriffen ist, hat sich der Verlag zu einer Neuauflage dieser größten mittelniederdeutschen Dichtung ent- schlossen, um so eine schmerzlich empfundene Lücke in der Seminarlektüre des akademischen Unterrichts zu schließen und der Erforschung der mittelniederdeutschen Sprache und Literatur durch Wiederbereitstellung des bewährten Textes neue Entfaltungsmöglichkeiten zu er- öffnen. Unser Versepos „Reinke de Vos", ein „Meisterwerk der mittelniederdeutschen Dichtung"2), das ihren Gipfelpunkt darstellt, sollte wie die bei zahlreichen Völkern und zu den verschiedensten Zeiten in großer Zahl existierenden Tier- dichtungen von der Batrachomyomachia, dem Frosch- mäusekrieg, bis hin zu Heinrich Heines „Atta Troll" in erster. Linie der Belehrung und der in die Welt der Tiere verlegten und so leicht verhüllten, satirischen Darstellung von Schwächen und Gebrechen der menschlichen Gesell- schaft dienen; ihrem Makrokosmos durch Tiertypen in einem Mikrokosmos den Spiegel vorzuhalten und seine Mitmenschen zu bessern, ist das Hauptanliegen auch un- seres „Reinke de Vos": „Eyn yslyk schal syk tor wyßheyt kerenJDat quade to myden vnde de dögede leren.¡Dar vmme »'s dyt boek ghedychtJDyt is de syn vnde anders nicht./Fa- ') Reinke de Vos. Nach der Ausgabe von Friedrich Prien neu heraus- gegeben von Albert Leitzmann. Mit einer Einleitung von Karl Voretzsch. XXXIV, 273 8. und 2 Holzschnitte. Halle 1925 (Altdeutsche Textbibliothek 8). *) Kleines literarisches Lexikon, hrsg. v. Wollgang Kayser, 2. Autl. Bern 1933, S. 470. 1* IV belen vnde sodaner bysproke mere/Werden ghesath to vnser lereJVppe dal wy vndoget Scholen myden/Vnde leren wyß- heyt to allen tyden./Dyt boelc is seer gud to deine koepJHir steyt vast in der werlde loep" (6831—6840). Nun ist aber der werlde loep zur Zeit unseres Dichters offenbar nicht der beste, denn von einer bloß beobachtenden, das mensch- liche Treiben etwa nur kühl von der hohen Warte des Geistlichen und mit weltverachtender Geringschätzigkeit ironisierenden Position gelangt er stellenweise zu einer Gesellschaftskritik, die oftmals mit einer Direktheit, Heftigkeit, Tiefgründigkeit und Konsequenz vorgetragen wird, die den unbekannten Verfasser, einen Geistlichen aus Lübeck, als einen immens scharfsinnigen, unbestech- lich wahrhaftigen und die Gerechtigkeit über alles lieben- den Mann und dazu großen Künstler erweist, dessen Mut zur Gesellschaftskritik auch selbst nicht vor den mensch- lichen Schwächen der höchsten Autoritäten seiner Zeit, weder der weltlichen, noch der geistlichen, erlahmt, wenn- schon er deren Existenz letztlich selbstverständlich unan- getastet lassen muß. Ohne hier auf den historischen Hintergrund dieser Gesellschaftskritik näher eingehen zu können, sei lediglich auf einige Angriffe hingewiesen, in denen die häufigen blasphemischen Reden und direkten Anspielungen Reinkes gipfeln und die ihresgleichen suchen. Das quade und die vndoget sieht unser Dichter allenthalben in der Welt die üppigsten Blüten treiben. Wer wird dem slymmen bbzen keiyff Reinke seine skrupellosen Gewalt- taten und Verbrechen an seinen Mittieren, die durch ihre leichtgläubige Dummheit dem Bösen nach Kräften selbst Handreichung bieten, denn „se synt ock eyn deel so rechte plump,jln allen saken groff vnde stump" (3851—52), an- kreiden dürfen, da er ja doch, wie er selbst fühlt, nur ein Kind seiner verderbten Zeit ist und die Prälaten und sogar der König selbst noch größere Reinkes sind: „Id is »» eyne varlyke tyd;jWente de prdaten, de nu sydJSe ghan vns vore, so men mach seen./Dyt merke wy anderen, groet vnde Ideen./We is, de des nicht enlouetJDat de konnynck V ok nicht mede rouett/Ja, ysset, dat he yd nicht en nympt suluen,/He leih yd doch holen by baren vnde wuluen./Doch menet he al, he doet myt recht./Neen is, de eme de icarheyt »echt/Edder de dor spreken: ,yd is ouel gliedern',/Nicht syn bychtfader, noch de kappdlan.j Wor vmme ? werde se ghenetens al mede,IAI were yd ock men to eyneme klede" (3863—3876). „Wente de lauwe is yo vnse here/Vnde holt yd al vor grote ere,jWat he to «yk rapen kan/" (3885—87), stiehlt aber der kleine Mann, der arme Reinke, in seiner Not auch nur einmal ein Huhn, dann ,,ropen alle, men schal ene hangen" (3910), denn „de kleynen deue hengetmen tctchJDe graten hebben nu starck vorhechJDe mothen vorstaen borghe vnde lant" (3911—13). Allenthalben beobachtet Reinke eine maßlose Gier nach Geld, Besitz und Macht: „Dat ghelt hefl nu de oueren haut'1 (3989), und an dieser schwachen Stelle weiß er ja den König auch immer wieder zu fassen. Selbst den Klerus sieht Reinke den gleichen Idolen nachjagen, wie es König und Fürsten tun, auch sie fordern unmäßige Abgaben von ihren vndersaten (3990—93), dagegen gibt es aber „vele papen in LomberdyenJDe ghemeenlyken hebben ere eigene amyen", und Reinke fügt blasphcmisch hinzu: „Men nicht en syn de in desseme lande" (3973—75), und er fragt weiter: ,,Wat »pricktmen van des pawests legatenJVan abbeten, prouesten efte anderen prelatenjBe- ghynen, nonnen, ya we se ok syn?jld is al: geuet mi dat iuwe, latet my dat myn.jM.en vyndet manckt teynen nauwe seuenJDe recht in ereme orden leuen:/So swack is nu de gheystlyke stad" (4065—71). Immer wieder sehen wir Reinke über die Ursachen dieser Zustände grübeln, daraus die praktischen Schlüsse ziehen und für sich skrupellos das Beste hieraus machen. Wer in dieser korrupten Welt, so meint der Dichter, sei es am Hof des Königs oder in der Umgebung des Papstes, Reinkes Skrupellosikeit nicht besitzt, der ist heutzutage nicht viel wert, der bringt es zu nichts, und mit Anständigkeit sei nichts zu errei- chen, denn Reinkes Geschlecht ist jetzt an der Macht: „Ja, de sus noch kan Reynkens kunstJSyn wol ghehoret VI vnde leffghetalj By den her in ouer al.¡laset gheystlyk efte wertlyk stadjAn Reynken slut nu meyst de rad./Reynkens siechte is grod by machtj Vnde wasset alle tyd, ya, dach vnde nacht./De Reynkens kunst nicht heft ghelerdJDe is tor werlde nicht vele werdJSyn loord wert nicht draden ghe- hord;/Men myt Reynkens kunst- kumpt mannich vord/Dar sytn vele Reynken nu in der warde/(Wol hebben se nicht al rode barde)/Isset in des pawes efte keysers hoff.jSe makent eyn deel nu yo to groß" (6756—6770). So findet er auch; daß die Standesunterschiede, die das Recht zum Unrecht geben, und die soziale Herkunft einen Menschen nicht von selbst zum Guten führen, sondern daß es allein darauf ankommt, was der Mensch selbst aus sich macht, ob er in doget oder vndoget lebt: „De ghebort maket nicht vneddel efte gudJMen döghede efte vndoget, de yslyk doel" (4019—20). Nun ist es aber nicht leicht, unter den herrschenden Ver- hältnissen gut zu werden oder zu bleiben, denn letztlich muß man eben doch wie Reinke van nauwen vunden, loß vnde quad sein, um sich in dieser Welt durch rücksichtsloses Intrigieren in Gunst und Macht setzen und sich nur so behaupten zu können, denn „de werlt is vul van achter- klapperyeJVul loggen, vul vntruwe, vul deuerye./Vorradent, valsche ede, roeff vnde mord,/Alsodanes wert nu gantz vele ghehort.j Valsche profeten, valsche ypocriten,/Ja, desse de werlt nu meyst beschyten" (3953—58); nur wer Reynkes kunst gut beherrscht und „de Reynkens lyst nu bruken kanJDe wert ok draden eyn vpperman" (6775—76). — „So hat der Lübecker aus dem ,Reinke' bewußt und planmäßig eine Ständesatire gemacht, die an die Gesellschaftsordnung des mittelalterlichen Staates rührt und ihr Teil zu den Forderungen nach politischer, kirchlicher und religiöser Reform beiträgt"1). Mit der Vorgeschichte und Weiterwirkung des „Reinke de Vos", wie auch mit Einzelproblemen zu seiner Sprache l) Gerhard Cordes, Alt-und mittelniederdeutsche Literatur. In: Deutsehe Philologie im Aufriß, hrsf. v. Wolfgang Stammler, Bd. II (1954) 3. Abt., Spalte 411. VII und Textgestalt, hat sich die Forschung immer wieder beschäftigt. In aller Kürze sollen hier in Auswahl einige der seit 1925 über diese Dichtung erschienenen Arbeiten genannt werden, ohne hierbei lückenlose Vollständigkeit anstreben zu wollen. Da seien zunächst einige Besprechun- gen der Leitzmannschen Reinke-Ausgabe von 1925 an- geführt, die im allgemeinen zustimmend, teils sogar lobend, ausfielen. Wohl zweifelte J. \V. Muller in seiner Rezension1) zunächst an der Notwendigkeit, Priens Ausgabe durch eine neue zu ersetzen, wie er auch Leitzmanns Arbeits- anteil an der Neuausgabe wohl etwas zu gering anschlägt, wenn er meint: „Leitzmann's aandeel in dezen arbeid althans schijnt mij noch bovenstaande weidsche benaming te verdienen, noch zer noodig, noch ook zelfs in allen deele nuttig te zijn geweest", andererseits aber hebt er die „rnet volkomen meesterschap over de stof" von Karl Voretzsch geschriebene Einleitung als einen Gewinn jener Ausgabe hervor. Freudiger begrüßt wurde Leitzmanns Kdition von Ludwig Wolff, der ihr ebenfalls eine Besprechung widmete2) und so urteilte: „Die gesichtspuncte, von denen sich der herausgeber bei der willkommenen neubearbeitung hat bestimmen lassen, muß man als einsichtig anerkennen, sie werden der aufgabe, welche die bände der Altdeutschen textbibliothek zu erfüllen haben, voll gerecht". Den in der Einleitung von Voretzsch enthaltenen Darlegungen stimmte Wolff im allgemeinen zu, er möchte aber dem niederdeutschen Bearbeiter hinsichtlich der Einteilung des „Reinke des Vos" in Bücher und Kapitel, der Über- schriften usw. mit dem Hinweis auf die Culemannschen Bruchstücke und unter Berufung auf Prien3) eine größere Selbständigkeit eingeräumt wissen als es Voretzsch tut. Weitere beifällige Besprechungen lieferten Hermann Teuchert1) und F. Piquet5). — In einer gedruckt vor- l) In: Museum. Maandblad voor philoloerie en ge^ehiedenig. Jahrg. H. 6 (l«i(i) Sp. 151—15;"). •) AfdA. 45, 2. 3. (1926) S. 1031t. ») PBB. 8 (1882) S. 1—53. •) ZfdPh. 52 (1U2<) 8. 180/. *) Revue germanique 1?, 130. VIII liegenden Hamburger Doktorschrift mit dem Thema „Der Verfasser der jüngeren Glosse zum Reinke de Vos" kam Ella SchafTerus 1933 zu dem Ergebnis, „daß wir mit einem hohen Grade der Wahrscheinlichkeit Ludwig Dietz als den Verfasser der protestantischen Glosse zum Reinke de Vos bezeichnen können". Dem Verhältnis des „Reinaert II" zu unserem „Reinke des Vos" ging Gerhard Cordes 1939 in einer Abhandlung nach6). Kleinere Arbeiten zu Teil- problemen lieferten : E. Damköhler, Zu Reinke de Vos. Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprach- forschung, Jahrg. 1928/29, Heft 42, S. 47; R. Bülck, .Reineke Fuchs' als Lehrgegenstand im 18. Jahrhundert. Nd. Kbl. 43, S. 13; E. Damköhler, Zu Reinke de Vos. Nd. Kbl. 43, 2, S. 31 ; Agathe Lasch, Zu Reinke de Vos. Nd. Kbl. 43, 4, S. 60. Tierpsychologisch sah B. Schmidt die Dichtung (B. Schmidt, Reineke Fuchs, tierpsycho- logisch gesehen. Die Propyläen, 36. Jahrg., S. 60), und „A propos de l'iconographie du „Reinaert" au XVe siècle Du „Dialogus creaturarum" 1480 au „Reinke de Vos" 1498" arbeitete Paul de Keyser (Gutenberg-Jahr- buch 1939, Mainz, S. 158 ff.). — J. Havemann, Geschichte der schönen Literatur in Lübeck, Lübeck 1926; ders., Die Anfänge der schönen Literatur in Lübeck, Lübecker Bucht 1, S. 136—141; ders., Zweierlei Dichtungen im mittel- alterlichen Lübeck, Lübecker Bucht 1, S. 181 ff. ; Reineke Voss: Faksimiledruck einer Seite aus den Ausgaben von 1498 und 1592, in: Niedersachsenbuch 1927, S. 17. 59; A. Wallner, Zu dem Ausdruck: na dem Kyle, ZfdA. 64 (1927), S. 95f.; nur kurz behandelt wird „Reinke de Vos" von Friedrich Wilhelm Strothmann in seiner Arbeit „Die Gerichtsverhandlung als literarisches Motiv" (Jena 1930); N. Lévoz, Reinaert und Reinke de Vos., Diss. Lüttich 1935/36; G. Daeglau, Reineke Fuchs jubiliert! Bücher- kunde d. Reichsst. z. Förderg. d. dt. Schrifttums, Bay- reuth X (1943), S. 210ÎT.; S. A. Krijn, Een oud-ijslands •) Gerhard Cordes, „Reinaert" und „Reinke de Vos". In: Flandern-Nie- deraeutschland. Ein Gemeinschaftswerk von Flamen und Niederdeutschen. Hrüg. V. H. Schtttt. Hamburg 1939 (= Aus Hansischem Raum Bd. 8). IX liedje van de vos. Neophilologus (1925), S. 43IT.; über die Namen im „Reinke des Vos" arbeiteten z. B.: Gerhardus de Vries (Nd. Kbl. 45,1/2 (1932), S. 43f.); Sprenger (Nd. Kbl. 24,38); Leitzmann (Nd. Kbl. 43,62); Baethcke (Nd. Kbl. 45, 3, S. 77 IT.); Ernst Christmann (Hess. Bll. f. Vkde. 41 (1950), S. 100—117); — Paul Holt, Über den Quellenwert der „Reynardus vulpes" vom Jahre 1279. (Jahrb. d. Köln. Geschichtsvereins, Bd. 25 (1950), S. 128 bis 144). — Von modernen Bearbeitungen und Übertra- gungen, auch in fremde Sprachen, seien schließlich ge- nannt: Wilhelm Fronemann, Reineke der Fuchs. Nach der niederdeutschen Ausgabe des „Reinke de Vos" von 1498 erzählt. Düsseldorf 1953; Reinecke der Fuchs, Text von Heinz Scholz, Bilder von Josef Ste ndl, Wien 1955; Bern- hard Oest, Reineke Fuchs. Nach der Lübecker Ausgabe von 1498. Köln 1948; Ivu Alexandra Odobescu, Meister Reineke. Illustr. v. A. Alexe. Bukarest 1956; Adolf Glaß- brenner, Neuer Reineke Fuchs. Hrsg. v. Dr. Kurt Bött- cher, illustr. v. Prof. H. Grundig, (Berlin) 1957. Über die Herrichtung dieser Ausgabe des „Reinke de Vos" bleibt nicht viel zu sagen, da der Text selbst, die Ginleitung von Voretzsch, Leitzmanns Anmerkungen, das Glossar und die Culemannschen Bruchstücke unverändert nach der letzten Ausgabe von 1925 abgedruckt werden, so daß der vorliegende Text wie schon der Priens von 1887 den ersten Lübecker Druck von 1498 getreu wiedergibt, wobei nur die offensichtlichen, auch von Leitzmann über- sehenen, Druckfehler beseitigt wurden. So möge denn der alte „Reinke de Vos" erneut hinaus- gehen, „Vppe dat wy vndoget Scholen myden Vnde leren wyßheyt to allen tyden". Halle/Saale. 20. 8. 1959 Willi Steinberg