Jorg Rossel Plurale Sozialstrukturanalyse Jorg Rossel Plurale Sozial strukturanalyse Eine handlungstheoretische Rekonstruktion der Grundbegriffe der Sozialstrukturanalyse VS VERLAG FOR SOZIALWISSENSCHAFTEN Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet Ober <http://dnb.ddb.de> abrufbar. zugleich Habilitationsschrift im Fachbereich Politik-und Sozialwissenschaften der Freien Universitat Berlin im Fach Soziologie, 2005. 1. Auflage Oktober 2005 Aile Rechte vorbehalten © VS Verlag fOr Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2005 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag fOr Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschOtzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des verlags unzulassig und strafbar. Das gilt insbesondere fOr vervielfaltigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der warenzeichen-und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden dOrften. Umschlaggestaltung: KOnkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier ISBN·13 978·3·531·14782·6 e·ISBN·13 978·3·322·80794·6 001 10.1007/978-3·322·80794·6 Vorwort Die theoretischen Ideen und empirischen Analysen in dieser Arbeit bilden den vorlaufigen Abschluss einer Reihe von empirischen Forschungsprojekten, die un ter meiner Beteiligung am Institut fUr Kulturwissenschaften der Universitat Leip zig entstanden. Dazu z1i.h1t zum einen die schriftliche Befragung der Leipziger BevOlkerung iiber ihre musikalischen Vorlieben und Aktivitaten, die im Jahr 2000 im Auftrag der Oper Leipzig durchge£iihrt wurde. 1m darauffolgenden Jahr gab es weiterhin eine Untersuchung iiber Lebensstile und Ernlilirungsverhalten von Schii lern an drei Leipziger Schulen. Und schlieBlich haben wir im Zeitraum 2002-2005 den sozialen und kulturellen Wandel in einem deindustrialisierten Stadtteil Leip zigs systematisch untersucht. Fiir die gute Kooperation und Unterstiitzung bei diesen Studien mochte ich mich bei Claudia Beckert-Zieglschmid, Jiirgen Gerhards, Rolf Hackenbroch und Michael HOlscher bedanken. Weiter gilt mein Dank Janet Bennat, Christian Froh lich, Pia Linden und Jeannine Kunert; sie haben als studentische Hilfskrafte zum Erfolg dieser Projekte beigetragen. Geschrieben wurde dieses Buch am Center for European Studies der Harvard University. Dort konnte ich ein Jahr lang von Lehr- und Selbstverwaltungsver pflichturl&~n befreit meiner Arbeit nachgehen. Dem DAAD und der Harvard Uni versity danke ich fUr die Forderung durch das groBziigige Kennedy-Stipendium. Den Mitarbeitern am Center for European Studies danke ich fUr die ausgezeichnete Unterstiitzung wahrend dieser Zeit, den anderen Stipendiaten fUr eine angenehme und intellektuell anregende Gesellschaft. Fiir die anregenden Diskussionen iiber das Thema meiner Arbeit danke ich Claudia Beckert-Zieglschmid, Andreas Gebesmair und Gunnar Otte. Vor allem aber mochte ich Jiirgen Gerhards danken. Er hat die gesamte Arbeit begleitet und das Endprodukt intensiv durchgearbeitet und kommentiert. Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ........................................................................................................ 11 2. Je nseits von Klasse und Schicht? ................................................................ 23 2.1 Die Diskussion fiber das Klassen-und Schichtkonzept in der Soziologie ............................................................................................. 24 2.1.1 Die Differenzierung der Sozialstruktur ........................................................ 24 2.1.2 Zur empirischen Relevanz der Differenzierungsthese ............................... 27 2.1.3 Die Verzeitlichung der Sozialstruktur .......................................................... 31 2.1.4 Lebensverlaufsforschung versus Verzeitlichungsthese ............................. 33 2.1.5 Die Entkopplung von Klassenstruktur und subjektiven Merkmalen ...... 36 2.1.6 Die Entkopplungsthese auf dem Priifstand ................................................. 42 2.2 Warum der soziale Wandel keine Begriindung fUr theoretischen Wandel ist - Eine Sozialstrukturanalyse des spiten deutschen Kaiserreichs ... .................................................................................................. 63 2.2.1 Die langfrlstige Entwicklung des Lebensstandards ................................... 64 2.2.2 Soziale Ungleichheit ........................................................................................ 66 2.2.3 Soziale und raumliche Mobilitat ................................................................... 70 2.2.4 Wie homogen war das sozialdemokratische ArbeitermiIieu? .................. 72 2.2.5 Klassenstruktur und Lebensstile ................................................................... 77 2.3 Auf dem Weg zu einer plural en Sozialstrukturanalyse .......................... 79 3. Soziale Milieus und Lebensstile als Konigsweg der Sozialstrukturanalyse? .................................................................................. 85 3.1 Strukturbildung aus subjektzentrierter Perspektive ............................... 87 3.1:1 Soziookonomische Modernisierung und die Erlebnisgesellschaft ........... 88 3.1.2 Sozialstrukturanalyse: Von der hierarchisch geschichteten Gesellschaft zu entvertikalisierten sozialen Milieus ................................. 100 3.2 Die Transformation und Modemisierung von Klassenmilieus .......... 107 3.2.1 Der soziale Raum und seine Achsen .......................................................... 107 3.2.2 Die Autonomie der Felder: Habitus, Milieus und politische Lager ....... 111 3.2.3 Der Wandel der Erwerbsstruktur und die Transformation sozialer Milieus .............................................................................................. 115 3.2.4 Marktforschung und Klassenmilieus? ........................................................ 117 3.3 Lebensstile in der empirischen Sozial£orschung ................................... 120 3.3.1 Das Lebensstilkonzept von Annette Spellerberg ...................................... 121 3.3.2 Die empirischen Studien .............................................................................. 124 3.3.3 Lebensstile als erklarendes Konzept ........................................................... 129 3.4 Lebensstile als Resultat von rationalen Wahlprozessen ....................... 132 3.4.1 Die Entstehung von Lebensstilen ................................................................ 132 3.4.2 Versuch einer empirischen Uberpriifung .................................................. 137 3.5 Sozialstrukturanalyse ohne Theorie ......................................................... 141 4. Rekonstruktion der Grundbegrif£e der Sozialstrukturanalyse ........... 147 4.1 Eine handlungstbeoretische Obersetzung ............................................... 147 4.1.1 Der handlungstheoretische Rahmen ........................................................... 150 4.1.2 Briickenhypothesen und die Verbindung von Makro- und Mikrokonzepten .................................................................................... 153 Exkurs: Das Modell der Frameselektion .................................................... 164 4.1.3 Eine Typologie von Handlungsanreizen .................................................... 174 4.1.4 Eine handlungstheoretische Rekonstruktion der Grundbegriffe der Sozialstrukturanalyse ................................................................................... 177 4.1.5 Der Zusammenhang von Klasse, Milieu und Lebensstil ......................... 184 4.1.6 Zuriick zu einer makrosoziologischen Sozialstrukturanalyse ................ 186 4.2 Die beschrankte Relevanz des Klassenkonzepts ................................... 189 4.2.1 Die Ubersetzung von kategorialen Ungleichheiten .................................. 190 4.2.2 Ressourcen und kategoriale Ungleichheiten ............................................. 195 4.2.3 Kategoriale Ungleichheiten in Deutschland .............................................. 212 4.2.4 Der Klassenbegriff in der Makrosoziologie ............................................... 221 4.3 Von Lebensstilen zu kulturellen Praferenzen ........................................ 225 4.3.1 Das Konzept der kulturellen Priiferenzen .................................................. 225 4.3.2 Kulturelle Priiferenzen und die Struktur sozialer Ungleichheit ............. 235 4.3.3 Kulturelle Priiferenzen und Makrosoziologie ........................................... 238 4.4 Von sozialen Milieus zu homogamen sozialen Netzwerken ............... 248 4.4.1 Die plurale Einbettung von Akteuren in soziale Milieus ........................ 248 4.4.2 Die empirische Pluralitat sozialer Milieus ................................................. 259 4.4.3 Die Einbettung in soziale Milieus und die Struktur sozialer Ungleichheit ................................................................................................... 269 4.4.4 Soziale Netzwerke als Resultat von Priiferenzen und Handlungsrestriktionen ............................................................................... 270 4.4.5 Die makrosoziologische Relevanz des Milieukonzepts ........................... 279 5. Plurale Sozialstrukturanalyse und kulturelle Aktivitaten: Exemplarische Studien ................................................................................ 285 5.1 Kulturelle Praferenzen und Handlungsrestriktionen in Hoch-und Niedrigkostensituationen ........................................................................... 286 5.2 Soziale Anreize und ihre ErkHirungskraft fUr kulturelle Aktivitaten 300 5.3 Differenzierte Motive fUr kulturelle Aktivitaten ................................... 303 5.4 Die Entstehung von kulturellen Praferenzen ......................................... 309 5.4.1 Determinanten von kulturellen Praferenzen - ein Literaturiiberblick .. 310 5.4.2 Die Priigung des Musikgeschmacks im Elternhaus: empirische Studien ........................................................................................ 323 5.4.3 Zusammenfassung ........................................................................................ 333 6. Zusammenfassung und Ausblick ............................................................. 335 7. Anhang ........................................................................................................... 349 8. Literatur .......................................................................................................... 357 1. Einleitung Die Sozialstrukturanalyse und die Ungleichheitsforschung waren in den vergan genen Jahrzehnte in sUirkerem MaBe durch heftige Diskussionen iiber ihre Grund begriffe gekennzeichnet als andere Bereiche der Soziologie (Hradll 1998; Miiller 1998; Allmendinger/Ludwig-Mayerhofer 2000). In zahlreichen Publikationen der achtziger Jahre wurde ein groBes Unbehagen gegeniiber den traditionellen Model len der Sozialstrukturanalyse formuliert. Es sind vor allem die Begriffe Klassen und Schicht, deren Protagonisten sich ja noch bis in die siebziger Jahre hinein ge genseitig beklimpft hatten, die nun in die Schusslinie der Kritik gerieten. Um die vermuteten Veranderungen der Sozialstruktur zu erfassen, wurden von verschie denen Seiten klassische soziologische Begriffe wiederbelebt, die ein hoheres Poten tial zur Analyse der Grundstrukturen modemer Gesellschaften besitzen und daher an die Stelle der scheinbar iiberholten Konzepte treten sollen, wie dies symptoma tisch im Untertitel eines Buches von Stefan Hradll (1987) formuliert wird: "Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus". Neben den hier genannten sozialen Lagen und Milieus war es vor aHem das Konzept der Lebensstile, das von Bour dieu in seiner kultursoziologisch gewendeten Klassentheorie wieder eingefiihrt, und in der Folge auch in der deutschen Sozialstrukturanalyse breit diskutiert wur de. Wie stark die begriffliche Veranderung im Diskurs der Sozialstrukturanalyse war, wird aus der Grafik 1.1 deutlich. Sie basiert auf einer Auswertung der Daten banken Solis/Foris, die deutschsprachige Publikationen und Forschungsprojekte im Bereich der Sozialwissenschaften nachweist.l Die Grafik veranschaulicht, dass in den siebziger Jahren die Begriffe Klasse und Schicht offensichtlich zum taglichen Handwerkszeug vieler Sozialwissenschaftler gehort haben, aber seit Beginn der achtziger Jahre die Verwendung dieser Konzepte stark nachgelassen hat. Dabei deutet sich freilich fUr den Klassenbegriff eine gewisse Trendumkehr an, die mog licherweise mit der theoretischen Ausarbeitung des Klassenkonzepts im angel sachsischen Raum zusammenhangt. Dagegen haben das Milieu- und das Lebens stilkonzept, von einem sehr niedrigen Ausgangsniveau ausgehend, stark an Be deutung gewonnen. Findet sich das Milieukonzept in der Mitte der siebziger Jahre lediglich in ungefahr 0,2 % der Nachweise, so hat sich dieser Antell bis zur Jahr- 1 Da es sich hier urn eine einfache Wortsuche handelt, konnen nur die zeitlichen Entwicklungen sinnvoll interpretiert werden, nicht aber die jeweiligen Anteile verglichen werden. 12 1. Einleitung tausendwende versechsfacht; ahnlich sieht die Entwicklung auch fUr das Konzept der Lebensstile aus, das von einem vergleichbar niedrigen Niveau von unter 0,2 % einen kontinuierlichen Anstieg auf tiber 1,1 % erlebt hat. Der Augenschein spricht dafUr, dass sich die wiederentdeckten Begriffe soziales Milieu und Lebensstil in der Soziologie erfolgreich durchgesetzt haben und es entsprechend zu einem rela tiven Niedergang der klassischen Konzepte von Klasse und Schicht gekommen ist - dies gilt auch wenn man den kleinen Anstieg der PopularWit des Klassenkon zepts seit Mitte der neunziger Jahre berticksichtigt.2 Grafik 1.1: Die Verwendung von Grundbegriffen der Sozialstrukturanalyse in deutschsprachigen Forschungsprojekten und Publikationen in % 6 ,--------------------------------------------------- . ............... - -- .', , 5 3 T-------------~--------~~-------------- - .. - - o ... .... ... ." +--~-~_._._._._._._._._._.--._._._._,_._._._.__._._r_r_._._._._. 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989 1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 ------. Klassen - Schichten - - - • Lebensstile ---Soziale Milieus Doch trotz der in der Grafik dargestellten Entwicklung kann von der erfolgreichen wissenschaftlichen Durchsetzung dieser neuen Begriffe und einer faktischen Erset zung der alten Konzepte nicht gesprochen werden. Erstens zeigen empirische Stu dien, dass die Erklarungskraft der neuen Begriffe nicht hoher ist als die der alten (Kapitel 2.1.2). Wenn man aus diesen empirischen Ergebnissen tiberhaupt eine Schlussfolgerung ziehen kann, dann ist es die der Pluralitat der Sozialstruktur. Offensichtlich gibt es unterschiedliche Moglichkeiten bzw. Ebenen der Beschrei- 2 Eine statistische Auswertung der Daten mit zeitreihenanalytischen Verfahren kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass der Niedergang der Klassen- und Schichtkonzepte nicht durch den Aufstieg der Begriffe Milieu und Lebensstil verursacht wird. Die auf den ersten Blick zwischen den Variablen exis tierenden hohen Korrelationen gehen ausschlieElich auf die Autokorrelationsmuster der Zeitreihen zuriick.