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Morphologie als Paradigma in den Wissenschaften PDF

385 Pages·2022·2.135 MB·German
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Ralf Müller / Ralf Becker / Sascha Freyberg / Thomas Reinhardt / Muriel van Vliet / Matthias Wunsch (Hrsg.) Morphologie als Paradigma in den Wissenschaften ALLGEMEINE ZEITSCHRIFT FÜR PHILOSOPHIE BEIHEFTE (AZP.B) Herausgegeben von Michael Hampe, Andreas Hetzel, Eva Schürmann und Harald Schwaetzer Wissenschaftlicher Beirat Georg W. Bertram (Berlin), Tilman Borsche (Hildesheim), Rolf Elberfeld (Hildesheim), Dina Emundts ( Konstanz), Fabian Heubel (Taipei/Frankfurt), Lore Hühn (Freiburg), Andrea Kern (Leipzig), J ochen Krautz (Wuppertal), Stefan Majetschak (Kassel), Jürgen Manemann (Hannover), Dirk Quadflieg (Leipzig), Paul Ziche (Utrecht) BEIHEFT 3 Morphologie als Paradigma in den Wissenschaften Herausgegeben von Ralf Müller, Ralf Becker, Sascha Freyberg, Thomas Reinhardt, Muriel van Vliet und Matthias Wunsch frommann-holzboog Heft 3 wird veröffentlicht mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die von 2015 bis 2020 das Netzwerk »Morphologie als wissenschaftliches Paradigma. Zur Aktualität eines naturphilosophischen Begriffs« (BE 5692/2-1) gefördert hat. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-7728-2893-5 eISBN 978-3-7728-3490-5 © frommann-holzboog Verlag e. K. · Eckhart Holzboog Stuttgart-Bad Cannstatt 2022 www.frommann-holzboog.de Satz: JVR Creative India, Panchkula Gesamtherstellung: Druckerei Laupp & Göbel, Gomaringen Gedruckt auf säurefreiem und altertungsbeständigem Papier Inhalt HORST BREDEKAMP 7 Vorwort. Die Aktualität der Morphologie SASCHA FREYBERG / RALF MÜLLER / THOMAS REINHARDT / MURIEL VAN VLIET / RALF BECKER / MATTHIAS WUNSCH 11 Einleitung HELMUT HÜHN 23 Morphologie der Natur und der Kultur. Zur Entwicklung von Goethes Theorie und Praxis verzeitlichter Form ANDREAS KORITENSKY 57 Übersichtliche Darstellung. Wittgensteins Rezeption der morphologischen Methode und ihre Bedeutung für die Sprachphilosophie SASCHA FREYBERG 77 Metamorphologie. Zum Wissenschaftsbegriff in Ernst Cassirers P hänomenologie der Erkenntnis RALF MÜLLER 99 Philosophie und Übersetzung. Perspektiven der Morphologie nach Ernst Cassirer OLAF BREIDBACH / FEDERICO VERCELLONE 129 Aussichten der Morphologie. Eine bildtheoretische Reflexion MURIEL VAN VLIET 149 Die Morphologie nach André Leroi-Gourhan 6 Inhalt THOMAS REINHARDT 175 Kultur als Form in der Ethnologie HÉLÈNE IVANOFF 191 Das Leben der Formen. Die Kulturmorphologie des Leo Frobenius RALF BECKER 209 Morphologie der lebendigen Form MATTHIAS WUNSCH 225 Morphologie als biophilosophische Lehre von den Lebensformen. Zu ihrer paradigmatischen Funktion für das Fragen nach dem Menschen KRISTIAN KÖCHY 251 Biologie als verstehende Wissenschaft. Zur Rezeption von Goethes Morphologie in Kurt Goldsteins Der Aufbau des Organismus FRANK W. STAHNISCH 283 „Morphologie“ und „Gestaltlehre“ in Kurt Goldsteins theoretischer und praktischer Neurologie DIRK LEBIEDZ 309 Vom Zählen zum Messen. Morphologie chemisch-kinetischer Modelle more geometrico HELMUT HAUSER / SASCHA FREYBERG 333 Form und Technik. Das morphologische Paradigma der Robotik 373 Autorinnen und Autoren 379 Namenregister HORST BREDEKAMP Vorwort Die Aktualität der Morphologie1 Als universale Lehre von der Entwicklung und Ausprägung aller Gestaltformen hat die von Johann Wolfgang von Goethe begründete Morphologie zahllose Kon- junkturen, aber auch entscheidende Schwächungen erlebt, und durch die jüngere Naturwissenschaft schien sie geradezu einen Todesstoß zu erhalten. Wenn, wie Goethe es in seiner grundlegenden Definition ausführte, die Morphologie in der Überzeugung gründe, „daß alles was sey sich auch andeuten und zeigen müsse“, war die Existenz jedweden Gegenstandes sowohl der Kultur wie auch der Na- tur an seine Sichtbarkeit gekoppelt. All das, „was Gestalt hat“, hatte Goethe im Blick. „Das Unorganische, das Vegetative, das Animale, das Menschliche deutet sich alles selbst an, es erscheint als was es ist unserm äußeren und innern Sinn.“2 Die moderne Naturwissenschaft wirkt jedoch so, als sei sie von einem struk- turellen Morphoklasmus bestimmt. Von der ursprünglichen Unsichtbarkeit aller Phänomene, die sich in ihrer Dimension unterhalb der Wellenlänge des Lichtes abspielen und damit kategorial bildlos bleiben, bis hin zu den Schwarzen Lö- chern, deren Gravitation das Licht aufsaugt und damit jedes Bild und die Bedin- gung jeder Gestalt verhindert, erscheinen die Extreme von Mikro- und Makro- kosmos als bilderstürmerische Instanzen der Natur selbst. Goethes Definition der Morphologie wirkt angesichts dieser Entwicklung als so überholt, dass sie nicht mehr hervorzurufen scheint als nur mehr ein Lächeln des Abschieds. Aber Goethe hat diesen Prozess bereits avisiert, ohne sein Konzept der Mor- phologie aufzugeben. Der letzte Satz der Zueignung zum Faust „Und was ver- schwand wird mir zu Wirklichkeiten“,3 könnte wie auf die angesprochenen Prozesse der Naturwissenschaften hin geschrieben sein. Für Goethe war das 1 Für Hinweise und Diskussionen danke ich John Michael Krois (†) und Sascha Freyberg. 2 Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt.: Schriften zur Morphologie, Bd. 24, Frankfurt a. M. 1988, 349. Vgl. den Beitrag von Helmut Hühn im vorliegenden Band. 3 Johann Wolfgang von Goethe, „Zueignung“, in: ders., Faust. Texte, Frankfurt a. M. 1999, 11. 8 Horst Bredekamp Phänomen des Bildverlustes die Negativfolie, vor der er seine Forschungen und Dichtungen als Realisierung einer allgemeinen Morphologie entfaltete. Genau dies aber haben auch die jüngeren Naturwissenschaften vollzogen. Sie sind darin strukturell morphologisch angelegt, als sie sämtliche Wirklichkeiten, die sich der Sichtbarkeit entzogen, in jene Realität überführt haben, die ihre eigene Existenz über ihre Sichtbarkeit ausweist. Diese Entwicklung, wie sie die Nanophysik, die Synthetische Biologie und stärker noch die Xenobiologie und die Optogenetik sowie, auf dem anderen Extrem der Scala, die „Visualisierung“ des Schwarzen Loches darstellen,4 haben weitere Konsequenzen für die Geschichte des Phä- nomens, dass die Natur selbst zum Medium einer künstlichen Gestaltung wird. Insofern ist auch in der „Unanschaulichkeit“ mit dem Bild zu rechnen, und damit ist die Frage des Zusammenhangs von Morphologie und der „Stilge- schichte wissenschaftlicher Bilder“5 keinesfalls erledigt. Angesichts der digita- len Möglichkeiten besteht vielmehr gesteigerter Untersuchungsbedarf. Dies gilt auch für weitere Wissenschaften, und so insbesondere die Robotik, die, indem sie sich vom Paradigma der Mechanik löst, ihre Negation der Morphologie auf- gibt. Diese Neuorientierung lässt sich auf die ambiental ausgerichteten Gestalt- formen ein, um damit etwas von der energiesparenden Eleganz zu absorbieren, die organischen Körpern eignet.6 Mit all diesen Vorgängen werden neue Felder eröffnet, in denen der wohl anspruchsvollste Grund für die Aktualität der Mor- phologie liegt. Der vorliegende Band gibt mit seinem durchgehenden Anschluss an das Werk von Ernst Cassirer weitere Hinweise auf diese Aktualität. Cassirers Symbolphi- losophie kann, wie hier eindringlich gezeigt wird, als entscheidende Weiterent- wicklung und Explizierung morphologischer Ideen angesehen werden. Bei ihm werden Zahl und Regel mit Form und Gestaltung zusammengedacht sowie ein transdisziplinäres Paradigma postuliert. Seine oftmals kritisierte Grenzziehung zwischen Natur- und Symbolwelt hatte dabei niemals den Sinn einer hierarchi- schen Bestimmung, sondern einer Klärung der jeweiligen Spezifika. Er hat den 4 Zur Nanophysik: Jochen Hennig, Bildpraxis. Visuelle Strategie in der frühen Nanotechnologie, Bielefeld 2011; zur synthetischen Biologie: Sonja Kießling / Heike Catherina Mertens (Hg.), Evo lution in Menschenhand. Synthetische Biologie aus Labor und Atelier, Freiburg 2016; zur Xe no biolo gie: Markus Schmidt, „Xenobiology: A New Form of Life as the Ultimate Biosafety Tool“, in: Bio essays 32.4 (April 2010), 322–331, doi:10.1002/bies.200900147; zur Optogenetik: Peter Hegemann / Stephan Sigrist (Hg.), Optogenetics, Berlin und Boston 2013; zur Visualisierung Schwarzer Löcher: Heino Falcke / Jörg Römer, Licht im Dunkeln. Schwarze Löcher, das Universum und wir, Stuttgart 2020. 5 Horst Bredekamp / Birgit Schneider / Vera Dünkel (Hg.), Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder, Berlin 2008. 6 Vgl. Hauser und Freyberg in diesem Band. Vorwort 9 bloßen Brückenschlag zwischen beiden Sphären verweigert, weil er die Eindi- mensionalität von zwei sich diametral gegenüberstehenden Deutungsformeln ablehnte, die je für sich diese Verbindung von Natur und Symbol7 erlaubten: das mechanistische ebenso wie das vitalistische Weltmodell.8 Der Grund seiner Grenzziehung liegt im Willen, in den beiden verschiedenen Sphären die Kom- plexität dieser erhabenen Entitäten zu halten, wie sie der von Cassirer verehrte Goethe in die Worte gefasst hat: „Natur und Kunst sind zu groß, um auf Zwecke auszugehen.“9 Es wäre einiges dafür zu geben, zu erfahren, wie Cassirer vor allem die neuen lebenswissenschaftlichen Zwitterbilder von kulturell bedingter Gestaltung und natürlicher Biosphäre sowie in der synthetischen Biologie und der Optogenetik bewertet hätte. Er hätte möglicherweise geantwortet, dass auch jene bioseman- tischen Zeichen, die seinslogisch jener Natursphäre entstammen, die sie sym- bolisieren, den Charakter als künstliche Symbole bewahren: In ihrer gestalteten Form bleiben sie menschliches Konstrukt. Vermutlich aber hätte er seine Tren- nung der Sphären nicht aufrechterhalten. Um die Grenzaufhebung von Natur und Kunst aufzugeben, könnte ihm Wolfgang Hogrebes „rückstürzende Symbolik“ als Modell gedient haben,10 die sich nicht von den Dingen abhebt, sondern mit diesen vermählt. In jedem Fall bleibt seine „Begrenzung“ der Sphären, wie es in seiner Abhandlung zum Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie heißt, ein unverzichtbares Mittel der Distinktion.11 Und fraglos hätte er dem Anspruch zugestimmt, mit der neuen Morphologie keinesfalls eine umfassende Leitwissenschaft zu begründen, sondern ein Paradigma zu leisten, das auch autonom auf den verschiedensten Feldern fruchtbar werden könnte. Von diesem Prozess zeugen die Beiträge des vorliegenden AZP-Beiheftes, und hierin hat es die Züge einer fundamentalen Neubestimmung der Morphologie. 7 Vgl. dazu meine „Überlegungen zum Neomanierismus“, in: Yasuhiro Sakamoto / Felix Jäger / Jun Tanaka (Hg.), Bilder als Denkformen. Bildwissenschaftliche Dialoge zwischen Japan und Deutschland, Berlin / Boston 2020, 145–166. 8 Vgl. John Michael Krois, „Ernst Cassirer’s Philosophy of Biology“, in: Sign Systems Studies 32.1 / 2 (2004), 277–294, hier: 283–287, insb. 285. 9 Johann Wolfgang von Goethe, „Brief an C. F. Zelter“, in: ders., Werke, Abt. IV, Bd. 46, 221–226 (zitiert aus Ernst Cassirer, Goethe-Vorlesungen, Hamburg 2003, 245). 10 Wolfram Hogrebe, Echo des Nichtwissens, Berlin 2006, 380 f.; ders., Die Wirklichkeit des Den kens. Vorträge der Gadamer-Professur, Heidelberg 2007, 11–35, 61–78 und ders., Metaphysik und Mantik. Die Deutungsnatur des Menschen, Frankfurt a. M. 1992, 155 f. 11 Ernst Cassirer, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, in: ders., Nachgelassene Manu- skripte und Texte, Bd. 1, Hamburg 1995, 121.

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