Markus Helmerich | Katja Lengnink | Gregor Nickel | Martin Rathgeb (Hrsg.) Mathematik Verstehen Markus Helmerich | Katja Lengnink | Gregor Nickel | Martin Rathgeb (Hrsg.) Mathematik Verstehen Philosophische und Didaktische Perspektiven Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. Dr. Markus Helmerich Prof. Dr. Gregor Nickel Universität Siegen Universität Siegen Fachbereich Mathematik Fachbereich Mathematik Didaktik der Mathematik Funktionalanalysis und Philosophie der Mathematik Walter-Flex-Str. 3 Walter-Flex-Str. 3 57068 Siegen 57068 Siegen [email protected] [email protected] Prof. Dr. Katja Lengnink Dipl.-Math. Martin Rathgeb Universität Siegen Universität Siegen Fachbereich Mathematik Fachbereich Mathematik Didaktik der Mathematik Philosophie und Geschichte der Mathematik Walter-Flex-Str. 3 Walter-Flex-Str. 3 57068 Siegen 57068 Siegen [email protected] [email protected] 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © Vieweg+Teubner Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Ulrike Schmickler-Hirzebruch | Barbara Gerlach Vieweg+Teubner Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.viewegteubner.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich ge schützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Ur heber rechts ge set zes ist ohne Zustimmung des Verlags unzuläss ig und strafb ar. Das gilt insb es ondere für Vervielfältigungen, Über setzun gen, Mikro verfil mungen und die Ein speiche rung und Ver ar b eitung in elek tro nischen Syste men. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-8348-1395-4 v Vorwort MathematikVerstehen–indieThematikmögeeinlängeresliterarischesZitateinstimmen,in demaufeindrücklicheWeisediezugleichfaszinierendewieerschreckendeWirkunggeschildert wird, die ein mathematischer Text für den vergeblich um ein Verstehen bemühten Betrachteri habenkann: „Was er sah war sinnverwirrend. In einer krausen (...) Schrift (...) bedeckte ein phantastischerHokuspokus,einHexensabbatverschränkterRunendieSeiten.Grie- chischeSchriftzeichenwarenmitlateinischenundmitZifferninverschiedenerHöhe verkoppelt, mit Kreuzen und Strichen durchsetzt, ober- und unterhalb waagrechter Linienbruchartigaufgereiht,durchandereLinienzeltartigüberdacht,durchDoppel- strichelchengleichgewertet,durchrundeKlammernzusammengefaßt,durcheckige KlammernzugroßenFormelmassenvereinigt.EinzelneBuchstaben,wieSchildwa- chenvorgeschoben,warenrechtsoberhalbderumklammertenGruppenausgesetzt. Kabbalistische Male, vollständig unverständlich dem Laiensinn, umfaßten mit ih- renArmenBuchstabenundZahlen,währendZahlenbrücheihnenvoranstandenund ZahlenundBuchstabenihnenzuHäupternundFüßenschwebten.(...)Sonderbare Silben, Abkürzungen geheimnisvoller Worte waren überall eingestreut, und zwi- schen den nekromantischen Kolonnen standen geschriebene Sätze und Bemerkun- geninalltäglicherSprache,derenSinngleichwohlsohochüberallenmenschlichen Dingenwar,daßmansielesenkonnte,ohnemehrdavonzuverstehen,alsvoneinem Zaubergemurmel.“1 SooderähnlichdürftenwohldiemeistenbeimBlickaufeinenmathematischenTextempfin- den,auchwennsiediesnichtmitsotreffendenWortenausdrückenkönntenwieThomasMann. Daneben gibt es allerdings auch noch diejenigen, in deren „fremdartigem Köpfchen dies alles Sinn und hohes, spielendes Leben ha[t]“. Folgen wir dieser Beschreibung, so scheint für die einendas‚Verstehen‘derMathematikeinespielerischeSelbstverständlichkeitzusein,sodasses gar nicht als Problem, im Extremfalle nicht einmal als Phänomen in Erscheinung tritt; und für dieanderenliegtdas‚Verstehen‘sosehraußerhalballesVorstellbaren,dassjederVersuchdahin zu gelangen von vornherein als aussichtslos erscheint. ‚Mathematik verstehen‘ wäre entweder trivial oder unmöglich. Dem zum Trotz gibt es zumindest drei Gründe, sich um ein Verstehen vonMathematikzubemühenunddarüberhinaus‚MathematikVerstehen‘zureflektieren: 1. Mathematik lebt auf jeder Ebene – spätestens ab der Grundschule und bis zum wissen- schaftlichen Forschungsprozess – von dem rätselhaften Übergang zwischen Unverständ- nisundDurchblick.WeralsSchüler/indas(versetzungsrelevanteHaupt)fachMathematik nicht von vornherein abschreiben will, wird sich darum bemühen, etwas zu ‚verstehen‘. Und wer verantwortlich Mathematik unterrichtet, wird sich darum bemühen, dass dieses ‚Verstehen‘ nicht nur in einer regelkonformen Bewältigungsstrategie besteht (etwa dem stumpfsinnigen Abarbeiten eines vorgegebenen Rezepts), muss also nach den Bedingun- genfürein‚echtesVerstehen‘fragen. iManmögedenHerausgeberinnendiemännlicheFormnachsehen;hierwieauchimgesamtenBandmögensichstets beideGeschlechterangesprochenfühlen. 1ThomasMann:KöniglicheHoheit.Inders.:GesammelteWerke,Bd.II,Frankfurta.M.1960,S.242. vi 2. ModerneGesellschaften,diebereitsinihrenGrundlagensowesentlichvonderMathema- tikabhängen,könnensicheinfastglobalverbreitetesNichtverstehenderMathematikauf Dauergarnichtleisten,ohnedasAbgleitenineineDiktaturvonExpertenoder–schlimmer noch–Expertensystemenzuriskieren. 3. Schließlich: Wer unsere Zeit, aber auch wesentliche Kapitel der menschlichen Kulturge- schichtebesserverstehenwill,tutgutdaran,auchnacheinemVerständnisfürdasjahrtau- sendealte,kulturprägendeMenschheitsprojektMathematikzusuchen. Der hier schon zu Tage getretene, mehrfache Sinn kann in die folgenden Fragen übersetzt werden,zudenendervorliegendeBandeinenBeitragleistenmöchte: 1. Zunächst:WieistderVorgangdesVerstehenseinesmathematischenSachverhaltsadäquat zubeschreiben?–Unddarauf 2. infachdidaktischerAbsichtaufbauend:(Wie)könnenwirdasLehrenundLernenvonMa- thematikverstehen,vielleichtsogarverbessern? 3. InphilosophischerPerspektiveweitergefragt:ErlaubtunseineCharakterisierungdesVer- stehensprozesses innerhalb der Mathematik ein genaueres Verstehen dessen, was Mathe- matikeigentlichausmacht;undwiekönnenwirdieMathematikinihrerRollealsspeziel- lenModusderWeltbegegnungbesserverstehen? 4. Schließlich: Wie lässt sich Mathematik als Ganze umfassender verstehen, und was trägt einsolchesVerstehenzueinemVerständnisvonmenschlichemVerstehenallgemeinbei? GanzbewusstwerdenhieralsoBlickeaufdieMathematikausfachdidaktischerundausphilo- sophischerPerspektivekombiniert.LässtsichdocheinerseitsohneeinvertieftesVerständnisfür den Gegenstand Mathematik seine Lehr- und Lernbarkeit kaum angemessen untersuchen; und eröffnetandererseitseineAnalysespezifischerCharakteristikadesLernprozessesinderMathe- matikauchneueWege,denGegenstandselbst,alsodieMathematikphilosophischzuverstehen. EinesolcheKompositionderPerspektivenerprobteunterinternationalerBeteiligungvonca. 80TeilnehmernvornehmlichausMathematikphilosophieund-didaktik,aberauchausderSchul- undIndustriepraxisdie11.TagungzurAllgemeinenMathematik:Mathematikverstehen– philosophischeunddidaktischeAspektevom3.bis5.Dezember2009anderUniversitätSie- gen.InvierHauptvorträgenundca.25SektionsvorträgenwurdenvielfältigeAspektedesThemas diskutiert,wodurcheszueinemausgesprochenfruchtbarenAustauschzwischenMathematikphi- losophieund-didaktikkam. DieTagungunddamitauchdieserBandzumMathematikVerstehenstehenineinerTradition vonTagungen,dieinDarmstadtdurchdieFragenacheiner‚AllgemeinenMathematik‘alsMa- thematikfürdieAllgemeinheitbegonnenwurde,unddienuninSiegenfortgeführtwird.Zielist, dasVerhältnisvonMenschundMathematikindenBlickzunehmen.Dabeiwirdeininterdiszi- plinärerDiskursüberFragennachSinnundBedeutungvonMathematiksowienachihrenZielen, ZweckenundGeltungsansprüchenfürdieGesellschafterörtert.ImRahmendieserTagungsreihe sind bereits drei Bücher erschienen, die sowohl didaktische wie philosophische, inner- und au- ßermathematischePerspektivenumfassen:„MathematikundMensch“(2001),„Mathematikund Kommunikation“(2002)sowie„Mathematikpräsentieren,reflektieren,beurteilen“(2005).2 2VerlagAllgemeineWissenschaft,Mühltal. vii viii DasthematischeSpektrumdesvorliegendenBandesistinvierHauptteilegegliedert.Derers- te Teil präsentiert philosophische Perspektiven auf das Verstehen von Mathematik und durch Mathematik. Dabei geht es zunächst in den Kapiteln von Oliver Scholz und Werner Stegmaier um eine grundlegende Verständigung über Phänomen und Begrifflichkeit des Verstehens mit Ausblicken auf die spezielle Situation der Mathematik. Wie diffizil es ist, sich auf die Son- derzeichen eines mathematischen Essays einzulassen und sich auf ihre Bedeutung zu einigen, zeigtMartinRathgeb,währendGregorNickeldasallgemeinvorherrschendeNichtverstehender MathematikalsgesellschaftlicheProblematikdiskutiert.ReinhardWinklerthematisiertEbenen der Mathematik und des Verstehens innerhalb der Mathematik, Rainer Kaenders und Ladislav Kvazcharakterisierenlinguistischeine‚Tiefe‘desmathematischenVerständnisses.RudolfWille schließlichbeschreibtMathematikalsAbstraktionsemantischerStrukturen. ImzweitenTeilwerdendidaktischeAnsätzevorgestellt,wieVerstehenimMathematikun- terrichtermöglichtwerdenkann,aufwelcheWeisealsoeinVerstehenbeidenLernendenunter- stütztwerdenkönnte.HierzuwerdenvonPeterGallinundDianaMeerwaldtpraxisnaheKonzepte füreinenUnterrichtformuliert.ImKerngehtesdabeiumeindialogischesLernenunddas‚Phi- losophieren‘ im Mathematikunterricht, die ein vertieftes Verstehen ermöglichen. Klaus Rödler, Franz Picher und Ekkehard Kroll zeigen in ihren Kapiteln auf, wie Verstehen bestimmter Teil- gebiete der Mathematik durch Materialien, besondere Reflexionsanlässe und Software gestützt werdenkann. Im dritten Teil des Buches geht es darum, den Mathematikunterricht zu verstehen diesen also in seinen Bedingungen, Möglichkeiten und den aktuellen Entwicklungen zu analysieren. DirektaufdenUnterrichtbezogensinddieArtikelvonUdoKäserundTabeaSchimmöller.So beschreibtKäsersystematischeSchülerfehlerundihreunterrichtlichenHintergründe,Schimmöl- ler geht auf Schülerverstehen zum Begriff der Unendlichkeit ein. In seinem Kapitel erläutert MartinWinteranhanddesWurzelziehensamWurzelbrett,dassVerstehenunterschiedlicheEbe- nen und Tiefen betreffen kann. Eher bildungstheoretischer und bildungspolitischer Natur sind die letzten drei Kapitel dieses Teils. Sebastian Schorcht geht es darum, Mathematikunterricht aus Lehrerperspektive zu verstehen. Werner Peschek bearbeitet die Frage, wie das Österreichi- sche Zentralabitur verstehensorientiert gestaltet werden kann und Andreas Vohns widmet sich demMathematikverstehenausSichtderBedeutung,diedasFachfürdieAllgemeinheitentfalten kann. Die Kapitel des vierten Teils präsentieren schließlich Außenperspektiven auf das Verste- henvonMathematik,derGegenstandstelltsichsoinindirekter,gleichwohlaufschlussreicher Perspektivedar.SozeigtMartinLowskydenfürdieMathematikessentiellenVorgangderAb- straktionimSpiegelderschönenLiteratur,rückenEvaMüller-HillundSusanneSpiesdieRolle ästhetischerKriterienundUrteilefürdiemathematischeWissenschaftspraxisindenFokus,ana- lysiertDennisSölchdasVerstehenausderPerspektivederErziehungsphilosophieWhiteheads, und beschreiben schließlich Uwe V. Riss und Vasco A. Schmidt mathematisches Denken und HandelnvordemHintergrundindustriellerPraxis. InsgesamtzeigtsicheinvielgestaltigesBild,dasgeradevonderVielfaltderaufeinanderbe- zogenenPerspektivenprofitiert:„Mathematikverstehen“istzuvielfältigundzuwichtigfürdie Allgemeinheit,umesnurdenMathematikernzuüberlassenaberauchzuschwierig,umesganz ohnesiezuversuchen. ix Unser Dank gilt Karl Heinrich Hofmann (Darmstadt) für das Tagungs-Plakat und die Ab- druckerlaubnisindiesemBand,SabineGrüberundAchimKlein(Siegen)fürunschätzbareUn- terstützung der redaktionellen Arbeit, Ulrike Schmickler-Hirzebruch (Wiesbaden) für die stets angenehmeBetreuungseitensdesVieweg+TeubnerVerlages.SchließlichgiltunserDankauch allen Vortragenden der Tagung und den Autoren dieses Bandes für produktives gemeinsames NachdenkenundeineunkomplizierteKooperation. Siegen,am15.September2010 MarkusHelmerich, KatjaLengnink, GregorNickel, MartinRathgeb Inhaltsverzeichnis I PhilosophischePerspektivenaufdasVerstehenvonMathematikund durchMathematik 1 1 OLIVERR.SCHOLZ:Verstehenverstehen 3 2 WERNERSTEGMAIER:OrientierungdurchMathematik 15 3 MARTIN RATHGEB:Zeichendefizientverstehen(cid:2)GeorgeSpencerBrownsZeichen sehenundmitJosefSimonverstehen 27 4 GREGORNICKEL:Mathematik–die(un)heimlicheMachtdesUnverstandenen 47 5 REINHARDWINKLER:DerOrganismusderMathematik– mikro-,makro-undmesoskopischbetrachtet 59 6 RAINERKAENDERSundLADISLAVKVASZ:MathematischesBewusstsein 71 7 RUDOLFWILLE:Mathematiksemantologischverstehen 87 II VerstehenimMathematikunterrichtermöglichen 103 8 PETERGALLIN:MathematikalsGeisteswissenschaft(cid:2)DerMathematikschädigung dialogischvorbeugen 105 9 DIANAMEERWALDT:PhilosophierenalsUnterrichtsprinzipimMathematikunter- richt 117 10 KLAUS RÖDLER: Zahlen und Rechenvorgänge auf unterschiedlichen Abstrakti- onsniveaus(cid:2)MöglichkeitenderEntwicklungeinerinklusivenFachdidaktikaufder GrundlagehistorischerPerspektiven 131 11 FRANZPICHER:Änderungenbesserverstehen–Mathematikbesserverstehen 147 12 EKKEHARDKROLL:Geometrieverstehen:statisch–kinematisch 157