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Peter Stamm: Agnes PDF

39 Pages·2015·1.1 MB·German
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pangloss.de Seite 1 /39 Martin Baier Peter Stamm: Agnes Ein kritischer Kommentar http://www.pangloss.de Ein Seitenweg zu Kulturgeschichte, Germanistik, Deutsch und Englisch. 2 1 Inhalt 2 Entstehung des Romans .................................................................................................................. 2 3 Aufbau ............................................................................................................................................. 3 4 Kommentar ...................................................................................................................................... 3 5 Weitere Motivkreise ...................................................................................................................... 27 6 Dunkle Stellen ................................................................................................................................ 34 7 Postmoderne Züge des Romans .................................................................................................... 34 8 Biographie Peter Stamm ............................................................................................................... 34 9 Sprache und Stil ............................................................................................................................. 36 10 Zeitgeschichtliche Bezüge ......................................................................................................... 36 11 Literarische Laufbahn Peter Stamms......................................................................................... 37 12 Auswahlbibliographie ................................................................................................................ 38 13 Internetquellen .......................................................................................................................... 39 2 Entstehung des Romans Über die Entstehung der Agnes sagt Stamm: „Die erste Notiz zu Agnes machte ich mir am 12. Februar 1993. Damals datierte ich die wenigsten meiner Notizen und manche warf ich weg. Etliche mögen noch irgendwo in den Stapeln von Notizbüchern stecken, die ich leider ziemlich unsystematisch führe und aufbewahre. Ich habe keine Zeit, diese alten Papiere durchzusehen und mein Gedächtnis ist leider auch nicht das Beste. Kurz gesagt: vieles über die Entstehung von ‚Agnes‘ liegt im Dunkeln.“1 Ferner gibt er an, das auslösende Erlebnis sei gewesen, als er am Ufer der Saane in Freiburg zunächst den Eindruck hatte, seine Freundin nicht zu erkennen, sie dann aber „wirklich zu sehen“.2 Die erste Notiz stamme vom 12.2.1993, zuvor habe er Freunde in Chicago besucht, die im Doral Plaza wohnten.3 Zwischen März und April desselben Jahres habe Stamm den Text zu einer achtzigseitigen Novelle mit dem Arbeitstitel „Agnes“ verfasst, der jedoch nicht veröffentlicht worden sei. Stamm habe sie gemeinsam mit anderen Texten unter dem Titel „Agnes – Geschichten aus der neuen Welt“ an verschiedene Verlage geschickt. 1997 wird die Novelle aus Gründen des besseren Absatzes zum Roman erweitert. 1998 stellt Stamm den Kontakt zur Zürcher Agentur Liepmann her, die den Roman im Verlag Arche platziert. 1997 erarbeitet Peter Stamm ein Hörspiel zu „Agnes“, das er an Radio Bremen übersendet. Es wird unter der Regie Holger Rinks ausgestrahlt und umfasst 92 Szenen in 45 Minuten.4 Erste Entwürfe zu Drehbüchern entstehen 1997. Dazu muss der Erzähltext für filmische Erfordernisse vorbereitet werden. Dazu gehören: Einstellungen, die erfundene Szenen von realen Szenen der Handlung unterscheiden helfen; die klare Kennzeichnung des Ich-Erzählers mit einem Namen („Walter“); die Verbindung der Szenen durch voice-over; der Ausbau der Agnes-Figur; 1 Peter Stamm: Agnes. Entstehung. In: http://www.peterstamm.ch/entstehung.php (25.10.2013) 2 Braun 2012, S. 18 3 Braun 2012, S. 19 4 Braun 2012; s. 20 3 pointierte Dialoge.5 Auf Einladung der Redaktion der ZDF-Kultursendung „aspekte“ nimmt Peter Stamm 1999 an Gesprächen über ein Internetprojekt mit dem Titel „novel in progress“ teil. Er schlägt die Erarbeitung eines Drehbuchs durch die Netzgemeinde vor, zieht sich schließlich jedoch aus dem Projekt zurück. Ein auf der Grundlage von Stamms Materialien von Samirs Produktionsfirma „Dschoint Ventschr“ geplanter Film kommt ebenso wenig zustande wie eine 2001 mit der Schweizer Produzentin Madelaine Schnell angedachte Verfilmung mit dem Drehort Toronto. 3 Aufbau Agnes umfasst 36 Kapitel, so wie Goethes „Wahlverwandtschaften“ und Fontanes „Effi Briest“ – exakt in der Mitte des Romans kommt es zur ersten schweren Krise im Verhältnis zwischen Agnes und dem Erzähler. Die Anordnung der Handlung um solche Symmetrieachsen steht im Kontrast zur inneren Unordnung der Protagonisten.6 Das letzte und das erste Kapitel sind durch den Schauplatz und den Haupthandelnden verbunden (der Erzähler betrachtet in seiner Wohnung Videos). Teilt man die Handlung in fünf Sequenzen, ergibt sich ein dem klassischen Fünfakter verwandtes Kompositionsschema, das tragische Ende mit dem möglichen Tod der Heldin verweist auf das im 19. Jahrhundert verbreitete Melodrama, jedoch ohne dessen Pathos. 4 Kommentar 36 Zahl der Kapitel in „Agnes“; der Fötus des Kindes geht, nach der Größe des Fetus zu urteilen, in der 12. Woche ab, insgesamt dauert eine Schwangerschaft neun Monate. Außer der Eins ist nur die 36 eine Dreieckszahl, deren Quadratwurzel 6 ebenfalls eine Dreieckszahl ist; zugleich ist die 36 eine pseudovollkommene Zahl; sie lässt sich als Summe einiger ihrer Teiler darstellen (6, 12, 18). Abtreibung Agnes eröffnet dem Erzähler, sie sei schwanger: „Ich bin schwanger… Ich 90 kriege ein Kind“ (S. 89). Nachdem dieser erklärt, Agnes werde nicht schwanger und zudem klarstellt, er könne kein Kind gebrauchen, verzweifelt Agnes zusehends. Als er auf ihre Einwendung, sie bekomme ein Kind, nur erwidert: „Das lässt sich ändern“ (S. 90), ist Agnes empört. Agatha Christie Louise trifft den Erzähler im Lesesaal der Public Library, wo er sich einen 97 „Kriminalroman“ (S. 97) bestellt hat, „Murder with Mirrors“ (1952, engl. Orig.: They do it with Mirrors). Sie empfiehlt ihm ironisch, er möge doch „Murder on the Orient Express“ (1934, amerik. Erstausgabe Murder in the Calais Coach) lesen, darin kämen wenigstens „Luxuswagen vor“ (Ebd.). 1926 verschwand Christie nach Streitigkeiten mit ihrem Mann für 11 Tage und war – wie zuletzt Agnes – unauffindbar. Wie Christie führt der Erzähler seine Leser in die Irre; der Tod ist durch das Genre des Kriminalromans vorgegeben. Mitunter ist bei Christie der Ich-Erzähler der Täter, sodass man sich wie bei Agnes auf dessen Informationen verlasse muss. Erst zuletzt erkennt der Leser von Christies Romanen (wie auch der Leser der 5 Braun 2012, S. 22 6 Braun 2012, S. 40 4 Agnes), wie der Roman komponiert ist. Wie der Titel des Romans, so ist auch der Titel des zitierten Christie-Romans ein literarisches Zitat (aus Alfred Lord Tennysons Lady of Shalott). Agnes Zum Namen der Hauptfigur Agnes schreibt Peter Stamm: „Bevor meine Figuren Namen haben, bezeichne ich sie in meinen Notizen oft mit zufälligen Initialen. Die Männerfiguren bezeichne ich meistens mit ‚A.‘ wie Adam. (Und oft tragen sie später auch in den Büchern Namen, die mit A beginnen, wie Andreas in ‚An einem Tag wie diesem‘ oder Alexander in ‚Sieben Jahre‘.) In der ersten Notiz zu Agnes ist einfach von ‚einem Schriftsteller‘ und ‚einem Mädchen‘ die Rede. Ich hatte im Hinterkopf einen dänischen Namen für Agnes, konnte mich aber nicht mehr an ihn erinnern. Ich blätterte durch dänische Telefonbücher, bis ich den Namen Solveig wieder gefunden hatte. Allerdings wurde mir dann – nicht nur wegen Ibsens ‚Per Gynt‘ [sic!] – sofort klar, dass es der falsche Name war.“7 Stamms Agnes (Namensbedeutung: „die Reine“) erinnert ferner an Goethes Gretchen und an Kleists Agnes aus Die Familie Schroffenstein.8 Zu denken ist außerdem an die Heilige Agnes von Rom (Gedenktag: 21.1.), die als unschuldige Märtyrerin stirbt. Einer versuchten Vergewaltigung der hl. Agnes kommt Gott zuvor, indem er den Vergewaltiger von einem Dämon heimsuchen lässt und Agnes mit ihrem Haar umschließt. Bauernregeln deuten die Lebensfeindlichkeit des Agnestags an („Die Agnessonne hat weder Kraft noch Wonne“), aber auch, dass sich in der Kälte des Mittjanuars neues Wachstum regt („Wenn Agnes und Vincentus [22.1.] kommen, wird neuer Saft im Baum vernommen.“). In der katholischen Kirche wird die heilige Agnes als Schutzpatronin der Jungfrauen und der jungen Mädchen, der Verlobten und der Keuschheit angerufen.9 Parallelen zu Agnes gibt es in Stamms Erzählungen Blitzeis (Larissa) und Was wir können (Evelyn). Ob Agnes Zwangsneurotikerin ist, einem Waschzwang unterliege, ob ihr Speiseritual krankhaft ist – darüber lässt sich nur spekulieren. Der Erzähler berichtet, dass sie Physikerin ist und an einer Dissertation über „die Symmetrien der Symmetriegruppen von Kristallgittern“ schreibt. Agnes habe eine „Teilzeit-Assistentenstelle am Mathematischen Institut der Chicago“ (S. 20), was sich nach Auffassung des Erzählers auch an ihrem Schreiben zeige: „‚Sie [die Geschichte] kommt mir vor wie eine mathematische Formel […], wie wenn du irgendwo im Kopf eine Unbekannte X gehabt hättest, die es zu finden gilt. Die Geschichte wird immer enger, wie ein Trichter. Und irgendwann ist das Resultat null“ (S. 42). Agnes sei, so erfährt der Leser außerdem, „fünfundzwanzig“, liebe „Malerei und Gedichte“ (S. 20). Die Eltern, zum Vater hat sie ein schwieriges Verhältnis (S. 40), leben in Florida. Agnes spricht ungern über ihre Kindheit (S. 57) und war nach eigener Aussage 7 Peter Stamm: Quellen. Unter: http://www.peterstamm.ch/quellen.php (02.01.2015) 8 Braun (2012), S. 65 9 Friedrich Wilhelm Bautz: Agnes. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 1, Hamm: Bautz, 1975. 2., unveränderte Auflage 1990 5 „gut in der Schule“ (S. 55); außer dass ihr Professor ihr vertrauensvoll seine Kamera leiht, erfährt der Leser jedoch nichts über ihre Ausbildung. Agnes wohnt in einem der Außenviertel Chicagos, in einer Einzimmerwohnung („studio“, S. 20), und pflegt keine freundschaftlichen Sozialkontakte, von dem Streicherquartett abgesehen, mit dem sie spielt. Agnes‘ Freund Herbert (S. 18, S. 40), zu dem sie noch lose Kontakt hat, lebt in New York – in Bezug auf den Erzähler findet sie, der Begriff „Freund“ klinge „seltam“ (S. 47). Der Erzähler sieht Agnes als Kind: Sie unterstreicht die Beschriftung der Videokassette doppelt, „wie wir als Kinder die Resultate unserer Rechnungen unterstrichen haben“ (S. 10), oder, etwas später: „Sie lag auf dem Rücken und hatte die Decke bis zur Nase hochgezogen“ (S. 29) oder „Agnes hatte vor Aufregung rote Wangen, als sie mir die Tür öffnete“ (S. 38). Dass Agnes rot wird, erwähnt der Erzähler zu Agnes‘ Verdruss auch in seiner Erzählung (S. 54). Agnes hat ferner „eine Vorliebe, über Ideen zu reden“ (S. 21), spricht dagegen kaum über ihr Privatleben. Außerdem urteilt der Erzähler: „Wenn wir diskutierten, lag in allem, was Agnes sagte, ein seltsamer Ernst, ihre Ansichten waren streng“ (S. 21). Auch beim Essen beobachtet der Erzähler Agnes sehr intensiv: „Sie saß sehr aufrecht am Tisch, aß langsam und sorgfältig, als müsse sie sich konzentrieren, um keine Fehler zu machen. Wenn sie kaute, hatte sie die gespannte Nervosität einer Musikerin, die auf ihren nächsten Einsatz wartet“ (S. 23). Das Bild, das der Erzähler von Agnes‘ Äußerem entwirft, bleibt blass: „Ihr Äußeres war nicht auffallend, sie war schlank und nicht sehr groß, ihr braunes Haar war schulterlang und dicht, ihr Gesicht bleich und ungeschminkt“ (S. 14). Dass Agnes „bleich“ ist, unterstreicht der Erzähler auch, als er sie zum ersten Mal nackt sieht (S. 26) und als er sie nach der Ausschabung besucht: „Sie war sehr bleich“ (S. 111). Bei einem Besuch fällt dem Erzähler auf, dass Agnes kaum Bücher besitzt (S. 39). Ob ihre Augen „blau“ sind, wie der Erzähler in der Agnes-Geschichte (S. 54) festhält, bleibt unklar, ebenso, ob Agnes tatsächlich, wie vom Erzähler unterstellt, einen „steifen Gang“ hat (S. 85). Amerikabild Amerikanische Großstädte sind in der deutschsprachigen Literatur als Schauplatz nicht ungewöhnlich, etwa bei Kirsten Boie, Patrick Roth und Ulrich Peltzer.10 Auch Stamm verwendet typische Versatzstücke des deutschen Amerikabilds – Louise lässt er sagen: „Das Bild, das sich die Amerikaner von Europa machen, hat mehr mit ihnen selbst zu tun als mit Amerika“ (S. 101). Weitere Motive: 1. Der „American in Paris“: Die überzogene Begeisterung der Amerikaner für Paris als Stadt der Liebe (S. 100) --- 2. Der ungebildete Amerikaner (Louises Mutter spricht St. Anton als „Stanton“ aus. (S. 100); Louise hält ihre Landsleute für „dekadente Wilde“ (S. 86) --- 3. Reiche Amerikaner schmücken sich mit europäischem Bildungsgut und europäischen Ehepartnern. (S. 100) --- 4. Amerika ist jünger, frischer (S. 101) --- 5. American Dream: In Amerika ist alles möglich 10 Braun (2012), S. 70 6 (S. 101), besonders für den „selfmade man“ (S. 102) --- 6. Amerika als Hort der Freiheit (Widerstand der Pullman-Arbeiter, S. 104) --- 7. Amerika als Land des Materialismus (Louises Vater, S. 144) --- 8. Die Weite des Landes - -- 9. das Hollywood-Schema des Happy Ends (S. 124). Amtrak Amtrak ist als Marke der National Railroad Passenger Corporation 83 (gegründet 1971) der in den USA am meisten verbreitete Anbieter im nationalen Personenverkehr auf der Schiene. Der Erzähler reist mit Amtrak nach New York, er besucht jedoch auch eine Amtrak-Party an Halloween, wo er auf Louise trifft (S. 83). Anglizismen Peter Stamm verwendet eine ganze Reihe von englischen Begriffen und Lehnbildungen. Eher ungebräuchlich ist im deutschsprachigen Raum der Begriff „Studio“; gemeint ist eine Einzimmerwohnung. Auch sonst färbt Stamm die Agnes mit Lokalkolorit: „Coffee Shop“ (S. 19, 21), „Lobby“ (Eingangshalle des Hotels, S. 18); „Shopping-Center“, „Textfile“ (Textdatei, S. 41)“, „Sandwiches“ (S. 58, S. 152), „Cheesecake“ (S. 69), „Indian Summer [im Orig. kursiv]“. Athene Agnes wird in der Geschichte des Erzählers aus dessen „Kopf neu geboren 55 wie Athene aus dem Kopf von Zeus, weise, schön und unnahbar“ (S. 55). Die jungfräuliche Athena ist zunächst die Schutzgöttin und Namensgeberin Athens; sie gilt ferner als Göttin der Städte, der Weisheit und des Kampfes, so auch der Kriegstaktik und der Strategie; außerdem ist sie Schirmherrin der Künste und der Wissenschaften. Zeus soll die von ihm geschwängerte Metis verschlungen haben; er litt daraufhin unter heftigen Kopfschmerzen. Der Schmiedegott Hephaistos zerschlägt daraufhin den Schädel des Zeus, woraufhin Athene ihm in voller Rüstung entspringt. Eine Kopfgeburt ist die fiktive Agnes als „Geschöpf“ des Erzählers ohnehin. Auld Lang Syne Robert Burns’ Lied Auld Lang Syne (1788) wird traditionell am 137 Silvesterabend gesungen, aber auch bei anderen Zusammenkünften, die eine Rückschau erfordern. Die erste Strophe teilt mit dem Roman das Thema des Vergessens, das gesamte Lied das Moment des Zurückschauens. Should auld acquaintance be forgot, and never brought to mind? Should auld acquaintance be forgot, and auld lang syne For auld lang syne, my jo, for auld lang syne, we’ll tak a cup o’ kindness yet, for auld lang syne. And surely ye’ll be your pint-stowp ! 7 and surely I’ll be mine ! And we’ll tak a cup o’ kindness yet, for auld lang syne. We twa hae run about the braes, and pu’d the gowans fine ; But we’ve wander’d mony a weary fit, sin auld lang syne. We twa hae paidl’d i' the burn, frae morning sun till dine ; But seas between us braid hae roar’d sin auld lang syne. And there’s a hand, my trusty fiere ! and gie's a hand o’ thine ! And we’ll tak a right gude-willy waught, for auld lang syne. Ausschabung Bei einer Ausschabung (Abrasio, Kürettage) werden Reste des 111 Mutterkuchens und des Fetus sowie mitunter die obere Schicht der Gebärmutterschleimhaut im Bereich der Gebärmutterhöhle und des Gebärmutterhalses entfernt. Der Eingriff wird oft ambulant vorgenommen, ein dreitägiger Klinikaufenthalt wie im Fall der Agnes ist eher die Ausnahme. Agnes sagt außerdem von sich selbst, sie müsse „Hormone nehmen“ um wieder schwanger zu werden. Dabei ist etwa an Medikamente zu denken, die den Zyklus stabilisieren (Progesteron) oder an solche, die die Eierstöcke stimulieren (Clomifen, Follikelstimulierendes Hormon oder Humanes Menopausengonadotropin). Der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Hormonbehandlung unterstützt die Darstellung der Agnes als unfruchtbarer Kindfrau. Bildnisse Das Problem, sich von anderen Menschen ein unzutreffendes Bild zu machen, wird an vielen Stellen im Roman angespielt. Mit dem Bildnisverbot befasst sich übrigens auch Max Frisch in seinem ersten Tagebuch (1946-1949); die Unfähigkeit, dem anderen Wandel und Entwicklung zuzugestehen, sieht Frisch als Hauptgrund für das Scheitern der Liebe. In Andorra, Stiller und Homo Faber befasst er sich ebenfalls mit dem Bildnisproblem. In Stamms Agnes gelingt es dem Erzähler nicht, ein umfassendes Bild der Agnes zu gewinnen, obgleich er sich anmaßt: „Ich kenne dich vielleicht besser als du dich selbst“ (S. 90). Bereits in einer früheren, gescheiterten Beziehung schwebt dem Erzähler ein verkehrtes Bild der Freundin vor: „Ich machte ihr häßliche Vorwürfe, die sie nicht verstand, die sie nicht verstehen konnte, weil sie einer anderen Frau galten, einer Frau, die nur in meinen Gedanken existierte.“ --- Ständig entwirft er verschwommene und unzutreffende Bilder von der Entwicklung 8 seiner Beziehung mit Agnes: „In meinem Kopf war unsere Beziehung viel weiter gediehen als in Wirklichkeit“ (S. 17). Videoaufnahmen verharren im Detail oder sind unklar und verschwommen, auch mit den Mitteln der Fotografie ist Agnes nicht recht beizukommen: „Sie blickte direkt in die Kamera, aber obwohl sie lächelte, wirkte ihr Gesicht abweisend und verschlossen“ (S. 38). Eben deswegen wünscht sich Agnes, dass der Erzähler eine Geschichte über sie schreibt: „Es wäre wie ein Porträt. Du hast die Fotos von mir gesehen. Es gibt kein einziges gutes Bild von mir. Auf dem man mich so sieht, wie ich bin“ (S. 48). Darauf bezieht sich der Scherz des Erzählers, Agnes müsse ihm „Modell sitzen“ (S. 53) und die Frage, wie sie denn „aussehen“ wolle (S. 53). Manche Entwürfe weist Agnes zurück; sie betont, sie wolle so dargestellt werden, wie sie wirklich sei: „Kann ich nicht einfach in der Bibliothek auftauchen, wie ich bin? Wie ich jetzt bin?“ (S. 55). Ihr Verlangen nach einer realistischen Darstellung ihrer selbst wird auch deutlich, als sie den Erzähler auffordert: „schreib die Geschichte weiter und schreib alles auf, was geschehen ist. Das Kind, der See, Louise…“ (S. 114). Im Folgenden stehen Beschreibung (die Agnes- Erzählung) und Realität in steter Wechselwirkung. Der Erzähler gestaltet die Erzählung nach Motiven aus der Wirklichkeit, die Wirklichkeit folgt den Vorgaben der Erzählung (Einkaufen von Kinderkleidung). Emotionale Nähe verhindert wie im Bild Seurats die Erkenntnis des Anderen; das pointilistische Bild ist ebenso wie der Bildschirmschoner ein Bild, das die Augen täuscht. Auffällig ist auch, dass es dem Erzähler nicht gelingt, das fiktive Kind aus der Beziehung mit Agnes zu zeichnen (S. 107). Auch das wirkliche Kind kann er sich nicht vorstellen: „Es hatte keinen Namen und kein Gesicht“ (S. 131). Der Erzähler selbst spricht im Hinblick auf eine vorherige gescheiterte Beziehung die Bildnisproblematik an. Er sagt Agnes: „Meine damalige Freundin trennte sich von mir, weil sie sich in einer der Geschichten wiedererkannt hatte“ (S. 50); sogleich relativiert der unzuverlässige Erzähler die Bemerkung, die er zu einer „Version“ erklärt, auf die man sich geeinigt habe. Agnes macht dem Erzähler klar, dass er schreibe, sie filme dagegen (S. 70). Während seines Wachtraums nimmt der Erzähler sein Zimmer nur als „verschwomme[s] Bild“ wahr (S. 81) Catskills Die Catskill Mountains sind ein zu den Appalachen gehörender 32 Mittelgebirgszug im Staat New York. Die in weiten Teilen landschaftlich geschützten Catskills sind ein traditioneller Urlaubsort New Yorker Sommerfrischler, vor allem jüdische Familien besitzen dort Ferienhäuser. Agnes ist dort als Kind auf Wunsch ihres Vaters Teilnehmerin an einem Summer Camp der Pfadfinder (Girl Scouts of America) gewesen. Dort erlebt sie, wie ein Nachbarmädchen namens Jennifer verunglückt (Jennifer: gwen = „weiß, schön“ + hwyfar „glatt, weich“ = „schönes Gesicht, weiße Wange“). Chicago Chicago ist mit zehn Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt der USA; der Erzähler taucht in die Anonymität einer Großstadt ein. Auch die kalten 9 Winter (Durchschnittstemperatur im Januar: 6°C) spiegeln sich in der Handlung, ebenso die Häufung von böigen Wetterlagen im Winter. Peter Stamm berichtet über die Wahl des Schauplatzes: „Kurz bevor ich ‚Agnes‘ schrieb, verbrachte ich drei Monate in New York in der Absicht, dort zu schreiben. Ich wohnte zusammen mit einem nigerianischen Studenten an der Grenze zu Spanish Harlem in einer Wohnung, die ich später für die Erzählung ‚Das reine Land‘ in ‚Blitzeis‘ verwendete. (Allerdings wird sie in der Geschichte von einem Paar bewohnt, mit dem ich während eines früheren New York Aufenthaltes zusammengewohnt hatte.) Während dieses Aufenthaltes besuchte ich einen Freund in Chicago. Eine Woche lang wohnte ich bei ihm im Doral Plaza, dem Gebäude, in dem der Erzähler von Agnes wohnt. Dass ich ‚Agnes‘ in Chicago (und nicht in New York, das ich viel besser kannte) ansiedelte, hatte mehrere Gründe. Vor allem schien mir in Chicago der Gegensatz von Natur und Kultur viel präsenter. Chicago hat ein extremes Klima und eine weniger lange Geschichte als New York. Es ist hier viel einsichtiger, was der Parkaufseher zu Agnes und zum Erzähler sagt: ‚Die Zivilisation ist nur eine dünne Haut, die sofort reißt, wenn man sie nicht mehr pflegt.‘ Zudem ist New York eine Stadt, von der jeder Bilder hat. Chicago war da viel weniger belastet, ein weisses Blatt. Immerhin habe ich als eine Art Hommage die New York Public Library, einer meiner liebsten Orte in New York, im Buch nach Chicago versetzt. Sowohl den grossen Lesesaal als auch die breite Freitreppe, auf der Agnes und der Erzähler sich zum ersten Mal unterhalten, gibt es in Chicago nicht.“11 Chicago Die Mitte des 19. Jahrhunderts Tribune gegründete Chicago Tribune gehört zu den größten Tageszeitungen der USA. Die Abbildung zeigt die Ankündigung „To Crush the Mob“ zu einem Artikel aus der Chicago Tribune vom 8. Juli 1894. Der Ich-Erzähler berichtet, er habe gerade „alte Bände der Chicago Tribune“ studiert, als Agnes den Raum betritt. Die Chicago Tribune hat die Geschehnisse um den Pullman-Streik im Jahr 1894 aus der Perspektive der Regierung begleitet. Die Vergangenheit von Louises Familie wird deshalb auch mit einem Chefredakteur der Chicago Tribune belegt (S. 101) – es soll sich um Louises Urgroßvater mütterlicherseits gehandelt haben. Cinderella „Wünsch deiner Cinderella ein gutes neues Jahr“, vermerkt Louise „bitter“ 147 gegenüber dem Ich-Erzähler. Dass sie Agnes als Aschenputtel kennzeichnet, verrät einerseits Louises Selbstverständnis als Angehöriger der Oberschicht und ihre Geringschätzung der Konkurrentin. Die zynische 11 Peter Stamm: http://www.peterstamm.ch/quellen.php (02.01.2015) 10 Anspielung auf das bekannte Märchenmotiv, der Ich-Erzähler möge ihr deren Schuhe zum Anprobieren mitbringen, karikiert zugleich dessen Hinwendung zu Agnes als naiv und traumtänzerisch. Columbus Day Der Tag, an dem Agnes und der Erzähler in den Hoosier National Forest fahren, ist ein zweiter Montag im Oktober. Gefeiert wird die Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus am 12.10.1492; insofern ist der Tag, der zu einer Entdeckung, einer Epiphanie, in die Wildnis führt, symbolisch zu verstehen. Doral Plaza Der etwa 130 Meter hohe Wolkenkratzer am Doral 51 Plaza (151-155 North Michigan Avenue Chicago IL United States) hat 40 Stockwerke; der Erzähler müsste bis zum Dach von seinem Apartment aus 13 Stockwerke überwinden, er fährt jedoch nur ins 34. Stockwerk und gelangt dann über eine „schmale Treppe“ aufs Dach des Gebäudes. Aus der Höhe schaut er distanziert hinab auf die Stadt, zu Mitbewohnern hat er keinen Kontakt. Dylan Thomas Dylan Thomas’ A Refusal to Mourn the Death, by Fire, of a Child in London 130 wurde 1946 in der Sammlung Deaths and Entrances veröffentlicht. Der Sprecher weigert sich, ein möglicherweise während des London Blitz getötetes Kind zu betrauern, weil eine Elegie die Würde des Todes beschädigt hätte. Stattdessen hebt er die Tatsache hervor, dass es nur ein Sterben gebe, über das hinaus kein weiteres möglich ist: „After the first death, there is no other“ (IV, 6). Thomas‘ Text ist in der Norton Anthology abgedruckt. Never until the mankind making Bird beast and flower Fathering and all humbling darkness Tells with silence the last light breaking And the still hour Is come of the sea tumbling in harness And I must enter again the round Zion of the water bead And the synagogue of the ear of corn Shall I let pray the shadow of a sound Or sow my salt seed In the least valley of sackcloth to mourn The majesty and burning of the child’s death. I shall not murder The mankind of her going with a grave truth Nor blaspheme down the stations of the breath

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9. das Hollywood-Schema des Happy Ends (S. 124). Amtrak. Amtrak ist als Marke der National Railroad Passenger Corporation. (gegründet 1971) der
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