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Poema / Gedicht: Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750 PDF

308 Pages·2011·5.806 MB·German
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Hallesche Beiträge 43 zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Frauke Berndt Poema /Gedicht Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750 De Gruyter Herausgeber: Daniel Fulda, Ulrich Barth, Harald Bluhm, Robert Fajen, Wolfgang Hirsch- mann, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Laurenz Lütteken, Jean Mondot, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill, Heiner Schnelling Redaktion: Julia Thiemann Satz: Kornelia Grün Ralf (cid:2) in Dankbarkeit ISBN 978-3-11-025391-7 e-ISBN 978-3-11-025392-4 ISSN 0948-6070 BibliografischeInformationderDeutschenNationalbibliothek DieDeutscheNationalbibliothekverzeichnetdiesePublikationinderDeutschen Nationalbibliografie;detailliertebibliografischeDatensindimInternet überhttp://dnb.d-nb.deabrufbar. (cid:2)2011WalterdeGruyterGmbH&Co.KG,Berlin/Boston Druck:Hubert&Co.GmbH&Co.KG,Göttingen (cid:3) GedrucktaufsäurefreiemPapier PrintedinGermany www.degruyter.com Inhalt I Die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ . . . . . . . . . . . . . . . 1 II Alexander Gottlieb Baumgartens ästhetische Theorie . . . . . . . . . . . . . 12 1 Die Struktur des Gedichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.1 Die Ambiguität der Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.2 Psychologische Versuchsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.3 Rhetorische Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.4 Semiotische Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1.5 Poetologische Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.5.1 Räumlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.5.2 Unanschaulichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1.5.3 Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 2 Die Wahrscheinlichkeit des Gedichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.1 Die Metaphysik des Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2.1.1 Vollkommenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.1.2 Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2.1.3 Zwielichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2.2 Die Medialität des Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3 Die Ethik des Gedichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.1 ‚Symbolica‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.1.1 Kopf und Herz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.1.2 Flamme und Feile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3.2 ‚Parrhesia‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.2.1 Der Wille zum Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3.2.2 Der Wille zur Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 III Friedrich Gottlieb Klopstocks poetische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1 Die Medialität des Gedichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1.1 Gedanken-Stücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1.2 Schreib-Szene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 1.3 Schau-Platz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 V 1.4 Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 1.4.1 Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1.4.2 Deklamation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2 Läppische Gedichte: Cidli 1752 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2.1 Das anakreontische Format . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2.2 Symbolische Konzentrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2.2.1 Unanschaulichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2.2.2 Räumlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2.2.3 Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3 Monströse Gedichte: Der Messias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3.1 Das enzyklopädische Format . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 3.2 Symbolische Exzentrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3.2.1 Schreib-Szene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3.2.2 Schau-Platz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 3.2.3 Körper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 3.2.3.1 Komposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3.2.3.2 Deklamation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 IV Das epistemische Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 V Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 2 Literatur zu A. G. Baumgarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 3 Literatur zu F. G. Klopstock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 4 Sonstige Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 VI Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 VI I Die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘ Oratio sensitiva perfecta est poema. Baumgarten, Meditationes Zur Aufgabe steht, das Rätsel zu sehen. Heidegger, Holzwege Im Schwellenraum von Frühneuzeit und Moderne machen der maßgeblichste Phi- losoph und der kühnste Dichter der Zeit unabhängig voneinander die gleiche auf- regende Entdeckung: Bei ihrer Arbeit an antiker Lyrik und Epik stoßen sie – der eine lesend, der andere schreibend – auf die Sinnlichkeit der Literatur.1 Diese Entdeckung hat die Welt verändert. Den Philosophen veranlasst sie zur Korrektur der Enzyklopädie, den Dichter führt die Sinnlichkeit der Literatur auf neue Wege der Poesie. Dabei sind sich Alexander Gottlieb Baumgarten und Friedrich Gottlieb Klopstock weder je begegnet, noch hat der eine zum Werk des anderen Stellung bezogen, obwohl als Kuppler ohne Frage Baumgartens Schüler Georg Friedrich Meier sowie als Ort der Verkuppelung das kulturelle Zentrum Halle in Frage kä- men – jedenfalls dann, wenn man das, was sich zwischen beiden ereignet, als Be- ziehungsgeschichte erzählen wollte. Meiers Verteidigung von Baumgartens 1735 erschienenenMeditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus2 ge- gendieGottschedianer im sogenannten ‚Kleinen Dichterkrieg‘ während der 1740er Jahre ist nicht ohne Einfluss auf Klopstocks Arbeit am religiösen Versepos Der Messias geblieben,3 ebenso wenig wie die Auge in Auge mit Baumgartens Medita- 1 Zur kulturwissenschaftlichen Perspektivierung der Sinnlichkeit in der Epoche der sogenannten Empfindsamkeit vgl. Gerhard Sauder: Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente. Stuttgart 1974; Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Ge- fühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988; Albrecht Koschorkes kulturanthro- pologische Studie: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. 2. Auf- lage. München 2003. Zur rezeptionsästhetischen Perspektivierung vgl. Lothar van Laak: Her- meneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003; dazu meine Rezension: Frauke Berndt: Performativität und Ästhetische Erfahrung. In: IASLonline [Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deut- schen Literatur]. o.O. 23.02.2004: <http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Berndt34846303 10_721.html>, 31.03.2010. 2 Vgl. Georg Friedrich Meier: Verteidigung der Baumgartenschen Erklärung eines Gedichts. Wider das 5. Stück des 1. Bandes des neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und Künste. Halle 1746. 3 Vgl. Yvonne Wübben: Gespenster und Gelehrte. Die ästhetische Lehrprosa G. F. Meiers (1718–1777). Tübingen 2007, S. 151–155; Ernst Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem An- hang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe. Leipzig 1911. 1 tiones konzeptualisierte Anakreontik des ‚Zweiten Halleschen Dichterkreises‘ auf seine Oden. Darüber hinaus mag Klopstock durch Meiers kongeniale Bearbeitung auch mit Baumgartens 1750 und 1758 verlegter Aesthetica4 in Berührung gekom- men sein. Und auch umgekehrt kann dem Philosophen das große Aufsehen kaum entgangen sein, das der Messias seit dem Erscheinen der ersten drei Gesänge 1748 in den Bremer Beyträgen sowie der von Meier in den 1750er Jahren besorgten Bände der Halleschen Ausgabe erregt hat.5 Nicht zuletzt hat Meier das Werk be- reits 1749 öffentlich gegen die Vorwürfe aus Leipzig verteidigt.6 Doch weder im unmittelbaren noch im mittelbaren Kontakt, sondern mit dem sinnlichen Impuls der Literatur einhergehend oder von ihm ausgehend, entsteht zwischenBaumgarten und Klopstock diejenige Konfiguration, auf die allein es mir in diesem Buch ankommt – Beziehung hin oder her. Gemeint ist eine etwa von 1730 bis 1770, und das heißt nur für vergleichsweise kurze Zeit akute Position in der Wissensordnung, die ich mit Baumgarten und Klopstock einfach tentativ ‚Poema / Gedicht‘ nennen möchte. An dieser Position wird das Denken, Können, Handeln, Sollen und Wollen der Literatur buchstäblich vom vernünftigen Kopf auf die sinnlichen Füße gestellt, was nichts Geringeres bedeutet, als dass genau an dieser Stelle der moderne Literaturbegriff geprägt wird. Denn mit der anthropolo- gischen Wende der Episteme um die Jahrhundertmitte werden sowohl Philosoph als auch Dichter an den unbegrifflichen Stellen literarischer Texte auf das ganz eigene, durch nichts anderes zu ersetzende Vermögen „sinnliche[r] ‚Zeichen‘ und ‚Bilder‘“ bei der menschlichen Selbst- und Welterschließung aufmerksam7 – signa visibiles, wie sie in der grammatischen, oder symbolische Zeichen, wie sie in der rhetorischen Tradition heißen –:8 Sie werden also auf das Vermögen der symbo- 4 Vgl. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften. 3 Bde. Hildesheim u. New York 1976 [ND der Ausg. Halle 1754, 1755, 1759]. 5 Vgl. Franz Muncker: Briefwechsel Klopstocks und seiner Eltern mit Karl Hermann Hemmerde und Georg Friedrich Meier. In: Archiv für Literaturgeschichte 12 (1884), S. 225–288. 6 Vgl. Georg Friedrich Meier: Beurtheilung des Heldengedichtes des Messias. In: Ders.: Frühe Schriften. Teil 2. Halle 1752. 7 Ernst Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. v. Brigitte Recki. Bd. 16: Aufsätze und Kleine Schriften 1922–1926. Bearb. v. Julia Clemens. Hamburg 2003, S. 75–104, hier S. 78. 8 Louis de Jaucourt: Art. Symbole. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Hg. v. Denis Diderot u. Jean LeRond d’Alembert. Bd. 15. Stuttgart-Bad Cannstatt 1967 [ND der Ausg. Paris 1765], S. 726–734, hier S. 726; vgl. Art. Symbol. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste welche bisshero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Hg. v. Johann Hein- rich Zedler. Bd. 41. Graz 1961 [ND der Ausg. Halle, Leipzig 1744], Sp. 638; zur Wort- und Begriffsgeschichte u.a. Max Schlesinger: Geschichte des Symbols. Ein Versuch. Berlin 1912; E. Buess: Art. Symbol. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Kurt Galling. Bd. 6. Tübingen 1962, Sp. 540f.; K. Wessel: Art. Symbole. Ebd., Sp. 541–548; Manfred Lurker (Hg.): Beiträge zu Symbol, Symbolbegriff und Symbolforschung. Baden-Baden 1982; Peter Kobbe: Art. Symbol. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hg. v. Klaus Kanzog u.a. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin 1984, S. 308–333; Art. Symbol. In: The New Princeton Encyclopedia of Poetry and Poetics. Hg. v. Alex Preminger. Princeton 1993, S. 1250–1254; M. Seils: Art. 2 lischen Struktur des sogenannten Gedichts aufmerksam, wie beide für den litera- rischen Text sagen. Während der akribischen Textarbeit, der sich sowohl Baumgar- ten als auch Klopstock aussetzen, treten nämlich die medialen, kognitiven, meta- physischen und ethischen Leistungen des Gedichts bei der Vermittlung von Selbst und Welt in den Vordergrund, die dienenden Aufgaben der Literatur bei der Über- mittlung kultureller Inhalte in den Hintergrund. In diesem Prozess – Soziologen und Historiker interessiert er im Hinblick auf die Ausdifferenzierung der Kunst als autonomes System9 –, oder genauer und pointierter formuliert: Genau zu diesem Zeitpunkt wird der literarische Text epistemisch konfiguriert, was zur Folge hat, dass die Literatur von den unscharfen Rändern der Wissensordnung in deren zen- trales Sichtfeld rückt, um dort zu bleiben. Das Attribut ‚epistemisch‘ markiert dementsprechend jenen initialen Akt um 1750, aufgrund dessen ‚Poema / Gedicht‘ nicht eine, sondern die epistemische Konfiguration des literarischen Textes dar- stellt, egal welche Korrekturen später an dieser Konfiguration vorgenommen wer- den oder unter welchen Begriffen sie weiter verhandelt wird. Zu epistemischem, das heißt zu genuin wissenschaftlichem Wissen über den Menschen und mithin zu einer unhintergehbaren Größe in der modernen Erkennt- nistheorie wird der literarische Text in der mittleren Aufklärung aber nicht deshalb, weil sich Baumgarten oder Klopstock aus vernünftigen Gründen dafür entscheiden, sondern weil beide am Schreibtisch, im akademischen Kollegium und vor dem Publikum schlicht und ergreifend literarische Texte beobachten, sie analysieren, synthetisieren, perspektivieren, kontextualisieren und – im Falle des Dichters – sogar beginnen, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch mit ihnen zu experi- mentieren. Die Texte werden also zu Objekten, an denen sich Wissen formt und ausbildet bzw. formen und ausbilden lässt.Denn es ist die Reflexion auf die historischen Bedingungen, unter denen, und die Mittel, mit denen Dinge zu Objekten des Wissens gemacht werden, an denen der Prozess der wissenschaftlichen Er- kenntnisgewinnung in Gang gesetzt sowie in Gang gehalten wird.10 Wenn die epistemische Konfiguration ‚Poema / Gedicht‘, oder sagen wir lieber etwas vorsichtiger: Wenn „Systeme von Behauptungen“ über die symbolische Struktur des Gedichts nach 1770 schließlich in die Symbolkonzepte um 1800 ein- Symbol. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u.a. Bd. 10. Darm- stadt 1999, Sp. 710–739; Henning Schröer: Art. Symbol. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. v. Gerhard Krause u. Gerhard Müller. Bd. 32. Berlin u. New York 2001, S. 479–496; Ro- ger W. Müller Farguell: Art. Symbol. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. 2 Hg. v. Klaus Weimar u.a. Bd. 3. Berlin u. New York 2003, S. 550–555; H. Hamm: Art. Sym- bol. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. v. Karl- heinz Barck. Bd. 5. Stuttgart u. Weimar 2003, S. 803–805. 9 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1997, S. 215–300. 10 Hans-Jörg Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung. Hamburg 2007, S. 11. 3 gehen,11 sobald ein alter, allgemein verwendeter Begriff für das neue, besondere Funktions- und Leistungsprofil des literarischen Textes mobil gemacht worden ist, dann ist diese geschlossene Versuchsanordnung bereits Geschichte. Im Fehlen einer solchen Laborsituation mag der Grund dafür liegen, dass die Sach- und Be- griffsarbeit in den ästhetischen und poetologischen Symbolkonzepten des aus- gehenden 18. und 19. Jahrhunderts gegenüber der ursprünglichen Konfiguration einiges an epistemischer Evidenz eingebüßt hat. Aber das steht auf einem anderen Blatt als demjenigen der Vorgeschichte solcher Konzepte im Vorfeld der Moderne, der mein Interesse gilt.12 Der Weg zum Gedicht führt zunächst in den Osten des deutschsprachigen Territoriums: Ab 1742 lehrt der Professor für Philosophie Alexander Gottlieb Baumgarten an der Viadrina in Frankfurt an der Oder bekanntermaßen die „Wis- senschaft von allem, was sinnlich ist“ (KOLL § 1).13 Deren Keimzelle sind die 117 Paragraphen besagter Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinen- tibus, die im Laufe jahrzehntelanger Arbeit zu den 904 Paragraphen der 1750/1758 ebenfalls in Halle veröffentlichten Aesthetica anwachsen. Unter dem Strich inte- griert Baumgarten der Wissensordnung eine neue Disziplin. Dadurch, dass er „All- stedts Encyclopädie“ modernisiert – gemeint ist Johann Heinrich Alsteds 1630 erschienene Encyclopaedia septem tomis distincta, das Standardwerk frühneuzeit- lichen Wissens –, legt er das Fundament der modernen Kulturwissenschaften.14 „Warum sollte nicht ein geschickter Philosoph sich an eine philosophische Ency- clopädie machen können“, fragt sich Baumgarten, „darin er die zur Philosophie gehörende[n] Wissenschaften insgesamt in ihrer Verbindung vorstellte?“ Dieser „Schatten-Riss“ hätte sowohl die oberen Erkenntnisvermögen als auch die unteren zu berücksichtigen,15 was zur Folge hat, dass Baumgarten die Enzyklopädie neu organisiert. Denn in seinem Entwurf stellt sich der Philosoph die Logik 11 Eckard Rolf: Symboltheorien. Der Symbolbegriff im Theoriekontext. Berlin, New York 2006, S. 1. Zum problematischen Verhältnis von „Wort“ und „Sache“ des Symbols vgl. Tzvetan To- dorov: Symboltheorien. Übers. v. Beat Gyger. Tübingen 1995, S. 1. 12 Zur Sach- und Begriffsgeschichte um 1750 vgl. Frauke Berndt: Symbolisches Wissen. Zur Ökonomie der ‚anderen‘ Logik bei A. G. Baumgarten. In: Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert. Berlin, New York 2008, S. 383–390. Grundlegend für das 19. Jahrhundert nach wie vor: Michael Titzmann: Strukturwandel der philosophischen Ästhetik 1800–1880. Der Symbolbegriff als Paradigma. München 1978. 13 Alexander Gottlieb Baumgarten: Kollegium über die Ästhetik. Zit. nach: Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten. Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant. Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens. Leipzig 1907; zitiert mit der Sigle [KOLL] und der Pa- ragraphenzahl. 14 Vgl. Anselm Haverkamp: Wie die Morgenröthe zwischen Nacht und Tag. Alexander Gottlieb Baumgarten und die Begründung der Kulturwissenschaften. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76 (2002), S. 3–26. 15 Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophische Briefe von Aletheophilus. Frankfurt, Leipzig 1741, zit. nach: Philosophischer Briefe zweites Schreiben. In: Ders.: Texte zur Grundlegung der Ästhetik. Übers. u. hg. v. Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 1983, S. 68. Erst postum er- 4

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