Populationsgenetik der ersten Bauern Mitteleuropas Eine aDNA-Studie an neolithischem Skelettmaterial Inauguraldissertation zur Erlangung des Akademischen Grades eines Dr. phil. vorgelegt dem Fachbereich 02 Sozialwissenschaften, Medien und Sport der Johannes Gutenberg Universität Mainz von Wolfgang Haak aus Künzelsau 2006 Tag des Prüfungskolloquiums: 18. April 2006 Inhaltverzeichnis 1. Einleitung 1 2. Grundlagen zur Archäologie der Neolithisierung 3 2.2 Modelle zur Neolithisierung Europas 3 2.3 Das frühe Neolithikum in Mitteleuropa 7 2.3.1 Der Star4evo-Körös-Cri8-Komplex 9 2.3.2 Die Linearbandkeramik (LBK) 11 2.4 Zur Anthropologie des Neolithikums 14 3. Grundlagen zur Neolithisierung aus Sicht der Humangenetik und zur Analyse alter DNA 18 3.1 Die Neolithisierung aus Sicht der Humangenetik 18 3.1.1 Forschungsgeschichtlicher Hintergrund 18 3.1.2 Das wave-of-advance-Modell von Ammerman und Cavalli-Sforza 18 3.1.3 Der Einsatz von klassischen genetischen Markern 19 3.1.4 Kritik am wave-of-advance-Modell 22 3.2 Forschungsstand molekulargenetischer Studien 25 3.2.1 Mitochondriale Variabilität in Europa 25 3.2.2 Besiedlungsgeschichte Europas anhand von mtDNA und Y Chromosom 26 3.3 Die Haplogruppenverteilung im modernen maternalen Genpool unter besonderer Berücksichtigung Europas 34 3.4 Methodische Grenzen populationsgenetischer Studien und Einsatzmöglichkeiten von aDNA- Analysen 42 3.5 Übersicht zu bisherigen paläogenetischen Studien 44 3.5.1 Stammesgeschichte sowie Vor- und Frühgeschichte des Menschen 45 3.5.2 Identifikation, Material- und Spurenkunde 46 3.5.3 Verwandtschafts- und Geschlechtsbestimmung 47 3.5.4 Epidemiologie, Pathologien und andere genetische Marker 47 3.5.5 Phylogenie und Phylogeographie 48 3.5.6 Rekonstruktion von Ökologie und Ernährungsgewohnheiten 49 3.5.7 Domestikation von Tieren und Pflanzen 49 3.6 Eigenschaften alter DNA 51 3.6.1 Grundlagen zur chemischen und physikalischen Mutagenese in vivo 51 3.6.1.1 Endogene chemische Mutationsmuster 51 3.6.1.2 Chemische Mutagene 53 3.6.1.3 Physikalische Prozesse 54 3.6.2 Postmortale Degradierung von DNA 54 3.6.3 Die Authentizitätskriterien der aDNA-Forschung 57 3.7 Verwendete genetische Marker 59 3.7.1 Eigenschaften der mtDNA und ihre Eignung als populationsgenetischer Marker 59 3.7.1.1 Die Struktur der mitochondrialen DNA 59 3.7.1.2 Die maternale Vererbung und das Fehlen von Rekombination 59 3.7.1.3 Homoplasmie 60 3.7.1.4 Die Mutationsrate 61 3.7.1.5 Die molekulare Uhr 62 3.7.2 Short tandem repeats (STRs) 63 4. Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit 65 5. Material und Methoden 66 5.1 Fundorte und Proben 66 5.1.1 Fundorte in Deutschland 66 Inhaltverzeichnis 5.1.2 Fundorte in den Niederlanden 72 5.1.3 Fundorte in Österreich 72 5.1.4 Fundorte in Ungarn 73 5.1.5 Fundorte in Litauen 73 5.1.6 Fundorte in Polen 74 5.1.7 Fundorte in Russland 74 5.2 Methoden 78 5.2.1 Maßnahmen zur Kontaminationsvermeidung 78 5.2.2 Probennahme und Probenvorbereitung 80 5.2.3 DNA-Extraktion 81 5.2.3.1 Isolation von DNA aus Knochen und Zähnen 81 5.2.3.2 Isolation von DNA aus Mundschleimhaut 82 5.2.4 Die Polymerase-Ketten-Reaktion (PCR) 83 5.2.4.1 Das Prinzip der Polymerase-Ketten-Reaktion 83 5.2.4.2 Primerdesign 83 5.2.4.3 Amplifikation mitochondrialer DNA 84 5.2.4.3.1 Amplifikation der Hypervariablen Region I (HVR I) 84 5.2.4.3.2 Verwendung von Uracil-N-Glykosylase 86 5.2.4.3.3 Amplifikation von Bereichen der coding region 86 5.2.4.4 Amplifikation nukleärer DNA 87 5.2.4.4.1 Amplifikation von STRs mittels AmpFlSTR Profiler PlusTM 87 5.2.4.4.2 Amplifikation von STRs mittels Multiplex-PCR zur molekularen Geschlechtsbestimmung und Verwandtschaftsanalyse. 89 5.2.5 Aufreinigung der PCR-Produkte 90 5.2.6 Agarose Gelelektrophorese 91 5.2.7 Klonierung 92 5.2.7.1 Prinzip der Klonierung 92 5.2.7.2 Protokoll der Klonierung 93 5.2.7.2.1 Vorbereitende Schritte 93 5.2.7.2.2 Ligation und Ligationsfällung 94 5.2.7.2.3 Transformation/Elektroporation und Ausplattieren 95 5.2.7.2.4 Vervielfältigung der Klone 95 5.2.8 DNA-Sequenzierung 97 5.2.9 Fällung von Sequenzierprodukten 98 5.2.10 Die Kapillar-Elektrophorese 98 5.2.11 Enzymverdau der PCR-Produkte der coding region 99 5.3 Auswertung 100 5.3.1 Definition und Berechnung der post mortem Substitutionsrate 100 5.3.2 Definition und Berechung der Sättigungsrate 101 5.3.3 Definition und Berechnung deaminierender hot spot-bzw. cold spot-Positionen 102 5.3.4 Netzwerke 103 5.3.5 Populationsgenetische Simulation mit dem Programm Simcoal 2.0 104 5.4 Authentifizierung 106 6. Ergebnisse 113 6.1 Probenerhaltung und Amplifikationserfolg 113 6.1.1 Amplifikationserfolg 113 6.1.2 Kontamination der Kontrollen 116 6.1.3 Untersuchungen zur Diagenese mittels SAXS-Analyse 118 6.2 Untersuchte genetische Marker 119 6.2.1 Mitochondriale DNA 119 6.2.1.1 Hypervariable Region I (HVR I) 119 6.2.1.2 Amplifikation und RFLP-Analyse von Abschnitten der coding region 121 6.2.1.3 Amplifikation langer PCR-Produkte 122 6.2.2 Nukleäre DNA 123 Inhaltverzeichnis 6.2.2.1 Short tandem repeat (STR) Genotypisierung mittels AmpFlSTR® Profiler Plus® 123 6.2.2.2 Short tandem repeat (STR) Genotypisierung mittels „Anthrofiler 2004“ 127 6.2.2.3 Vergleich zwischen morphologischer und genetischer Geschlechtsbestimmung 129 6.3 Quantifizierung und Charakterisierung der postmortalen Sequenzveränderungen 130 6.3.1 Allgemeine post mortem Substitutionsrate 130 6.3.2 Sättigungsrate 132 6.3.3 Charakterisierung und Verteilung postmortaler Sequenzveränderungen 134 6.4 Vergleichende Analysen der Haplogruppenverteilung 139 6.5 Netzwerke 143 6.6 Populationsgenetische Simulation mit Hilfe des Programmes Simcoal 2.0 148 7. Diskussion 149 7.1. Methodendiskussion 149 7.1.1 Amplifikationserfolg 149 7.1.2 SAXS-Analyse 150 7.1.3 Verwendung von UNG 151 7.1.4 Kontaminationen, Kontaminationsraten und Kontaminationsvermeidung 153 7.1.5 Amplifikation langer mtDNA Fragmente und nukleärer DNA (ncDNA) 155 7.1.6 Reproduktionsstrategien zur Validierung und Authentifizierung 157 7.1.7 Zur post mortem Substitutionsrate und Sättigungsrate 158 7.1.8 Charakterisierung und Verteilung postmortaler Sequenzveränderungen 160 7.2 Die Authentizität der Proben in der Gesamtanalyse 166 7.3 Zur Populationsgenetik der ersten Bauern im frühen Neolithikum 181 7.3.1 Die phylogenetische und phylogeographische Auflösung der mtDNA 181 7.3.2 Die Haplogruppen der neolithischen Individuen 181 7.4 Die Neolithisierung Europas im Spiegel der mtDNA-Haplogruppen 190 7.4.1 Die Bedeutung der Ergebnisse für die Rezentgenetik 196 7.4.2 Die Bedeutung der Ergebnisse für die Archäologie und Anthropologie 198 8. Zusammenfassung 200 9. Literatur 202 10. Anhang 230 10.1 Zusätzliche Tabellen 230 10.2 Verwendete Puffer und Lösungen 240 10.3 Verwendete Geräte, Chemikalien und Kits 240 10.3.1 Geräte 240 10.3.2 Chemikalien 241 10.3.3 Enzyme 242 10.3.4 Kits 242 10.3.5 Gefäße, Einwegartikel und Schutzkleidung 243 10.4 Abkürzungsverzeichnis 244 10.5 Alignments der Sequenzen der neolithischen Individuen 245 Einleitung 1. Einleitung Die Jungsteinzeit stellt eine der bedeutendsten Epochen der Menschheitsgeschichte dar. Besonders in Eurasien ist dieser Zeitraum vom Übergang der aneignenden zur produzierenden Lebensweise, der so genannten Neolithischen Transition, geprägt. Der Beginn der bäuerlichen Lebensweise im eurasischen Raum erfolgte vor ca. 12 000 Jahren in der Region des so genannten Fruchtbaren Halbmonds im Nahen Osten, eines zu damaliger Zeit naturräumlich begünstigten Gebiets. Von dort aus verbreitete sich die neue Lebensweise in den nachfolgenden Jahrtausenden in die umliegenden Regionen und gelangte schließlich auf verschiedenen Wegen in das nacheiszeitliche Europa. Die archäologische Forschung über die Neolithisierung Mitteleuropas beschäftigt sich seit langer Zeit mit der Fragestellung, ob der Wandel, welcher in den materiellen Hinterlassenschaften dokumentiert ist, auch einen Bevölkerungswechsel widerspiegelt. Erfolgte die Verbreitung der neolithischen Lebensweise im Sinne einer wie auch immer gearteten Kolonisierung der Nutzflächen durch die ersten Bauern oder wurde die Idee zu Ackerbau- und Viehhaltung von ursprünglich jagenden und sammelnden Gesellschaften nach und nach übernommen? Die Untersuchung der genaueren Umstände dieser so bemerkenswerten Umstellung der Lebensweise, deren Bedeutung in der Beschreibung „Neolithische Revolution“ (Childe 1957) Ausdruck finden sollte, ist seit jeher ein Forschungsschwerpunkt sowohl in der Vor- und Frühgeschichte, der Anthropologie als auch zunehmend in der Genetik. In den vergangenen Jahrzehnten wurde vermehrt mit Hilfe molekulargenetischer Methoden versucht, den populationsgenetischen Hintergrund der Neolithischen Transition aus der heutigen Datenlage zu rekonstruieren. Hierbei stellt die enorme populationsgenetische Dynamik des eurasischen und vornehmlich europäischen Raumes, welche auch geschichtlich belegt ist, ein großes Problem dar, da hierdurch der Blick in die Vergangenheit in nicht unerheblichem Maße verschleiert wird. Die Analyse alter DNA (aDNA) bietet sich als ideale Methode an, sich mit den zentralen Fragestellungen der Neolithisierung Europas zu beschäftigen. Sie ermöglicht die direkte Analyse neolithischen Probenmaterials und damit eine Art molekulargenetischer Zeitreise, die sich den tatsächlichen neolithischen Verhältnissen zuwendet. Mit Hilfe der aDNA- Analysen können nicht nur die populationsgenetischen Fragestellungen bezüglich der Dynamik menschlicher Besiedlungsprozesse erforscht, sondern auch die Prozesse der Domestikation und Verbreitung von ersten Haustieren und Nutzpflanzen genauer beleuchtet werden. Der Ansatz mittels aDNA-Analysen bestehende Fragestellungen der Neolithikumsforschung zu beantworten, wurde erstmalig mit dem Projekt „Die ersten Bauern in Europa und der Ursprung der Rinder- und Milchwirtschaft. Biomolekulare Archäometrie des Neolithikums“ (gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, Förderkennzeichen 03BUX1MZ) verfolgt. 1 Einleitung In der vorliegenden Dissertation werden neolithische menschliche Skelettproben vornehmlich aus Mitteleuropa mit molekulargenetischen Methoden untersucht. Ein Vergleich mit rezenten populationsgenetischen Daten soll die Bevölkerungsdynamiken in Europa vor, während und nach dem Übergang zur bäuerlichen Lebensweise ermitteln und deren Einflüsse sowie Auswirkungen auf die heutige Bevölkerungsstruktur beschreiben. Die große Bedeutung der verbindenden Fragestellung macht im vorliegenden Projekt eine interdisziplinäre Herangehensweise an das Thema erforderlich. Der fächerübergreifende Ansatz verknüpft insbesondere Disziplinen wie die Vor- und Frühgeschichte, biologische Anthropologie, Molekular- und Populationsgenetik. 2 Grundlagen zur Archäologie der Neolithisierung 2. Grundlagen zur Archäologie der Neolithisierung 2.2 Modelle zur Neolithisierung Europas Der Schritt von einer aneignenden Jäger- und Sammlergesellschaft im Epipaläolithikum bzw. Mesolithikum zur Sesshaftigkeit und Agrikultur im Neolithikum ist ein sehr entscheidendes Ereignis der Menschheitsgeschichte. Nach dem Ende der letzten Eiszeit vollzog sich in weiten Teilen Europas dieser als „Neolithische Revolution“ bekannte Prozess, welcher letztendlich zur Herausbildung und Prägung unserer heutigen Gesellschaften mit allen sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen geführt hat. Zunächst jedoch stand bei der Epochenbeschreibung und Begriffsbildung zum Neolithikum dieser Schritt gar nicht im Vordergrund. Vielmehr wurde versucht, dem Auftauchen von neuen Steinwerkzeugformen im archäologischen Fundgut gerecht zu werden. Der jüngste Abschnitt der Steinzeit wurde demzufolge nach dem Neuauftreten von geschliffenem Felsgestein benannt (neo,gr. Neu, lithos,gr. Stein). Erst nach und nach wurde der Prozess der Neolithisierung, wie wir ihn heute kennen, mit Ackerbau und Viehzucht unabdingbar verbunden, so dass dieser heute im Vordergrund steht. Vere Gordon Childe (1957) prägte den Begriff „Neolithische Revolution“ und wollte damit den immensen kulturellen Schritt betonen, den er im Übergang von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaftsweise erkannte und welchen er im Vergleich mit der Industriellen Revolution bestätigt sah. Ackerbau und Viehzucht sind die wesentlichen kulturellen Neuerungen der so genannten „Neolithischen Revolution“, die auch in genetischer Sicht zu einer Reihe von für den Menschen und seine Umwelt bedeutenden Effekten geführt hat. In Folge von Ackerbau und Viehzucht und den damit verbundenen zivilisatorischen Erscheinungen, wie dauerhafte Sesshaftigkeit, Lager- und Viehhaltung und Entwicklung komplexer sozialer Verbände (bis hin zu den frühen städtischen Hochkulturen) wuchs die menschliche Bevölkerung im Vergleich zum Ende der Eiszeit bis heute auf ein mittlerweile Tausendfaches an. Durch den kontinuierlichen Eingriff des Menschen in die Selektion von wilden Tieren und Pflanzen entstanden domestizierte Formen, die in vielen Fällen die ursprünglichen Wildformen verdrängten und überlebten. Eines von mehreren Zentren des Übergangs von Jägern und Sammlern zu Ackerbauern und Viehzüchtern ist der so genannte Fruchtbare Halbmond, ein Gebiet, das sich von der südlichen Levante, Jordanien und Palästina, dem Verlauf des Taurus und Zagros Gebirges folgend, durch Südost-Anatolien, Syrien und Irak bis fast zum Persischen Golf erstreckt. Hier sollen nach archäologischen Vorstellungen Weizen und Gerste kultiviert und die Domestikation von Ziege, Schaf, Schwein und Rind zum ersten Mal stattgefunden haben. Die Anzeichen von Domestikation und Landwirtschaft in archäologischen Fundzusammenhängen finden sich dort im 9. Jahrtausend v. Chr. und sollen danach schrittweise und teilweise stark zeitversetzt in andere Regionen der Erde verbreitet worden sein. In einigen Gebieten wie z.B. dem Nordwesten Russlands, dem östlichen Baltikum und 3 Grundlagen zur Archäologie der Neolithisierung nördlicheren Skandinavien setzt die bäuerliche Lebensweise erst zur Eisenzeit ein (Zvelebil 1998; 2002, Zvelebil & Lillie 2000, Antanaitis 1999). Somit kann der Prozess der Neolithisierung - in einem kontinentalen Kontext betrachtet – als lang andauernd betrachtet werden. Birgt bereits die Transition im Vorderen Orient eine beträchtliche Anzahl an zu klärenden Fragen hinsichtlich des Überganges selbst und seiner Faktoren bzw. Gründe, so ist vor allen das vollständige Erfassen und Verstehen des Wie der Verbreitung der Idee „Ackerbau und Viehzucht“ in und über Europa ein größeres Unterfangen. Selbst bezüglich der Neolithisierung des mitteleuropäischen Raumes existieren zahlreiche Erklärungsmodelle. Die Divergenz der Hypothesen ist größtenteils bedingt durch die zeitweilig subjektiv geführte Interpretation der Datenlage. So spielen bei Fragestellungen wie dieser - mit ca. 100- jähriger Forschungstradition - immer Moden und zeitgeistliche Einflüsse eine Rolle, sowie regional dominierende Schulen und fast dogmenhafte Lehrmeinungen, welche kaum mehr hinterfragt werden. Sogar die politische Gesinnung der Verfechter der einzelnen Hypothesen kann im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte sichtbar gemacht werden (ein detaillierter Überblick hierzu findet sich in Scharl 2004). Als Tatsache bleibt bestehen, dass es (auch forschungsgeschichtlich bedingt) kaum zusammenfassende oder ganzheitliche Erklärungsansätze zur Neolithisierung Europas gibt. Von Seiten der Archäologie bestehen bezüglich der Art und Weise der Verbreitung von Ackerbau und Viehzucht nach und in Europa drei grundlegende Erklärungsmodelle (vgl. Kap. 3.1): 1. Der traditionellen Meinung nach basiert der Prozess der Neolithisierung Europas auf der Einwanderung von neolithischen Bauern nach Europa (Childe 1957, Piggott 1965, Clark 1965). Demnach besiedelten neolithischen Bauern aus dem Nahen Osten geeignete Gebiete in Europa und führten die bäuerliche Lebensweise ein. Als zugrunde liegender Motor dieses Prozesses wurde ein rasches Bevölkerungswachstum angesehen, welches der frühbäuerlichen Gesellschaften zugesprochen wurde und somit die Verdrängung der einheimischen Bevölkerung beinhaltete und erklärte. 2. Ein zweites Erklärungsmodell benennt die gegenteilige Situation (Dennell 1983, Barker 1985, Whittle 1996, Kind 1998), in welcher der Übergang zu Ackerbau und Viehzucht in erster Linie durch Ideentransfer in kulturellen Kontaktzonen erklärt wird. Einer Einwanderung von Trägern der neolithischen Kultur wird keine ausschlaggebende Rolle beigemessen bzw. gänzlich ausgeschlossen. 3. Der dritte Erklärungsansatz stellt eine Synthese der beiden oben genannten Modelle dar. Dies bedeutet, dass beide Szenarien eine Rolle spielten, jedoch zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Regionen einen variierenden Beitrag zur Neolithischen Transition leisteten (Zvelebil 1989, 2002; Chapman 1994; Thorpe 1996; Zilhão 1997). 4 Grundlagen zur Archäologie der Neolithisierung Dass die Neolithische Transition in Europa, wie auch überall in der Welt, einen komplexen und vielschichtigen Entwicklungsprozess darstellt, der sich nicht auf wenige Faktoren vereinfachen lässt, ist unumstritten. Da die archäologische Erfassung meist kleinräumig erfolgt und dabei bereits im archäologischen Material ersichtlichen Verbreitungsgebieten von Fundkomplexen folgt, die als kulturelle Einheiten zusammengefasst werden (Price 2000), ist es nicht verwunderlich, dass für die unterschiedlichen Regionen verschiedene Hypothesen zur Neolithisierung existieren. Diese sind in mehreren nachfolgenden Modellen zusammengefasst (Zvelebil 2000; Zvelebil & Lillie 2000): (cid:1) Folk migration (Anthony 1990; Anthony & Brown 1991): Direkter Zug einer Bevölkerung zu einem definierten Gebiet. (cid:1) Demic diffusion (Ammerman & Cavalli-Sforza 1984; Renfrew 1987, vgl. Kap. 3.1.2): Sukzessive ungerichtete Besiedlung einer Region durch nachfolgende Generationen. (cid:1) Elite dominance (Renfrew 1987): Unterwanderung eines Gebiets durch eine Minderheit, die jedoch die autochthone Bevölkerung sozial und kulturell dominiert und ggf. kontrolliert. (cid:1) Infiltration (Neustupny 1982): Graduelle Unterwanderung eines Gebiets durch kleine spezialisierte Gruppen, die spezifische ökonomische und gesellschaftliche Nischen besetzen. (cid:1) Leap frog colonization (Zilhão 1993; Andel & Runnels 1995): Selektive Kolonisierung durch kleine Bevölkerungsgruppen, die gezielt bestimmte, naturräumlich optimale Gebiete (z.B. Lößböden) aufsuchen und somit Enklaven oder Kolonien innerhalb der autochthonen Bevölkerung bilden. (cid:1) Individual frontier mobility (Zvelebil 1995; 1996): Kleinräumige wirtschaftliche Kontakte und etablierte soziale Beziehungsstrukturen zwischen Bauern und Jäger/Sammlern und den Kontaktzonen mit Transfer in beiden Richtungen. (cid:1) Contact: Wirtschaftliche Kontakte entlang und durch Handelsrouten, die als Kommunikationskanäle dienen und innovative Technologien rasch verbreiten ohne sich verlagernd auf die Bevölkerungsstruktur auszuwirken. Streng genommen lassen sich aus archäologischer Sicht keine Beweise für eine Einwanderungswelle größeren Ausmaßes bzw. Wanderungsbewegungen, die einen Großteil des Kontinents betreffen, darlegen (Thomas 1996, Zvelebil 1989). Allerdings finden sich im archäologischen Fundgut Beweise und Assoziationen für die Einführung von Ackerbau & Viehzucht an bestimmten Zeitpunkten, die innerhalb Europas einen deutlich erkennbaren chronologischen Gradienten von Südwest- nach Nordosteuropa aufweisen (Clark 1965, Ammerman & Cavalli-Sforza 1984, Pinhasi et al. 2000). Ein großes Problem stellt die Tatsache 5
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