B6897F Informationen 317 zur politischen Bildung / izpb 4/2012 Naher Osten Nachbarregion im Wandel 2 Naher Osten – Nachbarregion im Wandel Inhalt Was ist der Nahe Osten? – eine Einführung ................4 Kulturen und Religionen ............................................................8 Kulturgeschichte des Vorderen Orients ...........................................8 Die Religion des Islam ...........................................................................12 Politischer Islam ......................................................................................16 Zwischen Kolonialismus und Nationenbildung ....20 Staatsbildung im Schatten des Verrats ..........................................21 Islamismus oder Nationalismus .......................................................21 Antizionismus als Identitätsfaktor? ................................................24 Arabische Liga und Gründung Israels .............................................25 Von der formalen zur realen Unabhängigkeit ............................27 Erdöl als historischer „Wirkstoff“ .....................................................29 Die Epoche der Autokraten ......................................................31 Die Republiken .........................................................................................31 Die konservativen Monarchien ........................................................36 Entwicklung und Struktur der Wirtschaft .................38 Beginnende Industrialisierung .........................................................38 Importsubstitution und Strukturreform ......................................39 Abhängigkeit vom Erdöl und boomende Golfregion ..............40 Tourismus und neue Technologien ..................................................42 Einfluss der Entwicklungszusammenarbeit ...............................44 Gesellschaftliche Herausforderungen ..........................46 Alters- und Bevölkerungsstruktur ...................................................46 Zustand des Bildungssystems ...........................................................47 Jugendarbeitslosigkeit .........................................................................48 Urbanisierung .........................................................................................49 Wasserversorgung und Umweltpolitik .........................................49 Die Rolle der Frau . ....................................................................................51 Regionales System und Machtbalance ..........................54 Der Arabische Kalte Krieg 1945 bis 1967 .........................................54 Vom Sechstagekrieg bis zum Umbruch 1989/90 .......................55 Zweiter Golfkrieg und Nahost-Friedensprozess .........................58 Der 11. September 2001 und folgende nahöstliche Kriege .....59 Regionale Dynamik ...............................................................................63 Die arabischen Protestbewegungen von 2011 ..........65 Ursachen der Proteste ...........................................................................65 Mobilisierungskanäle ...........................................................................67 Akteure der Protestbewegung ..........................................................69 Unterschiedliche Protestverläufe .....................................................72 Reaktionen des Auslandes ..................................................................77 Wirtschaftliche Auswirkungen .........................................................78 Perspektiven .............................................................................................80 ☛ Leserinnen und Leser, die des Arabischen mächtig sind, wer- Literaturhinweise ..........................................................................82 den feststellen, dass für arabische Namen und Begriffe eine ver- einfachte Umschrift gewählt wurde, und zwar möglichst eine, Internetadressen ............................................................................82 die in den in Deutschland verbreiteten Medien gebräuchlich ist. Leitprinzipien waren dabei Lesbarkeit und Erkennbarkeit. Bei Autorinnen und Autoren .........................................................83 der Wiedergabe der Lautung speziell in den Fremdtexten aus unterschiedlichen Quellen, die wir unverändert übernehmen, können dennoch leichte Abweichungen in der Schreibweise ein Impressum ...........................................................................................83 und desselben Begriffs vorkommen. Informationen zur politischen Bildung Nr. 317/2012 3 Editorial 2011 elektrisierte der „Arabische Frühling“ die globale tigen Regierungen werden Öffentlichkeit: Die Proteste vorwiegend junger sich daran messen lassen Menschen, darunter viele Frauen, für mehr Freiheit und De- müssen, was sie für Frauen- mokratie im scheinbar so fest zementierten politischen und rechte, Menschenrechte, Par- gesellschaftlichen Gefüge Nordafrikas und des Nahen Ostens tizipation, Würde und Ge- weckten Erstaunen und Sympathie. Auch das Augenmerk der rechtigkeit leisten“, befand Europäer richtete sich verstärkt auf die Nachbarregion jenseits die Islamwissenschaftlerin des Mittelmeers – nicht etwa, wie allzu oft, mit dem Fokus auf Gudrun Krämer. den Nahostkonflikt, die Erdölversorgung oder den Terroris- Die erneut aufbrechenden Konflikte in Ägypten und Tune- mus. Mit Spannung waren nicht für möglich gehaltene Ent- sien zeigen, dass die angestoßenen Transformationsprozesse wicklungen zu beobachten: der Sturz von Regimen, die zuvor Zeit brauchen und es zu Rückschlägen kommen kann. Insge- für die Ewigkeit gemacht zu sein schienen, aber auch blutige samt scheinen die Entwicklungen aber nachhaltige Wirkung Bürgerkriege, die in manchen Ländern begannen. zu entfalten. „Die Menschen sind größer geworden, die poli- Nach zwei ereignisreichen Jahren ist weithin Ernüchterung tischen Führer kleiner – und zwar in allen Staaten der Region. eingekehrt. So ist inzwischen in der Presse vom „Arabischen Deshalb gleich weniger Konflikte – über die Verteilung von Herbst“ (die Zeitschrift IP) oder gar „Arabischen Winter“ (DER Chancen und Ressourcen, die Definition von Freiheit und gu- SPIEGEL) die Rede. Der gerade angestoßene Wandel scheint ins ter Ordnung und die Gestaltung der regionalen Verhältnisse – Stocken zu geraten oder gar zurückgenommen zu werden. Zwar zu erwarten, wäre allerdings ziemlich geschichtsvergessen“, gelang es, in Ägypten, Libyen, Tunesien und im Jemen die auto- meint der Nahostexperte Volker Perthes. kratischen Herrscher abzulösen. Aber in Syrien kämpft das alte Der rasche Wandel im Nahen Osten hat alte Gewissheiten Regime verbissen um seine Macht; in anderen Ländern konnten erschüttert. Europa und die USA müssen sich daran messen die Regierenden die Revolten niederschlagen. Die Sicherheitsla- lassen, wie sie ihre Politik gegenüber den neuen Regimen, ge Israels jedenfalls hat sich dadurch nicht verbessert. aber auch gegenüber den weiterhin autokratisch regierenden Aus den freien Wahlen sind nicht diejenigen als Gewin- Machthabern gestalten wollen. ner hervorgegangen, die für Freiheit und Demokratie auf die Mit diesem Heft soll das grundlegende Verständnis für die Straße gingen, sondern häufig islamistische Parteien, wie Besonderheiten der Nahostregion neu geweckt werden. Als beispielsweise die Muslimbruderschaft in Ägypten oder die Teil der historisch gewachsenen Kulturgemeinschaft rings um Ennahda-Partei in Tunesien. Diesen kam zugute, dass sie lokal den Mittelmeerraum hat der Nahe Osten stets enge politische, gut vernetzt und organisiert sind und durch ihre langjährigen wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zu Europa unter- sozialen Aktivitäten großes Vertrauen in weiten Teilen der Be- halten. Von ihm gingen wichtige Impulse für die europäische völkerung genießen. Insbesondere die auf dem Land lebende, Kultur und Philosophie aus. Zugleich war er Ausgangspunkt eher wertkonservativ eingestellte Mehrheit stützt die islamis- und Schauplatz für kriegerische Konflikte im Namen der Re- tischen Parteien, die in unsicheren Zeiten, in denen gesell- ligion und später häufig Ziel und Zankapfel kolonialer, politi- schaftliche Umbrüche stattfinden und alte Gewissheiten an scher und wirtschaftlicher Machtansprüche. Wert verlieren, Halt im Vertrauten versprechen. Aber auch die Folgt man in Grundzügen dieser Entwicklung, wie sie im Zerstrittenheit und mangelnde Organisiertheit der eher säku- Heft überblickshaft dargeboten wird, erklärt sich vieles, was lar ausgerichteten Parteien trugen zu diesem Ausgang bei. die gegenwärtige Situation der Region charakterisiert. Entscheidend für den langfristigen Erfolg der islamisti- Neben Überblicken über Geschichte, Politik, Wirtschaft und schen Parteien wird sein, wie sie die sozialen und wirtschaft- Gesellschaft des Nahen Ostens analysieren die Autorinnen lichen Probleme in den Griff bekommen, ob es ihnen gelingt, und Autoren des Heftes, profunde Experten für die Nahostre- Arbeitsplätze und verbesserte Lebensverhältnisse, ein siche- gion, die regionalen Machtverhältnisse und skizzieren die Be- res Einkommen für die Massen, vor allem für die jungen deutung des Raums im internationalen Machtgefüge. Ein be- Menschen, zu schaffen. Sie müssen nicht nur die Netzwerke sonderer Schwerpunkt liegt auf den jüngsten Entwicklungen, der alten Eliten auflösen, sondern auch all jene pluralistisch deren Herausforderungen, Chancen und Risiken. eingestellten Bürgerinnen und Bürger einbeziehen, die nicht nach ihrem Gesellschaftsmodell leben wollen. „Die derzei- Jutta Klaeren Informationen zur politischen Bildung Nr. 317/2012 4 Naher Osten – Nachbarregion im Wandel Henner Fürtig Was ist der Nahe Osten? – eine Einführung Im Mittelalter war der Nahe Osten führend in Wissenschaft und Kunst. Später wurde er zum Ziel blutiger Kreuzzüge und schließlich unter den europäischen Kolonialmächten aufgeteilt. Seit dem „Arabischen Frühling“ erheben sich die Araber gegen ihre Diktatoren – mit ungewissem Ausgang. Seit jeher übt der Orient eine Faszination auf die Menschen in Europa aus. Religion, venezianischen Botschafters in Damaskus. Ölgemälde um 1511 von Giovanni di Begrifflichkeiten Im 19. Jahrhundert dehnten die Europäer ihren Einflussbe- reich weltweit aus. Nun übertrugen sie endgültig die ur- Der „Arabische Frühling“ von 2011 entfachte erneut lebhaftes sprünglich nur auf die Welt des Mittelmeers gemünzten Interesse an der arabischen Welt und knüpfte damit an eine Begriffsbestimmungen auf den gesamten Globus. Der „Null- Faszination an, die Europa seit Jahrhunderten für seine süd- meridian“ wanderte von Griechenland zu den Zentren der liche und südöstliche Nachbarregion empfindet. Dieses In- Kolonialmächte in Westeuropa. Von hier aus gesehen war teresse steht allerdings in auffälligem Kontrast zu den eher der östliche Mittelmeerraum nun „nah“, während Ostasien unklaren Vorstellungen über die geografische Eingrenzung und namentlich China und Japan in der „Ferne“ lagen. Die dieser Region und zu ihrer stets vagen Benennung: „Orient“, nun nicht länger ausschließlich geografisch und kulturell, „Morgenland“, „Arabische Welt“, „Naher Osten“, „Mittlerer Os- sondern vielmehr politisch verstandenen Begriffe „Naher ten“, „Mittelmeerregion“ und viele andere Bezeichnungen ste- Osten“ und „Ferner Osten“ fanden Eingang in die Alltags- hen häufig nebeneinander oder werden synonym verwendet, sprache der Europäer. Die politische „Aufladung“ der Begriffe ohne dass klar wäre, was sie jeweils konkret bedeuten. wird nicht zuletzt durch die Tatsache verdeutlicht, dass im Die älteste Namenszuweisung stammt aus der römischen ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert „Naher Antike, die den „Orient“ als eine von vier definierten Weltge- Osten“ oder „Vorderer Orient“ nicht mehr nur den östlichen genden ausmachte und zwar als „Osten“, in dem die Sonne Mittelmeerraum definierte, sondern das gesamte außereu- aufgeht (lat.: sol oriens). Demgegenüber stand der „Okzident“, ropäische Einflussgebiet des Osmanischen Reiches. Die so der Westen, in dem die Sonne untergeht (lat.: sol occidens). Den bezeichnete Region begann, im Westen von Nordafrika flan- Römern verhalfen diese Begriffe in erster Linie zu einer besse- kiert, in der Regel in Ägypten und endete – unter Einschluss ren Orientierung in der ihnen bekannten Mittelmeerwelt. Mit der Arabischen Halbinsel – entweder an der West- oder der dem Mittelmeer im Zentrum hat auch die arabische Sprache Ostgrenze Persiens (des heutigen Iran). diese Zuordnung übernommen: Maschreq bezeichnet den Os- Im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nord- ten des Mittelmeers, Maghreb dessen Westen. Deutsche Quel- irland, dessen Kolonialreich einen besonderen Schwerpunkt len übersetzten „Orient“ und „Okzident“ erstmals im 17. Jahr- in Indien hatte, wurde dagegen die Verbindung zwischen hundert als „Morgen“- bzw. „Abendland“, wobei das antike Mittelmeerregion und den indischen Besitztümern als „Mitt- Griechenland quasi den „Nullmeridian“ markierte. Erst im 18. lerer Osten“ bezeichnet. Die lange koloniale Prägung dieses Jahrhundert war mit „Abendland“ das gesamte westliche Eu- „Mittleren Ostens“ zeigt sich unter anderem auch darin, dass ropa gemeint, während das „Morgenland“ eine Ausdehnung die Bewohner der Region die Übersetzung des Begriffs (asch- bis in die zentralasiatischen Steppen erfuhr. scharq al-ausat) in ihre Sprache übernommen haben. In Euro- Informationen zur politischen Bildung Nr. 317/2012 Was ist der Nahe Osten? – eine Einführung 5 Gesellschaften zur Zeit der industriellen Revolution. Diese Ide- alisierung ignorierte nicht nur die tatsächlichen Gegebenhei- ten im „Orient“, sondern sie stand auch in krassem Gegensatz zu der fast gleichzeitig einsetzenden kolonialen Durchdrin- gung dieses Raumes im Zeichen eines aggressiven Imperialis- mus. Er veränderte zudem den europäischen Blick auf die Ein- heimischen negativ. Vorurteile und Verzerrungen bestimmten nun für viele Jahrzehnte das landläufige europäische Bild vom „Orient“ und fanden erst in der sogenannten Orientalismus- debatte seit den 1970er-Jahren – zumindest in der Wissen- schaft – eine erste Korrektur. Vor allem der in den USA wir- kende palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said (1935-2003) kritisierte die westliche Tradition, Okzident und Orient zu trennen, Letzteren als „das Andere“ zu konstruieren und aus eurozentrischer Sicht zu deuten. Die Bewohner der Region wären dagegen nie auf den Ge- danken gekommen, sich selbst als „Orientalen“ zu bezeichnen. Sie definierten sich in der Regel vielmehr durch ihre Familien, Clangemeinschaften sowie durch ethnische und konfessio- e nelle Bindungen. Dieser Kern der kollektiven Identität wurde g a M erst seit dem 20. Jahrhundert – im Zuge des Zusammenbruchs e y L des Osmanischen Reiches – ergänzt durch ein mehr oder min- hierr der ausgeprägtes Nationalgefühl. Zuvor hatte das Mittelmeer T/ais den Menschen des „Nahen Ostens“ als fiktiver Mittelpunkt al gegolten, als Begegnungsraum verschiedener Völker, Kultu- P nd ren, Religionen und Staaten, deren Zusammenleben durch a N – Gr unterschiedlich lange friedliche und konfliktreiche Phasen M gekennzeichnet war. Aus dieser Sicht gehörten die zivilisatori- R/k sche Befruchtung des nördlichen Mittelmeerraums durch die p b arabisch-islamische Wissenschaft, Kunst und Kultur seit der Kultur und Architektur zogen die Menschen in den Nahen Osten. Empfang eines Eroberung der iberischen Halbinsel im Zeichen des Islam ab Nicolo Mansueti 711 genauso zu den gemeinsamen Erfahrungen wie die Heim- suchung durch die Kreuzzüge oder die Rückeroberung Spani- ens und Portugals (Reconquista) durch christliche Herrscher. pa ist allerdings seit dem Ende des Ersten Weltkrieges (1918) Die Wahrnehmung einer fundamentalen Trennung stell- und dem Ende des Osmanischen Reiches (1922) ein synonymer te sich bei den Menschen im „Nahen Osten“ erst ein, als die Gebrauch von „Naher“ und „Mittlerer“ Osten zu beobachten. europäischen Nachbarn, darunter besonders Frankreich und Großbritannien, im 19. und 20. Jahrhundert Kolonialherrschaf- ten errichteten. Sie wurden auf Grund der offensichtlichen Außensicht und Selbstverständnis Unrechtmäßigkeit zäh bekämpft, aber noch viel stärker als grundlegende Anomalie empfunden. Der „Nahe Osten“, wie Alle bisher behandelten Begriffe existieren in der Gegenwart wir ihn heute kennen, existiert in dieser Form erst seit der eu- weiterhin nebeneinander. Doch wird inzwischen „Naher“, ropäischen Kolonialherrschaft und der in diesem Zuge vorge- „Mittlerer“ und „Ferner Osten“ in der Regel verwendet, wenn nommenen, künstlichen geografischen Zuordnung. Trotzdem soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklungen bzw. hält sich der Begriff hartnäckig, vor allem, weil sich bisher kei- Situationen im jeweiligen Raum erklärt werden sollen. Der ne Alternative durchsetzen konnte. Begriff „Orient“ dominiert dagegen vor allem im religiös-kul- turellen Diskurs. Mit ihm verbinden sich Faszination und eine konstruierte Andersartigkeit: Während noch die Eroberung Bedeutung für Europa des Balkans und die erste Belagerung Wiens durch die Osma- nen (1529) im „Abendland“ die „Türkenangst“ geschürt hatten, Den gegenwärtigen Gepflogenheiten folgend, umfasst die in ließ diese nach der 1683 gescheiterten zweiten Belagerung der vorliegenden Darstellung als „Naher Osten“ beschriebene Wiens spürbar nach. Nun vollzog sich in Europa eine Ideali- Region jedenfalls einen Raum, der sich von Marokko im Wes- sierung des „Orients“, die sich insbesondere in Kunst und Ar- ten über die arabische Halbinsel bis nach Iran im Osten er- chitektur verdichtete. Exotik, Genuss und Sinnlichkeit wurden streckt und im Norden auch die Türkei einschließt. Unstrittig ebenso mit ihm assoziiert wie Weisheit und verfeinerte Kul- ist der Nahe Osten damit unmittelbarer Nachbar Europas im tur. Goethes „Ost-Westlicher Diwan“ (1819/27), Voltaires „Zadiq Süden und Südosten. Als Schnittstelle der Kontinente Asien, oder das Schicksal“ (1747) und Mozarts „Entführung aus dem Afrika und Europa, als Geburtsstätte der drei großen mono- Serail“ (1782) sind nur die bekanntesten Beispiele der künstle- theistischen Religionen des Judentums, des Christentums und rischen Auseinandersetzung Europas mit dem „Orient“. des Islam und als eine Wiege der menschlichen Zivilisation in Dieser exotische Raum wurde so auch zum Gegenentwurf Ägypten und Mesopotamien hat der Nahe Osten globale Be- für Mechanisierung, Beschleunigung und Prüderie, kurz für deutung. In der Antike ein wichtiges Wirtschaftszentrum und alle Defizite und jegliches Unbehagen der westeuropäischen seit der Eröffnung des Suezkanals 1869 zunehmend auch für Informationen zur politischen Bildung Nr. 317/2012 6 Naher Osten – Nachbarregion im Wandel Quelle: BP; Berechnungen von Bergmoser + Höller; © Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 647 310 * einschließlich Australien die Weltwirtschaft von Bedeutung, gelangte der Nahe Osten wirtschaftliche und politische Stagnation und vertieften das spätestens mit dem Siegeszug des Erdöls, des seit einem Jahr- Entwicklungsgefälle zu den westlichen Staaten. Während hundert wichtigsten Einzelrohstoffs der globalen Wirtschaft, diese ein Kraftfeld der globalisierten Weltwirtschaft und ein in eine strategische Schlüsselposition. Hier befinden sich etwa Hort stabiler Demokratien wurden, blieb die Wirtschaftskraft zwei Drittel der weltweiten Erdölreserven und knapp 44 Pro- der nahöstlichen Staaten hinter der europäischen Entwick- zent der Erdgasreserven, von hier kommen mehr als ein Drittel lung zurück, und die politische Herrschaft hatte in der Regel der globalen Erdölförderung und etwa 20 Prozent der Erdgas- autokratischen Charakter. förderung. Deshalb ist der Nahe Osten für die gegenwärtige Durch dieses Entwicklungsgefälle wird Europa für immer und zukünftige Versorgung der Welt mit diesen Rohstoffen mehr Menschen im Nahen Osten ein attraktives Auswande- von zentraler Bedeutung. rungsziel. Während das Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner Neben den natürlichen Ressourcenvorkommen weckten im Nahen Osten 2009 per Saldo bei etwa 5000 € lag, beträgt es bereits seit dem 19. Jahrhundert auch die strategische Lage in Europa durchschnittlich 15 000 € pro Jahr. Doch die Einkom- und erhoffte Absatzmärkte das europäische Interesse am Na- mensunterschiede sind nicht allein ausschlaggebend. Auch hen Osten. Aus den gleichen Gründen wurde er in der zweiten mangelnde Zukunftsperspektiven durch steigendes Bevölke- Hälfte des 20. Jahrhunderts zum heftig umkämpften Zankap- rungswachstum bei zunehmender Arbeitslosigkeit und die fel des Kalten Krieges zwischen den Weltmächten USA und Unfähigkeit der Regierungen, der immer jünger werdenden UdSSR. Der Widerstand gegen die Kolonialherrschaft und die Einwohnerschaft ein Auskommen zu bieten, verstärken den strategische Instrumentalisierung im Kalten Krieg sind die Drang, im Ausland das Glück zu suchen. Dazu zählen sowohl Hauptgründe für die außerordentliche Konflikthäufung in Ziele in der reicheren Nachbarschaft (Golfregion) als auch in der Region im vergangenen Jahrhundert. Allein seit 1945 fan- Nordamerika, aber nur Europa verbindet die Hoffnung auf de- den hier knapp ein Dutzend zwischenstaatliche Kriege statt. mokratische Freiheit und wirtschaftliches Auskommen mit Umstürze und Revolutionen verstärkten die regionale In- geografischer Nähe. Die europäischen Regierungen sehen die- stabilität. Mit dem Islamismus entstand – insbesondere seit se Entwicklung mit Sorge, müssen sich aber auch eigene Ver- dem Sieg der „islamischen Revolution“ in Iran 1979 – zudem säumnisse wie etwa eine anhaltende Marktabschottung und eine politische Bewegung und Ideologie, die sich als Kon- die langjährige Unterstützung autokratischer Regierungen trastprogramm zu aus dem Westen „importierten“ Gesell- vorhalten lassen. Ob die als „Arabischer Frühling“ bezeichne- schaftsmodellen definiert. Insgesamt förderten Instabilität ten Entwicklungen seit Anfang 2011 eine Kehrtwende einge- und Fremdbestimmung trotz des Ressourcenreichtums die leitet haben, ist noch nicht absehbar. Informationen zur politischen Bildung Nr. 317/2012 Was ist der Nahe Osten? – eine Einführung 7 Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens in Zahlen Stand 2011 Religion (M)uslime Land Fläche Bevölkerungs- Einwohner Altersstruktur Urbanisierung (C)hristen Regierung Hauptstadt km² wachstum (J)uden (A)ndere Ägypten 1 001 450 83,7 Mio. 2 % 0-14 31,4 % 42 % M 94 % Präsidialrepublik Kairo 15-64 63,8 % C 6 % >65 4,8 % Algerien 2 381 741 35,4 Mio. 1,7 % 0-14 24,2 % 59 % M 99 % Präsidialrepublik Algier 15-64 70,6 % A 1 % >65 5,2 % Bahrain 741 1,2 Mio. 1,2 % 0-14 25,9 % 90 % Hauptsächlich Monarchie Manama 15-64 70,2 % Muslime >65 3,9 % Irak 438 317 31,1 Mio. 2,5 % 0-14 38,8 % 67 % M 97 % Republik Bagdad 15-64 58,2 % C 3 % >65 3 % Iran 1 648 195 78,9 Mio. 1,3 % 0-14 24,1 % 67 % M 99 % Islamische Teheran 15-64 70,9 % A 1 % Republik >65 5,0 % Israel 22 072 7,6 Mio. 1,6 % 0-14 27,9 % 92 % J 80,1 % Parlamentarische Jerusalem* 15-64 62,3 % M 14,6 % Republik >65 9,9 % A 5,3 % Jemen 527 968 24,8 Mio. 2,7 % 0-14 46,2 % 32 % Hauptsächlich Präsidialrepublik Sanaa 15-64 51,3 % Muslime >65 2,5 % Jordanien 89 342 6,5 Mio. 2,16 % 0-14 31,3 % 79 % M 92 % Monarchie Amman 15-64 64,5 % C 6 % >65 4,2 % A 2 % Katar 11 586 2 Mio. 0,9 % 0-14 21,8 % 96 % M 95 % Monarchie Doha 15-64 76,8 % A 5 % >65 1,4 % Kuwait 17 818 2,6 Mio. 1,9 % 0-14 26,4 % 96 % M 85 % Monarchie Kuwait-City 15-64 70,7 % A 15 % >65 2,9 % Libanon 10 400 4,1 Mio. 0,62 % 0-14 25,8 % 88 % M 59,7 % Parlamentarische Beirut 15-64 67,1 % C 39 % Republik >65 7,2 % A 1,3 % Libyen 1 759 540 6,7 Mio. 2 % 0-14 33 % 86 % M 97 % Republik Tripolis 15-64 62,7 % A 3 % >65 4,3 % Marokko 446 550 32,3 Mio. 1 % 0-14 30 % 58 % M 98,7 % Monarchie Rabat 15-64 64,7 % C 1,1 % >65 5,2 % J 0,2 % Oman 309 500 3,1 Mio. 2 % 0-14 42,7 % 78 % M 75 % Monarchie Maskat 15-64 54,5 % A 25 % >65 2,8 % Saudi- 2 149 690 26,5 Mio. 1,6 % 0-14 38 % 88 % M 100 % Monarchie Arabien 15-64 59,5 % Riad >65 2,5 % Syrien 185 180 22,5 Mio. 2 % 0-14 35,9 % 56 % M 74 % Präsidialrepublik Damaskus 15-64 60,8 % C 10 % >65 3,4 % A 16 % Tunesien 163 610 10,7 Mio. 1 % 0-14 22,7 % 64 % M 98 % Präsidialrepublik Tunis 15-64 70,1 % C 1 % >65 7,2 % J 1 % Türkei 783 562 79,7 Mio. 1,3 % 0-14 27,2 % 66 % M 99,8 % Parlamentarische Ankara 15-64 66,7 % A 0,2 % Republik >65 6,1 % VAE 83 600 5,3 Mio. 4 % 0-14 20,4 % 84 % M 96 % Monarchie Abu Dhabi 15-64 78,7 % A 4 % >65 0,9 % * Status international nicht anerkannt. Internetquelle: http://www.laenderdaten.de/laender.aspx, online zugegriffen im Juli 2012 Informationen zur politischen Bildung Nr. 317/2012 8 Naher Osten – Nachbarregion im Wandel Stephan Rosiny Kulturen und Religionen Der Nahe Osten ist geprägt von kultureller und religiöser Vielfalt. Der Islam, die Mehrheitsreligion, bestimmt in unter- es ur schiedlichen Ausprägungen den Alltag, aber auch gesell- Pict yz schaftliche und politische Verhältnisse. Besondere Aufmerk- x/ et samkeit erwecken heute Islamisten als politische Akteure. di.n m Ali In Jerusalem stehen Heiligtümer dreier monotheistischer Religionen, im Bild die jüdische Klagemauer und der muslimische Felsendom. Wenn vom „Nahen Osten“ oder kulturgeografisch vom „Vor- deren Orient“ die Rede ist, denkt man hierzulande meist an Länder, in denen Arabisch gesprochen wird und der Islam die kulturprägende Mehrheitsreligion ist. Doch gehören zum Nahen Osten im weiteren Sinne auch die nichtarabischen Staaten Iran, Israel und die Türkei sowie viele andere Ethnien wie etwa Kur- n o den, Berber und Tscherkessen. Neben den Muslimen gibt es grö- dor G ßere christliche und jüdische Gemeinden sowie Anhänger klei- m nerer Religionsgemeinschaften wie Zoroastrier und Bahai. Die Ji/mil drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und k. n Islam entstanden im Gebiet des heutigen Nahen Ostens und eli ns beziehen sich auf Abraham als ihren gemeinsamen Stammva- e ef d ter. Sie sind bis in die Gegenwart mit zahlreichen Konfessionen, .w w Rechtsschulen, Kirchengemeinschaften und Sekten anzutreffen. w Diese Ethnien, Kulturen und Religionen weisen weiterhin regio- Der irakische Diktator Saddam Hussein verglich sich gerne mit dem nale und lokale Besonderheiten auf. Bewohner von Städten und neubabylonischen König Nebukadnezar. Auf diesen Riesenbüsten posiert Dörfern, sesshafte Bauern oder nomadische Beduinen haben er als Saladin, der 1187 Jerusalem für den Islam zurückeroberte. ihre besonderen, an ihre Umwelt angepassten Lebensweisen entwickelt und teils seit Jahrhunderten bewahrt. All dies macht den Nahen Osten zu einem bunten Mosaik unterschiedlicher tausch und nicht zuletzt durch wechselseitige Beeinflussun- religiöser und kultureller Lebensformen. Eine Kenntnis seiner gen in Religion, Philosophie, Architektur und Kunst geprägt Geschichte ist unerlässlich, um die heutigen Kulturen und Reli- ist. Einige der frühen Kulturen sind bis in die Gegenwart im gionen, aber auch die Politik der Region zu verstehen. kollektiven Gedächtnis der Völker lebendig und ein Bestand- teil der modernen nationalen Geschichtsschreibungen. Man- che zeitgenössischen Diktatoren versuchen dieses Erbe für die Legitimierung ihrer Herrschaft zu nutzen und inszenieren sich als Erben antiker Herrscher. Kulturgeschichte des Vorderen Orients Der Irak führt sich auf die Zivilisationen Mesopotamiens, des um die Flüsse Euphrat und Tigris gelegenen Zweistrom- lands, zurück. Hier entstanden im siebten vorchristlichen Jahr- Der Vordere Orient gehört mit China, Indien und Mittelamerika tausend die ersten Siedlungen und städtischen Kulturen der (Azteken, Maya) zu den Wiegen der menschlichen Zivilisation. Menschheit, die bedeutende Erfindungen wie Keramik, Werk- In der heutigen Südtürkei und in Mesopotamien reichen ihre zeuge und Waffen sowie gesellschaftspolitische Neuerungen Spuren bis ins neolithische Altertum vor 12 000 Jahren zurück. der staatlichen Verwaltung hervorbrachten. Beispielsweise Die altorientalischen Reiche der Sumerer, Ägypter, Babyloni- schuf der babylonische König Hammurabi (1792-1750 v. Chr.) er, Assyrer, Hethiter und Perser formten die Region zu einem eines der ersten Gesetzbücher. In ihm schrieb er das Strafprin- Kulturraum, der durch Handelsverbindungen wie die Seiden- zip der gleichmäßigen Vergeltung (Talio) fest, das an die Stelle straße oder das Mittelmeer, durch Wissens- und Technikaus- ungezügelter Rache trat. Informationen zur politischen Bildung Nr. 317/2012 Kulturen und Religionen 99 Die syrische Geschichtsschreibung bezieht sich auf die namens- gebenden Assyrer (1500-626 v. Chr.), die im heutigen Nord- irak und Nordsyrien herrschten. In Ägypten sind die pharao- nischen Reiche nicht nur architektonisch mit den Pyramiden und anderen Monumentalbauten gegenwärtig. Ihre Spuren finden sich in bestimmten Bräuchen wie etwa dem volkstüm- lichen Zar-Kult, einem Ritual der Geisteraustreibung, und auch in der Liturgie des koptischen Christentums. Diese altorienta- lische Kirche führt sich auf den Evangelisten Markus zurück, in dessen Nachfolge ihr eigener Papst steht. Schließlich leiten Ägypter – wie auch Iraker – ihren Anspruch auf eine arabische Führungsrolle unter anderem aus dem Glanz ihrer antiken Kulturen ab. Nicht minder stolz auf ihre Frühgeschichte sind die Libanesen, von deren Küstenstädten Tyros, Sidon und Byblos einst die Phö- ni a nizier (~1200-146 v. Chr.), ein Seefahrervolk, als Erste Afrika um- ud S segelten, das Mittelmeer weiträumig als Handelsraum nutzten Al- und dort Kolonien wie die Stadt Karthago nahe dem heutigen aier h Tunis gründeten. Sie dehnten ihren Einflussbereich – anders als T/ S R für Großreiche sonst üblich – vorwiegend als Handelsmacht E T U und über Verträge und nur zweitrangig durch kriegerische Er- RE oberung und Besatzung aus. Die Phönizier erfanden eine aus 22 Im Nahen Osten ist der Islam vorherrschend, aber andere Religionen werden Konsonanten bestehende Buchstabenschrift, die zur Grundlage hier ebenso gelebt. Christlicher Weihnachtsgottesdienst 2012 im Irak Christen in Nahost Die [folgenden] Angaben zur Anzahl Griechisch-Orthodoxes Patriarchat von der Mitglieder sind mit Vorsicht zu ge- Alexandrien und ganz Afrika | 1. Jh. / 451 | Die häufig verwirrende Vielfalt der orien- nießen: Solche demografischen Daten Alexandria | Ägypten, Afrika | ca. 350 000 talischen Kirchen geht auf theologische, sind in vielen Ländern ein Politikum. Griechisch-Orthodoxes Patriarchat von aber auch politische Auseinandersetzun- Sicher ist, dass aufgrund von Auswan- Jerusalem | 451 | Jerusalem | Israel, Paläs- gen zurück, die schon in früher Zeit be- derung und Unterdrückung die Zahl tina, Jordanien, Ägypten | ca. 120 000 gannen. Als „altorientalische“ (AO) oder der Christen in vielen Ländern seit Melkitische Griechisch-Katholische orientalisch-orthodoxe Kirchen bezeich- Jahren sinkt. Kirche | uniert seit 1729 | Damaskus | Israel/ net man diejenigen Gemeinschaften, die Palästina, Syrien, Jordanien | ca. 1,6 Mil- sich nach dem Konzil von Ephesos (431) Kopten, Armenier [...] lionen und dem Konzil von Chalcedon (451, heu- Armenische Apostolische Kirche (AO) | te ein Stadtteil Istanbuls) von der byzan- entstanden im 1. Jh. | Sitz*: Antelias bei Syrische Kirchen tinisch-römischen Reichskirche trennten. Beirut sowie Entschmiadsin (Armenien) | Syrisch-Orthodoxe Kirche von Antiochien Während Orthodoxe und Katholiken Hauptverbreitungsgebiete: Armenien, (AO) (oft Jakobiten genannt) | 1./6. Jh. | in Jesus zwei Naturen „unvermischt und Iran, Türkei | Gläubige**: ca. 9 Millionen Damaskus | Türkei, Syrien, Irak, Libanon, ungetrennt“ wirken sehen, betonen die Armenisch-Katholische Kirche | uniert Indien | ca. 1,5 Millionen meisten Gemeinschaften – mit Ausnah- seit 1742 | Bz-ommar bei Beirut | Naher Syrisch-Katholische Kirche | uniert seit me etwa der Assyrischen Kirche des Os- Osten | ca. 540 000 1677/1783 | Beirut | Libanon, Syrien, Irak | tens – die Einheit göttlicher und menschli- Koptisch-Orthodoxe Kirche (AO) | 1. Jh. | ca. 170 000 cher Natur in ihm („Monophysiten“ oder Kairo | Ägypten, Libyen, Sudan | ca. 10 Syrisch-Maronitische Kirche von Antio- „Miaphysiten“). Die Liturgie findet meist Millionen chien | 7. Jh. (uniert seit 1182) | Jounieh bei in alten Nationalsprachen statt, etwa Koptisch-Katholische Kirche | uniert seit Beirut | ca. 3 Millionen Aramäisch oder Syrisch. 1895 | Kairo | Ägypten | ca. 200 000 Heilige Apostolische und Katholische Weitere Spaltungen entstanden, seit Evangelische Kirche von Ägypten | Assyrische Kirche des Ostens (AO) sich ab der Frühen Neuzeit immer wieder (Synode vom Nil) 1958 | Kairo | Ägypten | (oft Nestorianer genannt) | 1. Jh. / 334 | einzelne Gruppierungen der Autorität ca. 300 000 [...] Chicago sowie Bagdad (Alte Heilige Apos- des römischen Papstes unterwarfen; sie tolische und Katholische Kirche des heißen „unierte Kirchen“ oder katholische Die Byzantinische Staatskirche und ihre Ostens, seit 1964) | Irak, Iran, Syrien, Tür- Ostkirchen. Während sie bis ins Mittel- Nachfolger kei | ca. 400 000 alter vielerorts Bevölkerungsmehrheiten Ökumenisches Patriarchat von Konstan- Chaldäisch-Katholische Kirche | uniert stellten, sind Christen heute in fast allen tinopel | 1. Jh. | Istanbul | Türkei, Griechen- seit dem 19. Jh. | Bagdad | Irak, Syrien | Ländern des Nahen Ostens Minderheiten. land | ca. 4 Millionen ca. 460 000 Viele kleinere, oft protestantische Ge- Rum-Orthodoxes Patriarchat von Antio- meinschaften sind seit dem 19. Jahrhun- chien und dem ganzen Orient | 1. Jh. | * Sitz des Kirchenoberhaupts ** Gläubige weltweit (ungefähre Angaben) dert im Zuge der Aktivitäten westlicher Damaskus | Syrien, Libanon | ca. 2 Milli- Martin Tamcke, „An den Christen offenbart sich die Vielfalt“, Missionare entstanden. [...] onen in: zenith 4/2011, S. 42 f. IIInnnfffooorrrmmmaaatttiiiooonnneeennn zzzuuurrr pppooollliiitttiiisssccchhheeennn BBBiiilllddduuunnnggg NNNrrr... 333111777///222000111222 1100 NNaahheerr OOsstteenn –– NNaacchhbbaarrrreeggiioonn iimm WWaannddeell Das libanesische Mosaik wie sie in den übrigen arabischen Län- diese Uneinigkeit wiederholt aus und dern ansonsten üblich war. Im Natio- nahmen über lokale Stellvertreter Ein- Mit seinen knapp über 10 000 qkm und nalpakt von 1943 wurde die politische fluss. So mischen Iran und Saudi-Arabien, rund vier Millionen Einwohnern gehört Rollenzuschreibung der Konfessionen Israel und Syrien, die USA, Frankreich der Libanon zu den kleineren arabischen weiterhin gefestigt: Maroniten dürfen und viele weitere Länder im Kräftespiel Ländern. Achtzehn Religionsgemein- seither den Staatspräsidenten, Sunniten des Landes mit. Syrien hatte von 1976 schaften sind offiziell anerkannt: zwölf den Ministerpräsidenten und Schiiten bis 2005 Truppen im Land stationiert und christliche und fünf muslimische den seinerzeit eher protokollarischen massiv die libanesische Innenpolitik Konfessionen sowie eine kleine jüdische Parlamentspräsidenten stellen. beeinflusst. Israel besetzte 1978 mit Hilfe Gemeinde. Ferner leben im Libanon Darüber hinaus genießen die Religions- christlicher Milizen Teile des Südlibanon zahlreiche Flüchtlinge wie Armenier, Kur- gemeinschaften weitreichende Autono- als „Sicherheitszone“, nach libanesischer den, Palästinenser, Iraker und Syrer. mie im Familienrecht, im Bildungssystem Lesart hat es sich bis heute nicht vom Im 19. Jahrhundert hatten sich europä- und in der Organisation sozialer Dienste. gesamten libanesischen Territorium ische Mächte als Schirmherren einzelner Die Eliten der jeweiligen Gemeinschaften zurückgezogen. Gegen diese Besatzung Religionsgemeinschaften im Osmani- üben weitreichende Kontrolle über das kämpften zunächst linke und nationa- schen Reich etabliert, um über Stellver- Leben ihrer Glaubensmitglieder aus. Die- listische, palästinensische und libanesi- treter in dem zerfallenden Großreich se wenden sich für Dienstleistungen nicht sche Milizen. Seit 1982 engagiert sich in Fuß zu fassen. So hatte etwa Frankreich als gleichberechtigte Bürger an den Staat, diesem Konflikt in zunehmendem Maße schon früh begonnen, die maronitischen sondern erhalten sie meist nur vermittelt die schiitische Hisbollah, die von den Christen des Libanon zu unterstützen. Da- über die Vertreter ihrer Gemeinschaften. USA und Israel als „Terrororganisation“ durch wuchs den Religionsgemeinschaf- Es gibt im Libanon beispielsweise keine klassifiziert wird. Im Libanon erwarb sie ten eine politische Bedeutung zu, soziale zivile Eheschließung, was Ehen zwischen sich hingegen das Image einer „Befrei- Revolten schlugen hier immer wieder in Angehörigen verschiedener Religionen ungsbewegung“, da sie die israelischen konfessionelle Bürgerkriege um. Zu deren erschwert und die Grenzen zwischen den Truppen im Jahr 2000 zum Rückzug und Entschärfung wurde auf europäischen Konfessionen zementiert. Auch Partei- zur Aufgabe des „Sicherheitszone“ zwang. Druck hin bereits im 19. Jahrhundert ein en, Medien, Schulen, ja selbst staatliche Neben ihrem „Islamischen Widerstand“ Proporzsystem eingeführt, in dem die Sicherheitsdienste sind meistens einer baute sie soziale Dienste auf, ist seit 1992 Religionsgemeinschaften proportional zu Konfessionsgemeinschaft zuzuordnen. im Parlament vertreten und beteiligte ihrer jeweiligen Stärke führende Staats- Die Verteilung politischer Ämter nach sich seit 2005 an verschiedenen Koali- ämter beanspruchen dürfen. Religionszugehörigkeit und die „Mentali- tionsregierungen mit christlichen und 1920 übernahm Frankreich das Völker- tät des Konfessionalismus“ sind maßgeb- anderen muslimischen Parteien. Von bund-Mandat über das Territorium der lich verantwortlich für die Zersplitterung ihren innerlibanesischen Gegnern wird Staaten Syrien und Libanon. Es schuf der Gesellschaft, für einen hohen Grad an sie wegen ihrer Waffenpräsenz kritisiert, den heutigen Großlibanon, indem es dem Klientelismus und Korruption sowie wobei allerdings auch andere Parteien bis vorwiegend von Christen bewohnten für die Schwäche des libanesischen Staats. heute bewaffnete Verbände unterhalten. Libanongebirge den mehrheitlich musli- Unterschiedliche Geburten- und Abwan- Zahlreiche politische Morde und bewaff- misch bewohnten Küstenstreifen mit den derungsraten der Gemeinschaften führ- nete Auseinandersetzungen halten Städten Beirut, Saida und Tripoli sowie ten zu einer Verzerrung der Machtver- das Land seit 2005 in Atem. Der im März Territorien im Norden, Osten und Süden hältnisse. Christen bilden heute nur noch 2011 ausgebrochene Aufstand in Syrien, zuschlug. Christen behielten eine knappe eine Bevölkerungsminderheit, sie hielten der dort zum Bürgerkrieg eskalierte, Bevölkerungsmehrheit von 52 Prozent aber bis zum Bürgerkrieg von 1975 bis führte auch im Libanon zu Kämpfen und dank französischer Protektion einige 1990 die Mehrheit der Parlaments- und zwischen Verbündeten und Gegnern des sicherheitsrelevante Posten wie beispiels- Kabinettssitze sowie viele Führungsäm- syrischen Regimes. weise das Oberkommando der Armee ter. Der Bürgerkrieg war kein eigentlicher Trotz all dieser Schwierigkeiten hat sich und des Geheimdienstes. Religionskrieg, aber dennoch spielte der Libanon eine erstaunliche politische Im 1943 unabhängig gewordenen Liba- die ethnisch-konfessionelle Zugehörigkeit und kulturelle Offenheit, Freiheit und non übernahm man dieses Prinzip der häufig eine größere Rolle als politische Vielfalt bewahrt. Bis zum „Arabischen Machtteilung im Parlament, in der Regie- Überzeugungen. Milizen verübten immer Frühling“ war er die einzige Demokratie rung sowie in gehobenen Verwaltungs- wieder Massaker an Angehörigen ande- im arabischen Raum, in der bei regelmä- posten. Der Verteilungsschlüssel dieses rer Gemeinschaften. Der Krieg führte in ßig stattfindenden, vergleichsweise freien „politischen Konfessionalismus“ orien- einigen Regionen zur Flucht und Vertrei- Wahlen zahlreiche Kandidaten und tiert sich dabei mit geringfügigen Ände- bung einzelner Gemeinschaften, sodass Parteien gegeneinander antreten können, rungen bis heute an der letzten offiziellen relativ homogene christliche und musli- in der sich Regierungen, Staats- und Volkszählung von 1932. Ein komplexes mische Siedlungsgebiete entstanden. Ministerpräsidenten abwechseln und in Wahlrecht mit gemischtkonfessionellen Auch heute noch, mehr als 20 Jahre dessen Parlament meist sehr kontrovers Wahlbezirken und verschiedene Mecha- nach dem Ende des Bürgerkriegs, geraten diskutiert wird. Die meisten Libanesen nismen der wechselseitigen Kontrolle von fast alle politischen Kontroversen ins haben es gelernt, wie in einem Mosaik mit Verfassungsorganen sollen die Vertreter Fahrwasser konfessioneller Konkurrenz, den vielen verschiedenen Formen von der Konfessionen zu Zusammenarbeit selbst wenn sie fern jeder religiösen Religion(en) und Kultur(en) auf engem statt zu Konkurrenz bewegen. Dies verhin- Bedeutung sind wie etwa die Versorgung Raum zusammenzuleben. derte eine Machtkonzentration in den mit Elektrizität, die rechtliche Stellung Händen Weniger oder einer einzelnen der Palästinaflüchtlinge oder die Landes- ethnisch-konfessionellen Gemeinschaft, verteidigung. Externe Mächte nutzten Stephan Rosiny IInnffoorrmmaattiioonneenn zzuurr ppoolliittiisscchheenn BBiilldduunngg NNrr.. 331177//22001122
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