Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Lettre Tim Mehigan, Alan Corkhill (Hg.) Raumlektüren Der Spatial Turn und die Literatur der Moderne BBiibblliiooggrraaffiisscchhee IInnffoorrmmaattiioonn ddeerr DDeeuuttsscchheenn NNaattiioonnaallbbiibblliiootthheekk Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deut- schen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ©© 22001133 ttrraannssccrriipptt VVeerrllaagg,, BBiieelleeffeelldd Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages ur- heberrechtswidrigundstrafbar.DasgiltauchfürVervielfältigungen,Überset- zungen,MikroverfilmungenundfürdieVerarbeitungmitelektronischenSys- temen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Tim Mehigan, Alan Corkhill Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2099-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected] Inhalt Vorwort Tim Mehigan, Alan Corkhill | 7 I. PHILOSOPHIE UND ÄSTHETIK DES RAUMS AUFKLÄRUNG – KLASSIK – ROMANTIK Der poetische Raum Überlegungen zu einer konfigurativen Poetik Martin Endres | 23 Die Entweltlichung der Bühne Zum Raumregime des Theaters der klassischen Episteme Franz-Josef Deiters | 39 Weltraum und Subjektraum Zum Konzept des inneren Universums bei Novalis Philipp Weber | 55 Die ästhetische Funktion des Raumes Jean Pauls DES LUFTSCHIFFERS GIANNOZZO SEEBUCH Victoria Niehle | 69 Raumkonfigurationen in E.T.A. Hoffmanns Roman LEBENS-ANSICHTEN DES KATERS MURR Giulia Ferro Milone | 87 II. RAUMPERSPEKTIVIERUNGEN ZWISCHEN REALISMUS UND JAHRHUNDERTWENDE Space and Ambiguous Sentimentality Theodor Storm’s DIE SÖHNE DES SENATORS Michael White | 107 Die kranke Stadt und das gesunde Land Zu einem Diskursfeld um 1900 Stefan Rehm | 123 Raumpraktiken in den Romanen Theodor Fontanes Mit besonderem Blick auf Michel de Certeaus Raumtheorien Susanne Ledanff | 147 III. RAUMENTWÜRFE IM 20. JAHRHUNDERT Richard Kandts Reisebericht CAPUT NILI Die Konstruktion moderner Identität im Raum des Anderen Mirah Shah | 167 Anderer Raum und moderne Erkenntnis bei Carl Einstein Julia Kerscher | 189 Die Großstadt als Chronotopos Walter Benjamins BERLINER KINDHEIT UM NEUNZEHNHUNDERT und Michail Bachtins Raumzeit-Konzeption Moritz Wagner | 211 Raum-Bilder Strategien der Visualisierung und Spatialisierung in André Bretons surrealistischen Erzähltexten NADJA und L’AMOUR FOU Susanne Gramatzki | 235 Textflächen Zur Interferenz von Konkreter Poesie und urbanem Raum Ulrich Kinzel | 257 »Der Entwicklungsroman ist verreckt« Versperrte Räume in der Prosa des Neuen Realismus Ingo Irsigler | 277 IV. RAUM UND ›MODERNE‹ Panoramatisches Erzählen in der Moderne Ruth Neubauer-Petzoldt | 297 Autorinnen und Autoren | 317 Vorwort TIM MEHIGAN, ALAN CORKHILL I. Das Thema »Raum« beschäftigt uns schon lange und aus gutem Grund. Von der Malerei ausgehend bezeichnet Mark Rothko in seinen 2004 posthum veröffentlich- ten Essays The Artist’s Reality: Philosophies of Art den Raum als »the chief plastic manifestation of the artist’s conception of reality«.1 Ernst Cassirer hielt ihn für das logische Problem, in dem das wissenschaftliche Denken verankert ist (Cassirer 1969, 380). Immanuel Kant erhob den Raum zu einem formalen Aspekt des Den- kens, um klarzustellen, dass keine Philosophie stattfinden kann, ohne dass der Raum an zentraler Stelle berücksichtigt wird. Die Frage nach dem Raum zeigt sich also von mehreren Standpunkten her als untrennbar damit verbunden, wie wir uns im Zeitalter der Moderne die Verfahrens- bzw. Darstellungsweise der Kunst, der Wissenschaft und der Philosophie überhaupt vorzustellen haben. Angesichts der unleugbar großen Signifikanz des Gegenstands überrascht es ge- radezu, wie wenig die Dichter darüber zu sagen haben. Es gibt in der Literatur der Moderne nur wenige Autorenaussagen, die programmatisch durchblicken lassen, dass an das für die Kunst als zentral zu erachtende Darstellungsproblem ein tiefgrei- fendes Raumproblem geknüpft ist, und so gut wie keine, die sich mit Kants Ausfüh- rungen über die Bedeutung des Raums für das Philosophieren vergleichen ließen. Zu denken wäre vergleichsweise etwa an Gotthold Ephraim Lessings Abgrenzung eines Standpunkts für die Literatur im Gegensatz zu den bildenden Künsten in seiner Abhandlung Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und der Poesie aus dem Jahre 1766, Hugo von Hofmannsthals Erörterungen zum Stand der herkömm- lichen Darstellungsmöglichkeiten im Hinblick auf die erlebte Realität in seinem 1 Mark Rothko: The Artist’s Reality: Philosophies of Art. Der Text wird künftig unter der Sigle [AR] mit Angabe der Seitenzahl zitiert; deutsche Übersetzungen ggf. durch die Verf. 8 | TIM MEHIGAN, ALAN CORKHILL Chandos-Brief von 1902, und – je nachdem, ob wir ihn als Philosophen oder als Dichter verstehen – Friedrich Nietzsches Anwendung einer »genealogischen« Me- thode, um die Ziele der Philosophie neu zu formulieren, ein Vorgang, den er in seinen späteren Schriften als »Umwertung aller Werte« bezeichnet. Bei allen diesen Vorhaben werden die begrifflichen Ausmaße der Raumproble- matik jedoch mit Vorliebe ganz anderen Fragen untergeordnet: Bei Lessing, der Beschreibung der besonderen Eigenschaften der Dichtkunst im Vergleich mit der Skulptur und der Malerei; bei Hofmannsthal, der Inkongruenz zwischen der literari- schen Darstellung der Wirklichkeit und den neuen Einsichten über das Leben, die der wissenschaftliche Fortschritt mit sich bringt; bei Nietzsche schließlich, der Frage, wie angesichts der auf Systematik und Ratio verharrenden Verfahrensweisen der Altphilosophie eine ganz neue »Lebensphilosophie« zu etablieren wäre. Bei diesen Vorhaben ist zweifelsohne von Umstellungen der Raumverhältnisse die Rede, aber eher vom zweiten Grad der Betrachtung her, im ersten Stock des neuen Bauwerks sozusagen, aber nicht im Erdgeschoss. Selbstverständlich ist der Umzug in der literarischen Denkweise in das ›Erdge- schoss‹ inzwischen längst vollzogen, aber in der Hauptsache eher durch Kritiker und Wissenschaftler als bei den Künstlern selbst – zu nennen wären in diesem Zusammenhang vor allem Maurice Blanchots bahnbrechende Studie L’espace littéraire (1955), Gaston Bachelards La poétique de l’espace (1958) und La produc- tion de l’espace von Henri Lefebvre aus dem Jahr 1974. Diesen wichtigen Beiträ- gen ist es zu verdanken, dass im Umgang mit literarischen Texten das Thema des Raumes zu neuer Bedeutung avanciert und mit Erfolg in die neuere wissenschaftli- che Diskussion um die Literatur assimiliert worden ist. Homi Bhabhas Begriff vom »dritten Raum des Aussagens« (vgl. Bhabha 1994; Mitchell 1995, 80-84) wäre unter mehreren Entlehnungen von Begriffen aus der Semantik des Raums im jünge- ren kritischen Diskurs als eine der am häufigsten besprochenen zu werten. Bei der älteren Besprechung des Raumproblems verdienen die maßgeblichen Studien von Ernst Cassirer, die sich von der wissenschaftsphilosophischen Ausrich- tung der frühen Abhandlung Substanzbegriff und Funktionsbegriff: Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (1910) bis hin zu dem philosophischen und ästhetischen Elementarfragen gewidmeten dreibändigen Hauptwerk Philoso- phie der symbolischen Formen (1923/29) erstrecken, besondere Erwähnung. Cassi- rer kam es besonders in der Philosophie der symbolischen Formen darauf an, das Auseinanderdriften der zwei »Kulturen« des Wissenschafts- und des Kunstver- ständnisses durch eine von ihm zum programmatischen Status erklärten Hinwen- dung zu den »höchsten theoretischen Formen des Denkens« zu verhindern. Diese höchsten Formen des Denkens, auf deren Erarbeitung Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ausgerichtet ist, sah er an eine grundlegende Problematik des Raumes gekoppelt: VORWORT | 9 »[Die] Abgrenzung [des körperlichen und seelischen Wirkens] vollzieht sich erst, wenn das Bewußtsein die Welt nicht nur als ein Ganzes […] erlebt, sondern wenn es dazu übergeht, die Wirklichkeit dadurch zu begreifen, dass sie ihr feste Substrate unterlegt. Diese Substantiali- sierung ist – auf der Stufe des »konkreten« Denkens […] nur dadurch möglich, daß sie unmit- telbar in die Form einer räumlichen Bestimmung und einer räumlichen Anschauung über- geht.« (Cassirer 2010, 115; Hervorhebungen im Original) So erwies sich der Durchbruch zur Bedeutung von Raumfragen in der Literatur im frühen 20. Jahrhundert als zentral für das ganze Bestreben, die weit voneinander liegenden Gesichtspunkte aus der Wissenschaft und der Kunst bei der Wiedergabe bzw. Gestaltung der Realität in eine neue Beziehung zueinander zu setzen. Dass die Debatte um die »zwei Kulturen« der Naturwissenschaften und der Geisteswissen- schaften in die kritischen und kulturellen Überlegungen der letzten zehn Jahre zu- rückgekehrt ist, scheint vor diesem Hintergrund aufschlussreich. Im vielfach ausge- rufenen »wissenschaftlichen Zeitalter« reichen nämlich die zunftinternen Kategori- engespräche der Literaturwissenschaft allein nicht mehr aus, um Sinn und Form der Literatur zu erklären. Daraus geht hervor, dass eine Neubesinnung auf die Wirk- samkeit von literarischen Basiskategorien weit über den Umfang des gewöhnlichen wissenschaftlichen Interesses hinausgehen muss. Dass bei dieser Neubesinnung auch der Raum in den Blick zu nehmen ist, zeigt die Brisanz dieses Themas in der deutschsprachigen Literaturbesprechung gerade auch der letzten Zeit (vgl. Dün- ne/Günzel 2006; Döring/Thielmann 2008; Hallet/Neumann 2009; Dennerlein 2009). Zu dieser seit Kürzerem wieder aufgelebten Diskussion in der Literaturwissen- schaft möchte der vorliegende Band einen Beitrag leisten. Dass er, wie ein schneller Einblick in das Inhaltsverzeichnis lehrt, epochengeschichtlich gegliedert ist, zeugt weniger von der anhaltenden Dominanz der althergebrachten literaturwissenschaft- lichen Betrachtungsweise als davon, dass bei der Neuüberdenkung des Raumthemas zeitliche Parameter auch weiterhin zentral bleiben. In konkreter Anwendung auf die in diesem Band besprochene Raumproblematik heißt das aber auch, dass von der Süffisanz der euklidischen Grundformen als raumtheoretische Orientierungsbasis grundsätzlich Abschied zu nehmen ist. In vielen Beiträgen dieses Bandes wird der Raum durchweg anti-euklidisch aufgefasst. Dabei wird gerade der Zeit – ganz im Sinne von Michail Bachtins Zeit und Raum vereinigendem Terminus »Chronoto- pos« (vgl. Bachtin 1989) – eine prägende Rolle zugedacht. Auf die Erhellung dieser jeweils in ihrer Eigentümlichkeit aufscheinenden, dem Zeitfluss unablässig ausge- setzten »vierten« Raumdimension kommt es in diesem Band an, auf die Veran- schaulichung jener Groß- und Kleinräume also, bei deren Poetisierung Zeit und Zeiterleben als anthropologische Grundkategorie des Seins der menschlichen Wahrnehmungs- und Verstandesweise eingeschrieben sind. Den Faktor Zeit spart die raumkritische Analyse in diesem Band somit keineswegs aus, sondern sie lässt 10 | TIM MEHIGAN, ALAN CORKHILL deren durch die Menschen konkret erfahrene Eigenheiten in der Fokussierung auf die Raumproblematik auf neue Weise sichtbar werden. II. Die Kunstformen, die der Umgang mit Raumfragen besonders thematisiert, sind – wie nicht anders zu erwarten ist – die Malerei und die Skulptur. Aber auch für die plastischen Künste ist das mit dem Begriff Raum Gemeinte alles andere als offen- sichtlich. Der eingangs erwähnte amerikanische Maler Mark Rothko stellt bei- spielsweise zwei Aspekte heraus, die er bei der herkömmlichen Konstruktion des Raums im Modus des Visuellen für wesentlich hält. Rothko unterscheidet zwischen »taktilem Raum« und »illusorischem Raum«. Ihm ist der »taktile Raum« der Luft vergleichbar, »die zwischen den Gegenständen oder Formen im Bilde existiert [und] so gemalt wird, dass sie selbst als Festes empfunden wird. Das heißt, die Luft in einem taktilen Gemälde wird als echte Substanz dargestellt und nicht als Leere« (AR 56). »Der Künstler« dagegen, »der einen illusorischen Raum erschafft, [...] will die Illusion einer Erscheinung herstellen«. Das ist besonders schwierig, weil die Luft, die am auffallendsten den Raum in einem Gemälde definiert, eigentlich gar nicht zu sehen ist: »Die einzige Art, die Präsenz der Luft als festen Gegenstand auch nur anzudeuten, ist, dass man bestimmte Dunstgebilde in das Bild einführt. Deshalb führen wir z.B. Wolken, Rauch, Nebel und Dunst ein, weil uns nur diese Mittel bleiben, um der Atmosphäre den Anschein der Existenz zu verleihen« (AR 56). Die Anwendung von Dünsten, sowohl bei der Darstellung des Gegenstands selbst, als auch der ihn umgebenden Atmosphäre, ist uns von den Impressionisten her bekannt. In der impressionistischen Malerei soll der Dunst den Schein einer räumlichen Dimension erheben, ohne die Erwartung zu erregen, dass er für deren Realität einsteht – ohne selbst, um mit Rothko zu sprechen, die Kennzeichen des »taktilen Raums« zu besitzen, der bekanntlich einen Druck von 1,0545 kg/cm2 ausübt. Fragen wir nach Sinn und Zweck der Konventionen eines illusorischen Raums in der Malerei, so geraten wir bald in Argumentationsweisen, die uns von den Anwendungen des Illusionismus in der Dichtung bekannt sind: Der Dichter bereitet Skepsis über den Raum des Realismus, den taktilen Raum, einen Modus der Darstellung eines Raumes, der in diesem Fall nicht wahrgenommen wurde; der Künstler kritisiert die Art, wie der Realismus den Raum auffasst, oder er stellt sich eine Alternative vor, die andere ästhetische, philosophische oder sogar politische