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Prof. Dr. Borwin Bandelow Angst-Forscher im Gespräch mit Dr. Ellen Norten Norten PDF

15 Pages·2005·0.05 MB·German
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Preview Prof. Dr. Borwin Bandelow Angst-Forscher im Gespräch mit Dr. Ellen Norten Norten

BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks http://www.br-online.de/alpha/forum/vor0510/20051024.shtml Sendung vom 24.10.2005, 20.15 Uhr Prof. Dr. Borwin Bandelow Angst-Forscher im Gespräch mit Dr. Ellen Norten Norten: Herzlich willkommen beim alpha-forum. Wir beschäftigen uns heute mit der Angst. Aber keine Angst, wir wollen nur schauen, welche Ursachen für Ängste eine Rolle spielen und der Angst ein bisschen den Schrecken nehmen. Dazu haben wir heute Professor Borwin Bandelow von der Universität Göttingen ins Studio geladen. Sie sind ausgewiesener Angstforscher. Wir alle kennen ja das Gefühl der Angst, aber was ist die Angst eigentlich genau? Bandelow: Man kann die Ängste erst einmal einteilen. Da gibt es die realen bzw. notwendigen Ängste: dass man z. B. nicht zu schnell Auto fährt oder dass man Angst vor Kriegen oder vor Krankheiten oder vor Tod oder vor anderen Unglücken haben muss und sich deswegen auch schützen und vorsichtig durchs Leben gehen muss. Auf der anderen Seite gibt es aber auch diese unrealistischen Ängste, also Ängste vor Dingen, vor denen man eigentlich keine Angst haben muss wie z. B. Fußgängerzonen oder Mäuse oder Spinnen, die in unseren Breiten ja nicht wirklich gefährlich sind. Norten: Wir kennen dieses Gefühl ja alle: Die Angst beginnt mit einem Schrecken und dann passiert im Körper Allerlei. Man fängt an zu schwitzen und vielleicht auch zu zittern; es gibt da ja einige Symptome, die für die Angst typisch sind. Bandelow: Ja, eine Panikattacke sieht z. B. so aus, dass man Herzrasen hat, zittert, Schwindelgefühle bekommt und dann so ein Gefühl hat, als würde sich der Magen umdrehen. Man bekommt Luftnot und atmet viel stärker als sonst. Oder man hat auch Angst an einem Herzinfarkt zu sterben. Das sind die körperlichen Ausdrucksformen der Angst. Norten: Sie hatten gesagt, dass es auch realistische Ängste gibt in Bezug auf Sorgen und Probleme. Daneben aber gibt es auch die Ängste, die keine wirkliche Ursache haben. Das ist das Gebiet, mit dem Sie sich als Psychiater, als Neurologe beschäftigen. Man könnte ja sagen: "Das ist Quatsch, solche Ängste muss doch niemand entwickeln!" Aber für die Betroffenen ist das wirklich ein großes Problem. Bandelow: Ja, die meisten Leute, die zu mir kommen, leiden eben unter diesen unrealistischen Ängsten. Da gibt es z. B. einen 32-jährigen Mann, der ständig denkt, er müsste jetzt gleich an einem Herzinfarkt sterben, obwohl er hinsichtlich seines Herzens völlig gesund ist. Da gibt es z. B. eine Frau, die ungern in Fußgängerzonen oder in Supermärkte geht, weil sie sich durch diese vielen Menschen so bedrängt fühlt, dass sie dort ständig Panikattacken bekommt, was eigentlich völlig unnötig und unrealistisch ist: Sie bräuchte da ja keine Angst haben. Norten: Hat man denn eine Ahnung, woher so etwas kommt? Man hört ja immer wieder, dass Menschen so etwas haben. Einige Mitbürger nehmen es auch gar nicht so ernst, wenn sie es bei einem Betroffenen mitbekommen. Für diese jedoch ist das wirklich eine sehr, sehr ernste Situation. Warum gibt es das also? Bandelow: Man muss sich zuerst einmal die verschiedenen Angststörungen ansehen. Es gibt da zuerst einmal die so genannte Panikstörung: Das ist diese Sache mit den Panikattacken, die verbunden ist mit einer Agoraphobie. Daneben gibt es die generalisierte Angststörung. Das sind Leute, die sich übergroße Sorgen machen, dass z. B. den Verwandten etwas ganz Schlimmes passieren könnte. Die dritte große Gruppe von Angststörungen bezieht sich auf diejenigen Menschen, die eine soziale Phobie haben. Das sind Ängste, von anderen Leuten negativ beurteilt zu werden oder sich zu blamieren vor anderen Menschen. Diese Menschen können also z. B. keine Reden halten oder noch nicht einmal in einem Geschäft etwas einkaufen. Das sind so charakteristische Erscheinungsweisen der sozialen Phobie. Norten: Und wo liegen nun die Ursachen für diese drei Angststörungen? Früher nannte man das ja auch mal Neurosen. Ich glaube jedoch, dieser Begriff wird heutzutage dafür nicht mehr so oft benützt. Welche Ursache vermutet man also? Bandelow: Früher hat man das alles relativ einfach gesehen. Man dachte, alle Ängste entstehen durch eine falsche Erziehung der Eltern. Man dachte, sie kommen daher, dass Eltern zu ängstlich mit ihren Kindern umgehen oder dass sie sie zu streng erziehen oder zu barsch oder auch zu lasch erziehen. Man dachte also, bestimmte Fehler in der Erziehung würden später eine Angststörung verursachen. Andere Leute meinten, dass auch frühkindliche Traumata, also sehr schlimme Erlebnisse wie z. B. sexueller Missbrauch in der Kindheit oder aber auch eine lange Trennung von den Eltern ursächlich sei für die Angststörung. Heute weiß man, dass eine Angststörung deswegen entsteht, weil verschiedene Faktoren zusammenkommen. Diese Traumata spielen z. B. ganz klar eine Rolle. Norten: Das wäre z. B. ein frühkindlicher Missbrauch oder eine lange Trennung von den Eltern. Bandelow: Genau. Aber das ist doch nicht so stark ursächlich, wie man früher angenommen hat. Das macht eben nur einen kleinen Prozentsatz aus. Wir wissen nämlich, dass es daneben auch eine genetische Ursache gibt. Das können wir anhand von Zwillingsuntersuchungen feststellen. Norten: Das wollte ich gerade fragen: Von einem "Angst-Gen" habe ich zwar noch nichts gehört, aber man will dennoch dieser Sache auch von dieser Seite her auf die Spur kommen. Dazu gibt es zurzeit ja auch viele Untersuchungen. Bandelow: Ja, genau. Das ist relativ einfach festzustellen. Man muss nur ganz viele Zwillinge nehmen und schauen, welche davon eine Angststörung haben. Und dann fragt man den einen Zwilling: "Hat dein anderer Zwilling auch eine Angststörung?" Das nennt man dann Konkordanz. Norten: Wichtig ist erst einmal, dass es eineiige Zwillinge sein müssen, die praktisch die gleichen Erbanlagen haben. Denn zweieiige Zwillinge sind ja eigentlich nur so wie normale Geschwister miteinander verwandt. Man sieht sich also die eineiigen Zwillinge an und schaut, was da übereinstimmt und was nicht. Wie oft kommt es denn vor, dass man feststellt, dass da ein Zwilling eine Angststörung hat und der andere ebenfalls? Bandelow: Da gibt es natürlich in den unterschiedlichen Untersuchungen immer deutliche Unterschiede. In einer Untersuchung war es so, dass es bei eineiigen Zwillingen in 73 Prozent der Fälle so ist, dass also dann, wenn einer eine Angststörung hat, auch der andere Zwilling eine Angststörung hat. Bei den zweieiigen Zwillingen waren es hingegen null Prozent. Durch diesen Unterschied kann man eigentlich ziemlich genau beweisen, dass eine Angststörung auch erblich ist. Wir denken, dass heute 40 bis 60 Prozent der Angststörungen vererbt sind. Norten: Wenn man also diese erbliche Konstellation für eine Angststörung hat, wenn einem also die Eltern diese "Angst-Gene" mit auf den Weg gegeben haben, bekommt man dann zwingend eine Angststörung? Oder hat man doch ein bisschen die Möglichkeit, dagegen anzugehen? Bandelow: Es ist Gott sei Dank nicht zwingend so. Man hat in so einem Fall nur eine Vulnerabilität, also eine Anfälligkeit geerbt. Erst dann, wenn dazu noch andere Dinge kommen wie äußerer Stress: das kann in der Kindheit gewesen sein, das kann aber auch in der Jetztzeit geschehen meinetwegen aufgrund einer Ehescheidung oder durch Arbeitslosigkeit usw., also durch irgendwelche anderen belastenden Faktoren – kann das zu einer Angststörung führen. Norten: Sie hatten vorhin ja verschiedene Typen von Ängsten beschrieben. Sie hatten u. a. auch die Agoraphobie genannt, also die Platzangst. Das ist ja etwas ganz Typisches. Da geht es also nicht darum, dass man vor großen Plätzen Angst hat, sondern vor Menschenansammlungen. Vielleicht können Sie mal ein Beispiel nennen, wie es für den Betroffenen aussieht, wenn er an so etwas leidet. Bandelow: Wenn man das griechische Wort "agora" ins Deutsche übersetzt, dann heißt das eigentlich "Marktplatz". Die meisten Menschen übersetzen Agoraphobie mit Platzangst. Aber nur wenige Leute haben Angst vor großen, weiten Plätzen. Stattdessen geht es ums Einkaufen: Leute haben Ängste in Supermärkten usw. Da geht es immer darum, dass sie Angst haben, sie könnten eine Panikattacke bekommen. Das ist diese vorhin schon beschriebene Attacke mit Herzrasen, Zittern, Schwindel usw. Wenn diese Menschen in einem vollen Kaufhaus sind, dann denken sie: "Es wäre schrecklich peinlich, wenn ich jetzt ausgerechnet hier eine solche Panikattacke bekommen würde." Oder sie haben diese Angst, wenn sie im Fußballstadion sind: Sie denken, es wäre dann auch wirklich sehr schwierig, bis da der Notarzt durchkäme. Eigentlich brauchen sie keinen Notarzt, aber das Gehirn versucht ihnen beizubringen, dass sie doch einen Notarzt brauchen. Norten: Nun könnte man ja sagen, dass bei jemandem, der z. B. Angst vor einem Herzinfarkt hat, dafür auch eine organische Ursache vorliegt, dass also diese Beklemmungen, die er spürt, nicht nur seelischer oder psychischer Natur sind, sondern dass das eine physische Ursache hat. Wie können Sie das so sauber diagnostizieren, dass Sie sagen, dieser Mensch hat in der Tat eine Angststörung? Bandelow: Das ist eigentlich viel einfacher, als die meisten Patienten denken, die zu einem Arzt kommen. Die Patienten mit einer Panikstörung denken nämlich immer, der Arzt könnte das gar nicht so leicht herausfinden. Aber wenn man z. B. ein EKG macht oder Blut abnimmt, dann kann man bereits die meisten Ursachen für solche Erkrankungen, die so ähnliche Symptome auslösen, herausfiltern. Bevor die Leute also zu mir kommen, waren sie meistens schon bei zehn verschiedenen Fachärzten und haben dort das alles abklären lassen, sodass ich eigentlich immer relativ sicher sein kann, dass da keine organische Ursache vorliegt. Norten: Sie haben sich beruflich auf das Thema "Angst" spezialisiert und in diesem Zusammenhang auch "Das Angstbuch" geschrieben, das ich nun ebenfalls gelesen habe. In diesem Buch werden u. a. all diese unterschiedlichen Ängste von Ihnen vorgestellt. Wie kommt man eigentlich dazu, dass man sich als Wissenschaftler gerade der Angst widmet? Bandelow: Ich werde immer gefragt, ob ich denn früher selbst mal ein sehr ängstlicher Mensch gewesen bin. Ich kann das in der Tat bestätigen. Ich hatte ganz große Angst Vorträge zu halten. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich so wie heute quasi jede Woche mindestens einen Vortrag halte. Heute fällt mir das ganz leicht, aber früher war das anders. Norten: Sie sind also selbst Betroffener gewesen, wie man sagen könnte. Bandelow: Vielleicht war ich in der Tat von einer leichten sozialen Phobie betroffen. Das wurde mir aber erst klar, als ich mich wissenschaftlich damit beschäftigt habe. Erst da wurde mir klar, dass ich früher eigentlich auch in diesem Maße Angst hatte. Das mag vielleicht der Grund dafür gewesen sein, dass ich mir nun ausgerechnet diese Erkrankung und nicht eine andere ausgesucht habe. Norten: Ist es eigentlich gut, wenn man sich als Betroffener selbst eingesteht, dass man unter solchen Ängsten leidet? Bandelow: Das ist ganz sicher so. Diejenigen Leute, die immer ganz hartnäckig verleugnen, dass sie unter so etwas leiden, bekommen wir meistens auch nicht gesund. Norten: Wir haben nun darüber gesprochen, wie sich diese Angst äußern kann. Was man jedoch nicht sieht, ist das, was dabei im Gehirn passiert. Denn das ist ja eine Sache des Kopfes. Sie haben selbst eine Animation gemacht, in der erklärt wird, wie die Zusammenhänge im Gehirn aussehen, wenn so ein angstauslösendes Moment auftritt. Diese Animation haben Sie uns auch mitgebracht. Bandelow: Ja. Wir sehen hier unser Gehirn mit den Augen davor. Und diese Augen sehen soeben eine gefährliche Schlange. Dieses Signal geht erst einmal über die Augen weiter zu einem Gebiet im Gehirn, das Thalamus heißt. Dieser Thalamus dient eigentlich dazu, die Nachrichten an die richtigen Stellen im Gehirn zu verteilen. Von diesem Thalamus geht nun diese Nachricht weiter zu einem Gebiet, das man Amygdala nennt, also den Mandelkern. Das ist wohl das wichtigste Gebiet im Gehirn im Zusammenhang mit der Auslösung von Angst. Sie sehen hier von dieser Amygdala mehrere rote Pfeile ausgehen: Diese roten Pfeile führen zu Gebieten im Gehirn, in denen dann diese Angst ausgelöst wird. Hier sehen wir das Zentrale Grau: Hier wird bei den Tieren der Todstellreflex ausgelöst und beim Menschen die Todesangst. Hier haben wir den so genannten Locus coeruleus, also das "blaue Örtchen". Das ist zwar nur winzig klein, aber hier wird eben der Herzschlag schneller gemacht oder der Blutdruck erhöht. Und dann gibt es hier noch den Nucleus parabrachialis: Hier wird die Atemfrequenz erhöht. Das heißt, wir atmen stärker bzw. hyperventilieren sogar und denken dabei doch, dass wir keine Luft mehr bekommen. Dann wird das sympathische Nervensystem aktiviert, denn das Ganze ist ja eine so genannte Kampf- oder Fluchtreaktion. Eigentlich ist das also eine natürliche Reaktion: Der Körper soll darauf vorbereitet werden, dass er sich in einer Gefahrensituation befindet und er nun kämpfen oder fliehen soll. Diese Systeme werden also durch das sympathische Nervensystem aktiviert, alle diese Systeme, die uns dabei helfen, einen Kampf aufzunehmen oder die Flucht anzutreten. Außerdem wird die so genannte Stressachse aktiviert: Hier sehen wir die so genannte Hypophyse: Von hier aus wird der gesamte Körper mit Stresshormonen überschüttet. Das ist der Weg im Gehirn, der eine ganz schnelle Reaktion ermöglicht. Wenn wir im Dschungel eine Schlange sehen, dann machen wir unwillkürlich einen Satz rückwärts, weil wir in unserem Gehirn solche Schlangenbilder abgespeichert haben. Dies soll dazu dienen, dass wir sofort fliehen können, bevor es zu spät ist, denn so eine Schlange könnte ja schneller zuschlagen, als das meinetwegen Max Schmeling konnte. Es gibt in unserem Gehirn aber auch noch einen langsamen Weg: Der geht nun zu einem Gebiet, das wir hier sehen, das ist der so genannten Hippocampus. Er fragt in unserer Großhirnrinde ab, was diese Schlange, dieses Tier, das wir gesehen haben, eigentlich zu bedeuten hat. Unsere Großhirnrinde ist so etwas wie unsere Festplatte im Gehirn: Dort werden alle möglichen Dinge gespeichert, z. B. eben auch die Bilder von Schlangen. Er fragt das also ab und dann stellt sich möglicherweise heraus, dass das, was wir da soeben auf dem Boden gesehen haben, keine Schlange, sondern nur eine harmlose Eidechse gewesen ist, die uns sicherlich nichts tun wird. Nun wird auf langsame Art und Weise wieder dem Hippocampus zurückgemeldet und dann auch noch weiter zur Amygdala, dass wir uns wieder abregen können und dass das eigentlich keine gefährliche Situation gewesen ist. Aber dieser langsame Weg dauert eben recht lange: In der Zwischenzeit hätten wir schon tot sein können, wenn das tatsächlich eine gefährliche Schlange gewesen wäre und wir nicht eine schnelle Reaktion gezeigt hätten. Norten: Wir haben also gesehen, dass dieser Mensch zunächst einmal dachte, dass da eine gefährliche Schlange auf dem Boden kriecht. Die Angstreaktion war also berechtigt. Dann aber kam die Entwarnung: "Das ist nichts Schlimmes, das ist nur eine Eidechse!" Bei den Angstpatienten wird ja vermutlich genau das nicht passieren. Denn wenn ein Betroffener in einer Menschenmasse im Supermarkt ist, dann passiert ihm ja nichts: Er bekommt ja nicht wirklich einen Herzinfarkt. Bandelow: Genau, und das ist das Wesen dieser Erkrankung: Es wird bei einem Betroffenen eine Angstreaktion ausgelöst, obwohl kein objektiver Grund dafür vorhanden ist. Das ist wie bei einem kaputten Thermostat an der Heizung, wo der ganze Raum erhitzt wird, weil der Thermostat "denkt", es wäre ganz kalt: Deswegen lässt er heißes Wasser durch die Heizung laufen. Genau so ist es mit einem Gehirn, das von einer Panikattacke geplagt wird. Da wird quasi heißes Wasser durchs Gehirn gepumpt, obwohl überhaupt keine Situation vorhanden war, die eine solche Angstreaktion hätte auslösen sollen. Norten: Sie haben uns ja soeben diese komplizierten Abläufe im Gehirn sehr schön demonstrieren können. Wie kann man so etwas eigentlich erforschen? Man kann ja nicht in den Kopf eines Menschen hineinsehen, wenn jemand Angst hat. Bandelow: Ja, so etwas dauert unendlich lange und viele Tausend Forscher auf der ganzen Welt haben lange Zeit gebraucht und viel Arbeit aufgewandt, um alleine dieses Bild, das ich soeben gezeigt hatte, zusammenzubasteln: aus einem Mosaik von vielen kleinen Teilchen. Man untersucht so etwas zunächst an Tieren, denn da kann man ja doch einige Sachen machen: Man kann da z. B. doch direkt bestimmte Substanzen ins Gehirn spritzen. Oder man kann auch nach dem Tod dieser Tiere deren Gehirne untersuchen, um herauszufinden, was sich da alles abgespielt hat. Aber wir können mittlerweile auch schon an Menschen, ohne diesen Menschen selbstverständlich einen Schaden zuzufügen, Untersuchungen in dieser Richtung machen. Wir können z. B. diese so genannten bildgebenden Verfahren anwenden. Norten: Das sind diese Röhren, in die man hineingeschoben wird. Bandelow: Ja, diese so genannte Kernspintomographie ist ja völlig unschädlich. Dabei können wir schon einigermaßen sehen, wo genau im Hirn die Angst stattfindet, obwohl das alles noch ein bisschen in den Kinderschuhen steckt. Das meiste, das wir wissen, stammt bisher aus Tierversuchen. Norten: Aber ich muss jetzt doch ein bisschen lachen, weil ja gerade diese Röhren bei vielen Menschen auch ganz starke Ängste auslösen. Bandelow: Ja, das hängt damit zusammen, dass wir Menschen vor Höhlen Angst haben. Obwohl wir Menschen ja früher einmal als Höhlenmenschen gelebt haben, ist es eine natürliche Angst von uns Menschen, in enge Räume hineinzukriechen. Das kommt also noch aus unserer Höhlenmenschenzeit – wie übrigens viele von diesen spezifischen Phobien –, also aus einer Zeit, in der in diesen Höhlen z. B. tatsächlich gefährliche Spinnen usw. lebten. Heute sind die Spinnen, die es bei uns in Deutschland gibt, völlig ungefährlich: Sie beißen nicht, sie kratzen nicht, sie stechen nicht und trotzdem haben fast die Hälfte aller Deutschen Angst vor Spinnen. Das ist also in uns Menschen noch so eine uralte Angst aus der Steinzeit. Norten: Das ist also irgendwann einmal angelegt worden bei uns Menschen und hat sich dann sozusagen erfolgreich weitervererbt. Oder wie kann man sich das vorstellen? Bandelow: Das ist genau so, wie Sie das sagen: Das kommt durch Vererbung. Denn diejenigen Menschen, die früher keine Angst vor großen Spinnen hatten – denn Sie müssen sich vorstellen, dass das u. U. Spinnen waren, die gut 30 Zentimeter groß waren – und auch keine Angst vor Säbelzahntigern oder Wölfen, sind ganz einfach ausgestorben. Diese Menschen haben sich also nicht weiter vermehrt. Daher sind wir heutzutage quasi die Nachfahren der Angsthasen. Dies führt nun leider dazu, dass wir bis heute selbst vor harmlosen Spinnen oder vor Schmusekatzen oder vor kleinen Schoßhündchen Angst haben, weil z. B. so ein Schoßhündchen oder eine Schmusekatze den Wolf bzw. den Säbelzahntiger von damals repräsentieren. Norten: Das heißt also, die Angst hat in der Evolution der Menschheit auch eine positive Funktion gehabt. Bandelow: Genau. Wir sind also eine Auslese von den Menschen, die aufgrund Ihrer Angst vor solchen Gefahren dazu prädestiniert waren zu überleben. Diese Angst führt aber eben auch manchmal zu einer überschießenden Reaktion. Norten: Nun freut sich ja derjenige, der von dieser Angstproblematik betroffen ist, nicht darüber, dass er wie wir alle sozusagen von den Angsthasen abstammt. Stattdessen möchte so jemand das loswerden. Sie haben ja auch eine Angstsprechstunde. Das heißt, man kann zu Ihnen kommen mit seinen Ängsten und darf berechtigte Hoffnung haben, dass einem geholfen wird. Welche Möglichkeiten gibt es denn, um eine solche Angst zu behandeln? Bandelow: Hier gibt es eigentlich vier Möglichkeiten. Da gibt es zuerst einmal all die Dinge, die man selbst dagegen unternehmen kann. Dann kann man zum Zweiten einfach auch abwarten, denn viele Ängste verschwinden mit den Jahren wieder. Die meisten Leute, die unter schweren Ängsten leiden, sind ungefähr 36 Jahre alt im Durchschnitt, sodass man also sagen kann, dass mit zunehmendem Alter diese unrealistischen Ängste abnehmen. Norten: Haben Sie dafür eigentlich eine Erklärung? Warum ist Angst altersabhängig? Man kann sich ja vorstellen, dass Kinder vielleicht besonders ängstlich sind, weil sie täglich mit neuen Dingen konfrontiert werden. Aber warum ist jemand, der im Zenit des Lebens steht, der mitten im Berufsleben steht, derart von Ängsten geplagt? In diesem Lebensabschnitt ist es ja auch besonders störend, wenn so eine Angststörung auftritt. Bandelow: Darüber habe ich mir schon öfter der Kopf zermartert. Es ist wohl so, dass Kinder auch ein paar Ängste haben, aber sie sind doch im Allgemeinen weniger ängstlich. Man muss sich ja nur mal anschauen, wie Kinder anfangen, das Skifahren zu lernen. Diese Unbekümmertheit der Kinder geht aber irgendwann verloren. Das hat einfach mit Erfahrungen zu tun: Man hat kleinere Unfälle und wird dann im Laufe der Zeit immer vorsichtiger. Im durchschnittlichen Alter von 36 Jahren kommen dann wohl diese Ängste, die eigentlich schon immer angelegt waren, ganz zum Vorschein. Denn das fängt ja nicht erst mit 36 Jahren an, sondern vielleicht schon mit 20 Jahren. Wenn man dann ungefähr 50 oder 60 Jahre alt ist, gehen diese Ängste wieder weg. Ich nehme an, dass das daran liegt, dass sich diese Rezeptoren im Gehirn ein wenig abschleifen im Laufe der Zeit, sodass dann alles ein bisschen langsamer geht – und eben auch die chemischen Reaktionen, die für eine Angst notwendig sind. Norten: Wir sind jetzt aber ein wenig abgeschweift, denn eigentlich wollten wir diese vier Möglichkeiten aufzählen, die man gegen solche Ängste hat. Sie hatten bereits zwei Möglichkeiten genannt. Bandelow: Genau. Das Abwarten ist natürlich die schlechteste Möglichkeit, denn kein Mensch will zehn Jahre warten, bis die Angst weg ist. Die dritte Möglichkeit besteht daher darin, diese Ängste mit einer Verhaltenstherapie zu behandeln, und die vierte Möglichkeit ist die Behandlung mit Medikamenten. Norten: Schauen wir uns zunächst einmal die Therapie an. Wenn ich das Wort "Therapie" höre, dann denke ich immer noch an Sigmund Freud und die Psychoanalyse. Kann die Psychoanalyse hier helfen? Bandelow: Diese Ängste wurden ja fast über ein Vierteljahrhundert hinweg durch Psychoanalyse behandelt. Freud war der Erste, der Ängste behandelt hat. Allerdings hat man es in all diesen Jahren nicht geschafft, auch mal so genannte kontrollierte Studien darüber vorzulegen, ob das auch wirklich besser hilft als einfach nur abzuwarten und von einer dicken Mami gut bekocht zu werden. Deswegen hat man schon in den fünfziger Jahren gesagt: "Ihr müsst jetzt mal Studien auf den Tisch legen, aus denen klar hervorgeht, dass eure Methode auch wirklich hilft!" Das ist bis heute nicht geschehen. Aber die Verhaltenstherapeuten waren nicht faul inzwischen und haben zahlreiche solcher Studien vorgelegt, sodass man eben aus der Sicht eines Wissenschaftlers sagen muss: Die Verhaltenstherapie ist die einzige Therapie, die auch zeigen kann, dass ihre Maßnahmen etwas bewirken – und zwar mehr bewirken, als einfach nur abzuwarten, und auch mehr bewirken, als mit einem netten Menschen darüber zu reden. Das ist schon sehr wichtig. Norten: Sie müssen uns jetzt natürlich erklären, welche Art von Verhalten da trainiert wird, wie so eine Therapie ablaufen muss, damit sie dann auch tatsächlich fruchten kann. Bandelow: Ein wesentlicher Bestandteil ist, dass man das übt. Wenn man das Skifahren lernen will, dann setzt man sich ja auch nicht auf eine Couch und sieht dabei zu, wie andere Leute Ski fahren. Nein, da muss man schon selbst raus in den kalten Schnee und immer wieder einmal hinfallen. Dadurch lernt man das Skifahren. Genauso ist es auch in einer Verhaltenstherapie. Wenn jemand Angst vor Hunden hat, dann muss er mit Hunden spazieren gehen. Wenn jemand Angst hat, in eine Fußgängerzone zu gehen, dann muss er das üben. So etwas wird bei uns auch tatsächlich geübt. In unserer Angstambulanz geht dann eine Psychologin mit dem Patienten sozusagen auf die freie Wildbahn: Sie fahren Bus, sie gehen in Kaufhäuser, sie fahren mit dem Fahrstuhl usw. Durch solche Übungen kann man das therapieren. Norten: Wenn diese Menschen das auf einmal können, dann könnte man natürlich fragen, warum sie das vorher nicht gekonnt haben. Reicht alleine die Begleitung durch einen Psychologen bzw. Psychiater aus, um ihnen diese Ängste zu nehmen? Bandelow: Das muss man so sehen, dass sich die meisten Patienten nicht trauen, so etwas zu machen, weil sie übergroße Angst haben, was dabei dann passieren könnte. Norten: Ich stelle mir jetzt mal dieses Beispiel "Supermarkt" vor. Jemand, der überhaupt nicht einkaufen kann, würde ja irgendwann verhungern oder ist schlicht von Angehörigen und Bekannten abhängig. Also wird er oder sie wahrscheinlich doch immer wieder versuchen, diesen Schritt zu tun. Bandelow: Ja, aber meistens neigen diese Leute zu einem Vermeidungsverhalten. Er geht vielleicht nur in den kleinen Laden an der Ecke und zahlt dort dann lieber überhöhte Preise. Oder er lässt andere Leute einkaufen. Oder er geht ganz schnell rein, kauft etwas ein, das womöglich nicht genau das Richtige ist, und geht schnell wieder raus. Viele von diesen Patienten machen das also sehr wohl immer wieder und haben auch gewisse Erfolge dabei. Aber gerade dadurch, dass sie eben auch immer wieder Misserfolge haben, ist so ein Verhalten eigentlich nicht gut. Ich rate daher meinen Patienten, eine Stunde lang in so einem Supermarkt auszuhalten, auch wenn sie schon längst eingekauft haben. Sie müssen so lang bleiben, bis diese Angst wieder abgeflaut ist. Erst dann speichert das Gehirn ab: "Das war ein Erfolg!" Denn sonst speichert es nämlich immer nur ab: "Misserfolg, Misserfolg!" Norten: Das stelle ich mir natürlich schon recht drastisch vor, wenn ich diese Angst hätte, wenn ich da hinein ginge und sich diese Angst immer weiter aufbaut und die Leute dann womöglich bereits zu gucken anfangen usw. Wie äußert sich das eigentlich? Schreien diese Menschen dann vor Angst? Bandelow: Ich habe ja solche Übungen schon gemacht mit betroffenen Menschen. Ich war ganz überrascht, dass man das diesen Menschen gar nicht ansieht. Mancher ist vielleicht ein bisschen bleich während so einer Maßnahme. Aber an sich sieht man es ihnen von außen nicht an, dass sie gerade eine Panikattacke oder so etwas haben. Sie zittern einfach nicht ganz arg oder so. Man kann das wirklich nicht sehen von außen. Norten: Versuchen sie denn nicht wegzulaufen? Ich kann mir vorstellen, dass dann, wenn diese Angst immer größer wird, doch dieser Fluchtreflex einsetzt. Halten Sie diese Menschen dann fest? Bandelow: Nein, so weit muss man eigentlich nicht gehen. Ich habe zwar schon mal jemanden mit etwas Nachdruck in einen Fahrstuhl geschoben, damit er auch wirklich mal, wie ich das immer nenne, den Schuss gehört hat, was er eigentlich machen muss. Viele Leute sagen aber, sie machen das einfach nicht. Manche weigern sich dann tatsächlich so etwas zu machen. Das ist sogar ein sehr großer Prozentsatz von Leuten. Oder sie fragen mich dann: "Was passiert, wenn Sie nicht bei mir sind? Denn wenn ich alleine bin, kommt bestimmt wieder so eine Panikattacke. Was mache ich dann?" Ich sage ihnen in so einem Fall: "Rufen Sie auf keinen Fall wieder den Arzt an und lassen Sie sich auch nicht wieder mit Blaulicht ins Krankenhaus fahren, sondern beißen Sie lieber auf so ein schönes handliches Beißholz!" Ich habe hier mal so etwas mitgebracht: Die Patienten sollen in so einem Moment kräftig in dieses Holz hineinbeißen, bis die Panikattacke vorbei ist. Das ist eine Maßnahme, die bei manchen Patienten tatsächlich hilft. Norten: Warum? Hat das etwas mit dem Zähne-Zusammenbeißen zu tun? Bandelow: Nein, ich glaube, damit wird ihnen einfach klar gemacht, dass so eine Panikattacke eigentlich eine völlig harmlose Situation ist. Das ist keine Situation, in der der Körper etwas macht, was er nicht machen sollte. Er macht es vielleicht an der falschen Stelle, aber alle diese Symptome sind eigentlich von der Art, als würde ein Porsche mit 200 km/h über die Autobahn fahren: So etwas hat einem Porsche noch nie geschadet. Und genauso schadet es auch dem Herzen nicht, wenn es mal ein bisschen schneller schlägt. Norten: Da könnte man doch irgendein Stück Holz nehmen und sich selbst ein wenig therapieren. Bandelow: Ja, das hilft vielleicht manchem Patienten. Norten: Wir waren also soeben bei einem Patienten, der eine Stunde lang im Supermarkt stehen muss oder der ununterbrochen mit dem Aufzug rauf- und runter fahren muss. Reicht es, wenn diese Menschen das einmal schaffen? Bandelow: Nein, das reicht nicht, das soll man möglichst lange und möglichst oft wiederholen. Man soll sich dieser Angst wirklich massiv aussetzen, man soll sich regelrecht überfluten mit dieser Angst. Deswegen heißt diese Therapie auch Überflutungstherapie. Alle diejenigen, die denken, man könnte mal ganz leicht mit dem Fahrstuhl ein Stockwerk hochfahren und dann schnell wieder aussteigen, werden merken, dass das nicht hilft. Nein, man muss sich dieser Situation schon massiv aussetzen. Norten: Bleiben Sie denn die ganze Zeit über dabei? Bandelow: Nein, eben nicht. Denn wenn der Therapeut dabei bliebe, dann würde das ja den Patienten sozusagen in Sicherheit wiegen. Jede Art von Begleitung ist da nicht wirklich hilfreich, sei es die Ehefrau oder ein Kind: Denn das dient immer als Schutz, weil der Begleiter ja den Notarzt anrufen könnte, wenn mal tatsächlich eine schlimme Situation entstünde. Norten: Wenn ich jetzt selbst eine Betroffene wäre, dann stelle ich mir vor, dass das doch eine ziemlich harte Maßnahme wäre, wenn ich da von Ihnen ruckzuck in den Aufzug geschoben werde oder wenn ich von Ihnen genötigt werde, mich in einem vollen Supermarkt so lange aufzuhalten. Bandelow: Nun gut, ich wende natürlich keine Gewalt an, dazu wäre ich auch gar nicht kräftig genug, aber bei den meisten Patienten ist das ja ohnehin nicht notwendig. Denn wir verlangen ja von unseren Patienten, dass sie diese Übungen auch selbst machen: Sie müssen das nicht nur in der Therapiestunde machen, sondern auch, wenn sie alleine sind. Die Mitarbeit des Patienten macht da ungefähr 80 Prozent der Therapie aus. Es gibt leider ein paar Patienten, die zu Hause bzw. wenn sie alleine sind gar nichts machen: Da geht es dann auch nicht voran. Norten: Gehen wir mal davon aus, der Patient ist willig und kann diese innere Hürde auch wirklich nehmen. Wie verläuft dann so etwas? Sie sagten ja schon, dass eine Situation nicht reicht. Wie oft muss er das also machen? Wie oft begleiten Sie das und wann gibt es da eine Heilung? Bandelow: Man muss mit diesen Menschen vorher natürlich auch sprechen. Es nützt nichts, gleich in der ersten Stunde diese Leute da reinzuschieben und zu sagen: "Du schaffst das!" Stattdessen muss man ihnen erst einmal erklären, warum wir das so machen. Und man darf natürlich nicht vergessen, dass in einer Verhaltenstherapie auch über alle anderen Dinge gesprochen wird: z. B. über die Probleme mit der Ehefrau, die Probleme am Arbeitsplatz usw. Es wird also sehr viel geredet und diese Übungen nehmen daher nur einen gewissen Teil der ganzen Therapie ein. Andererseits ist es aber auch so, dass eine solche Verhaltenstherapie meistens gar nicht so lange läuft. Man kann davon ausgehen, dass man bereits nach zehn, 15 Sitzungen die ersten Erfolge sieht. Es gibt allerdings auch viele Patienten, die ein halbes Jahr oder auch ganzes Jahr lang wöchentliche Sitzungen haben. Aber dann muss es auch gut sein, denn darüber hinaus sehen wir dann meistens keine weitere Besserung mehr. Diese Maßnahme ist schon sehr, sehr erfolgreich. Norten: Sie sagten, der Betroffene muss mitmachen, muss diese innere Hürde nehmen. Wenn es aber so ist, dass der oder die Betroffene das einfach nicht schafft, dann kann diese Verhaltenstherapie natürlich nicht fruchten, nicht greifen. Aber Sie haben ja auch Medikamente angesprochen. Wäre das dann sozusagen die Alternative? Bandelow: Ich sehe das nicht immer als Alternative, sondern eigentlich als Partner. Verhaltenstherapie und Medikamente kann man nämlich auch zusammen anwenden. Es gibt zwar immer wieder schlecht informierte Menschen, die behaupten, dass eine Verhaltenstherapie weniger erfolgreich sein wird, wenn man dazu auch noch Medikamente einnimmt. Dies stimmt jedoch nicht nach den vorliegenden Studien. Ein Vorteil der medikamentösen Therapie ist ja oft, dass man sie sofort anfangen kann, ohne nun lange auf einen Therapieplatz zu warten. Auch hinsichtlich der Wirksamkeit ist beides ungefähr gleich, Medikamente und Verhaltenstherapie. Man kann da also nicht der einen oder der anderen Therapie einen Vorteil zusprechen. Manche Leute sagen ja, dass diese Medikamente abhängig machen. Dies stimmt jedoch nicht für diese Art von Medikamenten, für diese Antidepressiva. Sie machen nicht abhängig. Norten: Diese Medikamente hatten ja lange Zeit einen sehr schlechten Ruf wegen des vermeintlichen Suchtfaktors. Und es gab natürlich auch das Argument, dass mit den Medikamenten nicht die Ursache dieser Störung bekämpft werde, dass das alles einfach nur irgendwie betäubt wird. Diese Argumente teilen Sie vermutlich nicht. Bandelow: Nein, denn die Ursachen liegen ja etwas "verstreut" im Gehirn. Da gibt es z. B. diesen Mandelkern: An den kommt man mit einer Psychotherapie bestimmt nicht ran. Denn auch eine Fliege hat einen Mandelkern und versuchen Sie mal eine Fliege mit der bloßen Hand zu fangen: Da merken Sie schon, dass dieses Fluchtprinzip bei der Fliege wunderbar funktioniert. Dies können wir also mit so einer Psychotherapie gar nicht beeinflussen. Mit den Medikamenten kann man das hingegen sehr wohl beeinflussen. Norten: Was passiert denn da genau? Meine laienhafte Vorstellung ist eigentlich die, dass dieses Symptom einfach nur gedämpft wird, dass man sich nicht mehr so aufregt. Bandelow: Das könnten wir auch erreichen und zwar mit solchen Mitteln wie Benzodiazepin, wie Valium usw. Damit könnten wir dieses Angstsystem sehr wohl abdämpfen. Aber das wollen wir gar nicht. Denn Sie wissen ja vielleicht, dass diese Benzodiazepine oder ein Mittel wie Valium auch abhängig machen können. Wir nehmen daher heute Antidepressiva: Sie machen nicht abhängig. Sie haben allerdings den kleinen Nachteil, dass es immer so ein, zwei, drei oder gar vier Wochen braucht, bis sie überhaupt erst einmal anfangen zu wirken. Aber sie beeinflussen eben das Serotoninsystem. Norten: Das Serotonin hatten wir vorhin in der Animation nicht gesehen: Das ist jedenfalls ein Botenstoff im Gehirn, der Informationen übermittelt. Bandelow: Genau. Unser Gehirn funktioniert in der Tat mit zahlreichen Botenstoffen, wovon das Serotonin einer ist. Man nimmt an, dass bei Patienten, die Ängste haben, aber auch bei solchen Menschen, die Depressionen haben, beim Serotonin irgendwie zu wenig abläuft. Genau wissen wir das noch nicht, wie ich ehrlicherweise gestehen muss. Aber wir wissen umgekehrt dafür sehr genau, dass unsere Medikamente diese Serotoninübertragung verbessern können und dass genau das sehr gut gegen Depressionen oder Ängste hilft. Das wissen wir. Norten: Angst und Depression sind aber doch eigentlich ganz verschiedene Dinge. Wie kann es sein, dass da das gleiche Medikament wirkt? Bandelow: Wir nehmen an, dass zwischen diesen beiden Krankheiten Übereinstimmungen bestehen, auch wenn die Symptome unterschiedlich aussehen. Es gibt ja auch sehr viele Menschen, die beides haben. Fast alle Mittel, die bei Depressionen helfen, helfen eben auch bei Ängsten. Umgekehrt kann man das hingegen nicht sagen. Solche Mittel wie Valium helfen nämlich bei Depressionen nicht, jedenfalls nicht auf die Dauer. Norten: Kann man denn sagen, dass eine Angstproblematik, dass eine Angstneurose, wie man früher gesagt hat, einfach eine Serotoninstoffwechselstörung des Gehirns ist? Kann man das auf diesen

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