Die Fäden der Altertumswissenschaften in einer Hand: Mademoiselle Ernst und die Antike im 20. Jahrhundert Ilse HIlbold Université de Berne [email protected] laura sImon Université de Berne [email protected] THomas späTH Université de Berne [email protected] Seit den 1970er Jahren haben frauengeschichtliche Studien für die anti- ken Gesellschaften nachgewiesen, dass fehlende Sichtbarkeit von Frauen in den Quellenmaterialien weder mit Bedeutungslosigkeit noch mit Abwesenheit gleichgesetzt werden kann; die weibliche Gegenwärtigkeit in den politischen, religiösen und ökonomischen Praktiken der antiken Kulturen ist heute nicht mehr zu bestreiten. Kaum untersucht jedoch ist die Bedeutung der Arbeit von Frauen in den Institutionen und Prozessen der Produktion von Wissen über das mediterrane, vorderasiatische und nord- EuGeStA - n°6 - 2016 188 ILSE HILBOLD, LAURA SIMON ET THOMAS SPÄTH europäische Altertum1. Nicht anders als alle akademischen Disziplinen präsentierten sich auch die Altertumswissenschaften bis weit über die Hälfte des 20. Jahrhunderts hinaus als eine reine «Männersache»: Die klassisch-philologischen, archäologischen und althistorischen Lehrstühle an den Universitäten der ganzen Welt waren eine Männerdomäne, in die nur sehr vereinzelt Frauen eindringen konnten2. Doch was die frauenge- schichtlichen Studien für die antiken Gesellschaften nachweisen konn- ten, gilt genauso für die Welt der Wissenschaften des 20. Jahrhunderts: Auch wenn Frauen in der männlich dominierten Wissenschaft nicht auf den ersten Blick gesehen werden, ist ihre Arbeit von grundlegender Bedeutung. Dabei denken wir nicht an die – durch eine kontributo- rische Frauenforschung schlüssig belegte – entscheidende Funktion der Ehefrauen grosser männlicher Gelehrter, die ihren Männern «den Rücken freihielten» für die gesellschaftlich anerkannten Tätigkeiten3, sondern wir interessieren uns für Wissenschaftlerinnen, die mit ihrer Arbeit direkt in diese Wissensproduktion involviert waren, und für die geschlechtsspezi- fisch bestimmten Handlungsspielräume, die sie nutzen konnten. In unserem Beitrag möchten wir eine dieser Frauen – stellvertre- tend für viele – herausgreifen: Juliette Emma Ernst, die im eigentlichen 1 — Im Vergleich zu frauengeschichtlichen Arbeiten über die Antike fristen die wissenschafts- historischen Studien zu Frauen in den Altertumswissenschaften ein marginales Dasein; gleichwohl sind in den letzten 20 Jahren vereinzelte Arbeiten erschienen – vgl. etwa den Band diaz-Andreu/ stig-Sørensen 1998 zu Frauen in der europäischen Archäologie oder auch Beiträge zu einzelnen Forscherinnen wie z. B. Fenet 2009 zu Eugénie Bazin-Foucher. Im September 2015 organisierten Petra Schierl, Judith Hindermann und Seraina Plotke an der Universität Basel eine Tagung unter dem Titel «De mulieribus claris. Gebildete Frauen, bedeutende Frauen, vergessene Frauen», an der auch einige Forscherinnen des 19. und 20. Jahrhunderts Gegenstand von Beiträgen waren; die Pub- likation dieser Tagung ist in Vorbereitung. Eine erste Fassung des vorliegenden Beitrags konnte an dieser Tagung vorgetragen werden, und die AutorInnen danken den DiskussionsteilnehmerInnen für wertvolle Anregungen. Ebenso verdanken wir den anonymen Gutachtern der Zeitschrift EuGeStA für ihre nützlichen Hinweise. 2 — Im von Peter Kuhlmann und Helmuth schneider herausgegebenen DNP-Suppl.-Band 6, Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon, der 2012 erschien und die Gelehrten und WissenschaftlerInnen «vom 14. bis zum 20. Jh.» erfassen will – selbstverständlich ohne Anspruch auf Vollständigkeit und zudem unter Ausschluss von noch lebenden AltertumswissenschaftlerInnen (S. XIII) –, werden die einzelnen Lemmata auf den S. LII–LXI in chronologischer Reihenfolge nach Geburtsjahren aufgeführt; geht man die Gelehrten ab Geburtsjahr 1850 bis zur letztgenannten Nicole Loraux durch, zeigt sich, dass unter der Gesamtzahl von 377 Artikeln nur gerade zwölf, d. h. rund 3 %, weiblichen Gelehrten gewidmet sind: Jane Ellen Harrison (1850-1928), Margarete Bieber (1879-1978), Gisela Richter (1882-1972), Lily Ross Taylor (1886-1969), Marie Delcourt (1891-1979), Semni Karousou-Papaspyridi (1898-1994), Liselotte Welskopf-Henrich (1901-1979), Claire Préaux (1904-1979), Margaret Thompson (1911-1992), Elena Michajlowna Schtaerman (1914-1991), Hildegard Temporini-Gräfin Vitzthum (1939-2004), Nicole Loraux (1943-2003). Ein ähnliches Bild ergibt auch der Blick in vergleichbare Werke, etwa in den Dictionnaire biographique d’archéologie 1798-1945 von Ève Gran-Aymerich (2001), worin nur auf sehr wenige Archäologinnen verwiesen wird. 3 — Ein bemerkenswertes Beispiel ist Maria Auguste Reimer (1832-1907), die ab 1854 Gattin von Theodor Mommsen war und mit ihm (oder genauer: von ihm) 16 Kinder hatte – sie könnte ein interessantes Untersuchungsobjekt sein. DIE FÄDEN DER ALTERTUMSWISSENSCHAFTEN IN EINER HAND 189 Wortsinn eine Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts war – sie wurde im Jahre 1900 in Algier geboren und ist 2001 in ihrem 102. Lebensjahr in einem Altersheim in Lutry bei Lausanne gestorben4. Während rund 60 Jahren war Juliette Ernst für die Herausgabe der Année Philologique (APh) verantwortlich, und während 25 Jahren nahm sie als Generalsekretärin der 1948 unter der Ägide der UNESCO gegründe- ten Fédération Internationale des Associations d’Études Classiques (FIEC) eine Schlüsselposition der internationalen Altertumswissenschaften ein. In diesen jahrzehntelang wahrgenommenen Aufgaben deuten sich die Umrisse des Lebens einer Person an, die für die Altertumswissenschaften im 20. Jahrhundert von grundlegender Bedeutung war. Eigentlich müsste man erwarten, dass eine Person, die im Zentrum einer Institution wie der APh wie auch des Neuaufbaus einer interna- tionalen altertumswissenschaftlichen République des Lettres nach dem Zweiten Weltkrieg stand, in zahlreichen Nachrufen eine Würdigung erfuhr und einen sorgfältig archivierten Nachlass hinterliess. Diese Erwartungen wurden in unseren Recherchen enttäuscht: In sechs Zeitschriften sind im Jahr 2001 kurze Nachrufe erschienen, wobei drei dieser Nekrologe François Paschoud zum Autor haben, der 1974 ihre Nachfolge als Generalsekretär der FIEC angetreten hatte5. Unsere Suche nach einem Privatnachlass Ernst und insbesondere nach der Korrespondenz, die aus Tausenden von Briefen bestanden haben muss, verlief weitgehend erfolglos: Die Institutionen, in deren Rahmen Juliette Ernst arbeitete – wie die École Nationale Supérieure oder die Bibliothèque de la Sorbonne –, verfügen nicht über einen «Fonds Ernst», mit den zwei kleinen Ausnahmen der Personalakten ihrer Tätigkeit in Basel von 1942 bis 1948, die im Universitätsarchiv zugänglich sind, und der Dokumente zu ihren Anstellungen im CNRS, die in den Archives nationales depo- niert wurden6. Im Übrigen sucht man auch im Biographischen Lexikon, das 2012 als DNP-Supplement-Band 67 erschienen ist, vergeblich einen 4 — paschoud 2001c: 16; genaue Lebensdaten: 12. Januar 1900-28. März 2001. 5 — Chambert 2001, Fischer 1998-2000, paschoud 2001a, paschoud 2001b, paschoud 2001c; hingewiesen sei auch auf den Nachruf, den Perle bugnion-Secretan (2001) in der 1912 gegründeten (und damit wohl in Europa ältesten) feministischen Zeitschrift Femmes en Suisse im Mai 2001 veröffentlichte, zwar unter dem unsorgfältigen Titel «Juliette Ernst, 1890-2002» – worin das tatsächliche ehrwürdige Alter von 101 Jahren im Zeitpunkt ihres Todes noch um elf Jahre erhöht wird, aber mit der aufschlussreichen Einleitung: «La disparition de la Vaudoise Juliette Ernst, à la carrière remarquable, n’a été annoncée au début d’avril que par un discret faire-part familial. Aucune mention dans un de nos journaux. Il appartient à Femmes en Suisse de la rappeler». 6 — Vgl. Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt, «Universitätsarchiv XI 3.3 49 Ernst, Juliette, 1942-1948 (Dossier)» (konsultiert am 28. Oktober 2015) sowie Archives nationales, site Fontaine- bleau, «20070296/189 dossier de carrière de Juliette Ernst» (konsultiert am 28. Januar 2016). 7 — Vgl. die Angaben supra, Anm. 2. 190 ILSE HILBOLD, LAURA SIMON ET THOMAS SPÄTH Artikel «Ernst, Juliette», während in den zwei Spalten zu Jules Marouzeau dessen Verdienst als Begründer der APh hervorgehoben wird8. Die Diskrepanz zwischen der vermeintlichen Evidenz der zentralen Position dieser Frau in den internationalen Altertumswissenschaften und ihrer nur marginalen Anerkennung verlangt nach Erklärung. Kann ein genauerer Blick auf die Tätigkeiten von Ernst, auf deren Stellenwert bei den männlichen Kollegen und auf ihre Selbsteinschätzung Aufschluss geben über die unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Handlungsspielräume, die die Altertumswissenschaften im 20. Jahrhundert für Frauen und Männer bereithielten? Ist diese Diskrepanz ein möglicher Ansatzpunkt, um ihre unterschiedlichen Funktionen in der Wissenschaftspraxis und zugleich eine Hierarchie zwischen Wissenschaftsorganisation und Wissenschaftsproduktion zu erkennen? Spiegeln sich in dieser Hierarchie Geschlechtsstereotype, wie sie die europäischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts prägten? Diesen Fragen will ein Forschungsprojekt9 nachgehen, dessen erste Schritte und methodologische Herausforderungen der vorliegende Beitrag zur Diskussion stellt. Das Projekt geht von einer Einzelperson aus und ist deshalb, auf methodologischer Ebene, auch darauf ausgelegt, kritisch die Möglichkeiten und den Nutzen biogra- phischer Ansätze für eine Wissenschaftsgeschichte zu prüfen, die die Kategorie Geschlecht einbezieht. Grundlage für die hier vorgelegten Überlegungen ist im Wesentlichen die Auswertung der öffentlich zugänglichen Dokumente, d. h. der Nekrologe, der «Avant-propos» der APh – und darunter insbesondere des von Ernst in der 50. Ausgabe der APh unter dem Titel «L’Année Philologique, notre aventure» veröffentlichten Textes, einer Art «égo- histoire» vor dem Begriff10 – sowie von Interviews mit Zeitgenossen (François Paschoud, Walter Rüegg). Gestützt auf diese Materialien möchten wir die genannten Problemfelder zunächst mit einer schlichten Zusammenstellung der Daten des Lebenslaufs darlegen (1.), der eine 8 — Ralph lather, Anette Clamor, «Marouzeau, Jules», in: DNP-Suppl.-Bd. 6, 782-783; vgl. aber Sp. 783: «Über Jahrzehnte fungierte M. als Herausgeber der Année Philologique, ab 1931 wesent- lich unter der Mitarbeit Juliette Ernsts, die nach seinem Tod 1964 seine Position übernahm». Das Personenregister ordnet der Schweizerin eine französische Nationalität zu, die sie unseres Wissens nie besass, vgl. den Eintrag Sp. 1389 «Ernst, Juliette, franz. Klass. Philologin (1900-2001): Marouzeau, Jules, 783». 9 — Das Vorhaben einer wissenschaftsgeschichtlichen Biographie von Juliette Ernst ist Teil eines Projekts zur Geschichte der schweizerischen Altertumswissenschaften im 20. Jahrhundert in ihrem internationalen Kontext, das 2015 lanciert wurde und 2019 seinen Abschluss finden soll; das Projekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert und steht unter der Leitung von Stefan Rebenich und Thomas Späth. Die Vorstudien zum Teilprojekt «Juliette Ernst» wurden durch Laura Simon durchgeführt (vgl. simon 2014); seit August 2015 hat Ilse Hilbold die Verantwortung für das Forschungsvorhaben übernommen. 10 — ernst 1981. Etabliert wurde diese Form der autobiographischen Reflexion über Geschichte durch den von Pierra nora 1987 herausgegebenen Band Essais d’égo-histoire (nora 1987). DIE FÄDEN DER ALTERTUMSWISSENSCHAFTEN IN EINER HAND 191 genauere Erörterung der wissenschaftlichen Tätigkeiten von Ernst und ihrer Fremd- und Selbsteinschätzung – soweit die vorliegenden Zeugnisse dies zulassen – folgen wird (2.); abschliessend finden sich unsere Fragen und Thesen zur Biographik als Methode der Wissenschaftsgeschichte und zur geschlechtsspezifischen Bestimmung von Handlungsräumen in den Altertumswissenschaften des 20. Jahrhunderts formuliert (3.). 1. Von Algier über Lausanne nach Paris: der Lauf eines Lebens Wenn wir die Stationen des Lebens von Juliette Ernst erfassen wollen, nähern wir uns von aussen dem «chronologischen Skelett» und damit nur dem einen Aspekt der Existenz, die Jean-Louis Passeron als die Spannung zwischen «la chaire et la squelette du temps» einer Biographie umschreibt11. Wir verzichten erst einmal auf den Versuch, Einblick zu nehmen in die Gedanken und Überlegungen der Protagonistin und damit ihre Gründe für Entscheidungen zu erkennen; mit dieser vorläu- figen Suspendierung der Frage nach Motivationen und Bedingungen können wir den Weg ihres Lebens12 erkunden, ohne der Illusion des post hoc propter hoc13 zu erliegen. Juliette Ernst war die Tochter eines Schweizer Ehepaars, das kurz nach der Hochzeit im Jahre 1897 nach Algier ausgewandert war; ihr Vater, Édouard Ernst (1857-1941), verheiratet mit Marguerite (genannt: Jeanne) Muller (1868-1948), hatte als Buchhalter und Teilhaber eine führende Stellung in der Handelsfirma Lucien Borgeaud & Cie. im französischen Departement Algerien inne. 1913 zog er sich aus dem Geschäft zurück und kehrte mit seiner Frau und den vier Töchtern14 nach Lausanne zurück, wo die Familie eine Villa, «Le Télemly» genannt, bauen lässt15. Juliette Ernst besuchte die École Supérieure des Jeunes Filles und erwarb dort 1919 ihr baccalauréat. Im Wintersemester des gleichen Jahres immatrikulierte sie sich an der Faculté des Lettres der Universität 11 — passeron 1990: 4ff. 12 — Vgl. Frijhoff 2003: 69f. 13 — passeron macht auf dieses sowohl für eine biographische wie auch historische Abfolge von Ereignissen ungenügende Erklärungsmodell hin (1990: 11); für bourdieu ist die Konstruktion einer teleologisch bestimmten Kohärenz der Ausgangspunkt seiner kritischen Überlegungen zur «illusion biographique» (1994 [1986]: 81f.). 14 — Thérèse Charlotte Elisabeth Ernst (1897-1985), Juliette Emma Ernst (1900-2001), Germaine Marguerite Léonie Ernst (1905-1996), Marguerite Léonie Brütsch-Ernst (1907-1978). 15 — Vgl. Junet 2009: 11. Der Name der Ernst-Villa im Lausanner Quartier La Rosiaz spielt auf das begehrte Wohnquartier Le Télemly in Algier an. Offenbar hatte es Édouard Ernst in Alger zu einem beachtlichen Vermögen gebracht; allerdings erwähnt Junet auch, dass die Familie Ernst Zimmer des Hauses an Pensionäre vermietete. 192 ILSE HILBOLD, LAURA SIMON ET THOMAS SPÄTH Lausanne16. Prägender akademischer Lehrer für Ernst wurde der Latinist Frank Olivier, der aus einer alteingesessenen Waadtländer Familie stammte, in Berlin bei Hermann Diels studiert hatte und – wie François Paschoud vermerkt – mit seiner sehr deutsch geprägten Philologie seinen Kollegen in Lausanne überlegen und entsprechend unbeliebt war17. 1923 schloss Ernst ihr Studium mit der «Licence» ab, «avec les félici- tations du Jury», d. h. mit höchstem Prädikat; sie unterrichtete danach Französisch an der École supérieure de jeunes filles in Yverdon von 1923 bis 1925. Für das Studienjahr 1925/26 schrieb sie sich in Paris als Studentin an der École Pratique des Hautes Études (EPHE) ein und belegte Lehrveranstaltungen bei Desrousseaux, Ernout, Marouzeau, Meillet und Samaran; sie wurde Mitglied der Société des Études Latines und nahm an den Sitzungen der Gesellschaft teil18. Wie in der EPHE üblich, erhielt sie nach einem Jahr Vollstudium den Status einer «élève titulaire», ab 1926 in den Bereichen «sciences philologiques et historique», für 1927 in den «sciences religieuses». Auf diese Vertiefung ihres Studiums folgten ver- schiedene Erwerbstätigkeiten: Im Schuljahr 1927/28 unterrichtete Ernst Französisch wiederum an der gleichen Schule in Yverdon wie schon drei Jahre zuvor; sie hielt sich im Frühjahr 1928 für drei Monate in Oxford auf, wo sie am St Hugh’s College Englisch-Französische Übersetzung lehrte, und im Folgejahr 1928/29 arbeitete sie als mittlere Kaderangestellte und Protokollführerin im Personalbüro des Völkerbundes in Genf19. 1929 war sie zurück in Paris und Angestellte im Bureau des Renseignements du Foyer international am Bd. St.-Michel. Inmitten dieser sehr vielfältigen und internationalen Tätigkeiten scheint aber die Zusammenarbeit mit dem Latinisten Marouzeau für Ernst eine nachhaltige Bedeutung zu gewinnen: Als Professor an der EPHE lernte er in seinen Lehrveranstaltungen die aussergewöhn- lich polyglotte Studentin kennen – nebst Französisch beherrschte sie auch die deutsche, englische und italienische Sprache in Wort und Schrift –, und er integrierte sie gleich in die Gruppe der Studentinnen, denen er Aufgaben für die APh übertrug. Seit Mitte der 1920er Jahre plante Marouzeau dieses Projekt einer internationalen Bibliographie der Altertumswissenschaften, die ersten zwei Bände der APh erschienen 1928. 16 — Vgl. Catalogue des étudiants de l’Université de Lausanne. Année universitaire 1918-1919. Semestre d’hiver. N° 57, Lausanne 1919. 17 — François Paschoud im Interview mit Laura Simon vom 3. Juni 2014. 18 — In REL 3, 1925: 9, wird «Ernst J., Professeur au Collège La Villette, Yverdon, Suisse» unter den Mitgliedern erwähnt; S. 169 und 171 findet sie sich unter den «membres présents» der Sitzungen vom 14. März 1925 respektive 12. Dezember 1925 genannt. 19 — Vgl. http://lonsea.de/pub/person/10039 [12.7.2016]; auf dieser Seite wird Juliette Ernst zudem für 1928 Unterricht in Latein für den Concours de l’École des Chartes während sechs Monaten zugeschrieben. DIE FÄDEN DER ALTERTUMSWISSENSCHAFTEN IN EINER HAND 193 Wir werden auf die Arbeit von Ernst für die APh zurückkommen; halten wir hier zunächst fest, dass der Name «Mlle J. Ernst» erstmals im «Avant- propos» zu Band 3, der 1929 erschien, in marouzeaus Verdankungen der Mitarbeiterinnen genannt wird20. Rund fünf Jahre später findet sich im Band 8 der Hinweis, dass die redaktionelle Arbeit von nun an exklusiv von Ernst geleistet werde21. In ihrem Rückblick aus Anlass des 50. Bandes der APh stellt Ernst, aus der Distanz von mehr als fünf Jahrzehnten, diese Arbeit für die APh auf eine Weise dar, die suggeriert, sie habe damit zu Beginn der 1930er Jahre ihre Lebensaufgabe gefunden. Sie weist darauf hin, die Grösse der Herausforderung habe sie manche Bildungslücken erkennen lassen, doch diese zu schliessen habe sie als vorrangiges Ziel betrachtet und deshalb die APh als ein «Abenteuer» aufgefasst22. Ab 1933 hielt sie sich für ihre Arbeit an der APh regelmässig ein bis zwei Monate in Rom auf, machte sich mit dem Besuch der Lehrveranstaltungen von Giuseppe Lugli mit der Archäologie vertraut, arbeitete in den Bibliotheken des Palazzo Farnese und des Istituto Germanico, und sie erwähnt, dass «Mrs. Strong»23 sie in ihrem Salon «avec le monde cosmopolite des ‹classicistes›» bekannt gemacht habe. 1936 verbrachte sie fünf Monate in den USA mit Stationen an der Universität Harvard in Cambridge und im Bryn Mawr College in Philadelphia, sie unternahm 1937 eine Reise zu den Grabungsstätten in Griechenland, arbeitete 1938 im British Museum in London24. Für ihre Verdienste verlieh ihr die Universität Lausanne 1939, im Zeitpunkt des Rücktritts von Frank Olivier, die Ehrendoktorwürde – es ist zu vermuten, dass Ernst mit 39 Jahren wohl eine der jüngsten doctores honoris causa ist, zumindest gemessen an den Gewohnheiten der Schweizer Universitäten für die Vergabe von Ehrendoktoraten. 20 — APh 3, 1929: VII; vgl. infra S. 12. 21 — APh 8, 1934: VII: «Mlle J. Ernst, sur qui repose désormais exclusivement la tâche de la rédaction de cette Revue, a mis à profit cette année un séjour à Rome pour assurer tout particulière- ment le dépouillement des périodiques italiens qui présentaient encore des lacunes». 22 — ernst 1981: XXII; vgl. infra Abschnitt 2.3 mit Anm. 84 für das Originalzitat. 23 — Eugénie Strong (geb. Sellers), war «assistant director» der British School at Rome ab 1909; sie wurde 1925 in einer intrigenumwitterten Entscheidung zusammen mit dem Direktor Thomas Ashby entlassen, blieb aber in Rom und begeisterte sich für die Förderung der Archäologie durch Mussolini; sie hielt seit ihrer Entlassung und während der ganzen 1930er Jahre in ihrer Wohnung an der Via Balbo einen wöchentlichen Salon, wo sich die internationale Archäologie- und Kunstwelt, die sich in Rom aufhielt, die Klinke in die Hand gab. Vgl. J.M.C. Toynbee, «Strong [née Sellers], Eugénie (1860-1943)», in: Oxford Dictionary of National Biography, 2004 [http://www.oxforddnb. com/index/36/101036352; 14.4.2016]. Vgl. dyson 2004 für eine materialreiche, aber mit ihrer Ver- meidung sowohl kritischer wie auch geschlechtsspezifischer Fragen sehr konventionelle Biographie. Vgl. auch den Artikel «Strong, Eugenie-Sellers (1860-1943)» in Gran-Aymerich 2001: 1181, mit zusätzlichen bibliographischen Hinweisen. 24 — ernst 1981: XXII. 194 ILSE HILBOLD, LAURA SIMON ET THOMAS SPÄTH Wenn auch Juliette Ernst in ihrer Rückschau die Arbeit an der APh seit Beginn der 1930er Jahre als Zentrum ihres Lebens rekonstruiert, so geht im Unterschied dazu aus zeitnäheren Aufzeichnungen und Dokumenten hervor, dass ihre materielle Situation prekär war: Von Marouzeau wurde sie für ihre Arbeit im Stücklohn, d. h. mit einer Entschädigung pro APh-Eintrag, bezahlt; bis 1948 ging sie immer parallel zu ihrer Tätigkeit Erwerbsarbeiten nach, sei das, wie erwähnt, im Foyer international, sei es durch Übernahme von Übersetzungen, z. B. für den Lausanner Gräzisten Bonnard, durch privaten Französischunterricht für Ausländer in Paris, durch Lehrtätigkeit im Rahmen von «Cours de vacances» oder als stell- vertretende Lektorin an der Universität Lausanne. Zwischendurch konnte Marouzeau sie offenbar auch zeitlich begrenzt als wissenschaftliche Hilfskraft durch den CNRS entschädigen lassen. Klar geht aus den uns aktuell vorliegenden Dokumenten hervor, dass Ernst bis zu ihrer stabi- leren Anstellung durch den CNRS im Jahre 1947 regelmässig zwischen Paris und Lausanne pendelte, und dies nicht zuletzt auch aus dem Grund, sich aus verschiedenen Quellen ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Ihre immer aufrechterhaltenen Verbindungen in die Schweiz nutzte sie beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: Die bibliographische Arbeit an Bibliotheken im internationalen Rahmen wurde durch den Krieg unter- brochen – nicht ohne Stolz hält Ernst jedoch fest: «la guerre [...] ne réussit pas, en dépit des prévisions pessimistes de certains, à mettre fin à mon activité»25. Als sich 1940 die Niederlage Frankreichs abzeichnete, zog sie sich nach Basel zurück, wo sie zum einen ihren Lebensunterhalt als Französischlehrerin am Mädchengymnasium und an der Volkshochschule sowie als Lektorin für Französisch an der Universität verdiente26 und zum andern die bibliographische Arbeit weiterführte; sie erwähnt, dass die Universitätsbibliothek Basel auch während des Kriegs regelmässig die meisten internationalen Zeitschriften erhielt, sodass sie die Bände 14 (1941), 15 (1943) und 16 (1946) der APh herausbringen konnte27. 1947 war Ernst zurück in Paris, wo Marouzeau beim CNRS eine befristete, später mehrfach verlängerte Anstellung erreichen konnte28. Ihre gewohnte Reisetätigkeit nahm sie wieder auf, vor allem die regelmässigen Aufenthalte in Rom, wo ihr die École Française de Rome, die British School, 25 — ernst 1981: XXII. 26 — ernst 1981: XXIII. 27 — Sie äussert in ihrem Rückblick (ernst 1981: XXIII) einen speziellen Dank für die Unter- stützung durch Bibliotheksdirektor Karl Schwarber, durch den Philologen Peter von der Mühll, der ab 1942 Rektor der Universität Basel war (und der sie auch mehrfach von ihrer Tätigkeit als Lektorin beurlaubte, um ihr die Arbeit an der APh zu erlauben), und für die Gastfreundschaft von Margue- rite Walser, Witwe des Romanisten Ernst Walser (und Mutter des Althistorikers Gerold Walser). Im Übrigen hielt Ernst auch 1939, 1941 und 1942 Vorträge in Genf und Lausanne zu Fragen der altertumswissenschaftlichen Bibliographie. 28 — ernst 1981: XXIII. DIE FÄDEN DER ALTERTUMSWISSENSCHAFTEN IN EINER HAND 195 das Istituto Svizzero und insbesondere die American Academy Aufenthalte «compatibles avec mes modestes moyens» erlaubten. Die internationalen Beziehungen, die Ernst während ihrer Tätigkeit für die APh aufgebaut und auch während der Kriegszeiten weiter gepflegt hatte, prädestinierten sie gewissermassen dazu, in den Bemühungen der Nachkriegszeit, die seit dem Ersten Weltkrieg beeinträchtigte und im Zweiten Weltkrieg zerstörte République des Lettres und ihren internationalen Austausch neu zu grün- den, eine bedeutende Rolle zu spielen. Am ersten Nachkriegskongress der Association Guillaume Budé, der 1948 in Grenoble stattfand, präsen- tierte sie einen Bericht unter dem Titel «La coopération intellectuelle. Le problème des revues et de la documentation», worin sie einen Überblick über alle existierenden altertumswissenschaftlichen Zeitschriften – von den USA bis Ägypten, von Malta bis in die UdSSR – und kri- tische Überlegungen zum Zugang zu diesen Publikationen vorlegte29. Nicht zuletzt formulierte sie ihren Bericht auch als Anregung für die Schaffung einer geisteswissenschaftlichen Dokumentationsstelle durch die UNESCO und als Aufgabe für die FIEC, deren Gründung nur wenige Tage nach dem Budé-Kongress vorgesehen war. Denn unter der Schirmherrschaft der 1945 gegründeten UNESCO wurden schon bald nach dem Krieg Gespräche geführt über die Gründung einer internatio- nalen Vereinigung der Altertumswissenschaften30. Am 28./29. September fand im Pariser UNESCO-Gebäude die Gründungsversammlung der FIEC statt31. Juliette Ernst wurde zur «Secrétaire générale adjointe» gewählt; der Archäologe Charles Dugas, der als Professor und Mitglied der Académie des Inscriptions et Belles Lettres die offenbar erwün- schte institutionelle Position innehatte, wurde zum Generalsekretär be- stimmt. Dugas’ Gesundheitszustand hinderte ihn an der Teilnahme an der Generalversammlung von 1950, die von Ernst geleitet wurde, und zwangen ihn zum Rücktritt vor der Versammlung von 1953; so wurde Ernst für 1953 und 1954 zur «Secrétaire générale par intérim», zwischen 1954 und 1974 spielte sie schliesslich in der FIEC ihre führende Rolle ausgestattet mit dem Titel der «Secrétaire générale». Ernst übte ihre Tätigkeit sowohl für die APh wie auch für die FIEC von ihrer Privatwohnung im XIV. Arrondissement in Paris aus – genauso 29 — ernst 1949. 30 — Hier und zum Folgenden vgl. paschoud 1996 [1997]: 5-8; vgl. auch infra, Abschnitt 2.2. 31 — Die ersten – wie paschoud (1996 [1997]: 7) nicht ohne Ironie festhält: bescheidenen – finanziellen Mittel wurden von der UNESCO zur Verfügung gestellt; der Mitgliederbeitrag wurde auf 5 US$ festgelegt, was bei 15 Gründungsorganisationen ein jährliches Betriebsbudget von 75 US$ ergab. Die FIEC wurde dann, zusammen mit zwölf anderen internationalen Föderationen von Geistes- und Sozialwissenschaften, Mitglied des Conseil international de la philosophie et des sciences humaines (CIPSH), der im Januar 1949 als Unterorganisation der UNESCO gegründet wurde; vgl. dazu belloc 2007b zu den Anfängen bis 1949, belloc 2007a zur weiteren Entwicklung bis 1955. 196 ILSE HILBOLD, LAURA SIMON ET THOMAS SPÄTH wie auch Marouzeau seine Privatadresse als offizielle Redaktionsanschrift publizierte, fand sich ab 1951 jene von Ernst im Impressum der Zeitschrift32. Sie arbeitete dort, bis sie mit 92 Jahren aus gesundheitli- chen Gründen die Redaktion der APh in andere Hände geben musste; zum letzten Mal signiert sie im Band 61, der 1992 erschien, den «Avant- propos» mit Angabe des Datums «Juillet 1992». Zu Beginn der 1990er Jahre zog sie sich in ein Altersheim in Lutry, in der Umgebung von Lausanne, zurück; ihre zwei Nichten, Töchter ihrer jüngsten Schwester, waren ihr beim Umzug behilflich und räumten 1993 die Pariser Wohnung. Sie fanden dort, wie wir von ihnen erfahren haben, keine Sammlung der immensen Korrespondenz aus den vielen Jahrzehnten der bibliographischen Arbeit in einem internationalen Netzwerk: Offenbar hatte Ernst die Gewohnheit, Briefe – in denen es wohl meist um den Austausch von bibliographischen Informationen und um organisatorische Angelegenheiten ging – nur so lange aufzubewahren, wie sie für einen bestimmten Zweck gebraucht wurden, und sie danach dem Papierkorb anzuvertrauen. 2. Wissenschaftliche Tätigkeiten, Fremd- und Selbsteinschätzung Dieses chronologische «Skelett» des Ablaufs eines Lebens ist nun mit dem «Fleisch» der greifbaren Inhalte zu ergänzen, die erlauben, die Handlungsräume zu erkunden, die in den Altertumswissenschaften einer Philologin offen standen, und die Frage aufzuwerfen, inwiefern diese ge- schlechtsspezifisch bestimmt waren. Wir wenden uns deshalb mit einem analytischeren Blick den beiden Gebieten zu, die das Leben von Juliette Ernst geprägt haben und die durch ihre Arbeit geprägt wurden, der APh und der FIEC, um anschliessend die Möglichkeiten zu diskutieren, ihr Selbstverständnis in diesen Tätigkeiten zu erfassen. 2.1 «Ma fidèle collaboratrice»: Juliette Ernst und die Année Philologique In den Jahren 1927 und 1928 hatte Marouzeau zwei Bände unter dem Titel Dix années de bibliographie classique. Bibliographie critique et analytique de l’antiquité gréco-latine, 1914-1924 publiziert und eröffnete 32 — Ernst wohnte in einer kleinen Wohnung an der Adresse 11, Avenue du Parc Montsouris, die 1964 in Avenue René-Coty umbenannt wurde. Bis zum 1950 publizierten Band 19 der APh war die offizielle Redaktionsanschrift Marouzeaus Privatadresse: zuerst 4, rue Schoelcher, danach 270, Bd. Raspail. Sowohl die Adressen von Ernst wie von Marouzeau liegen im XIV. Arrondissement – die wenigen hundert Meter zwischen den jeweiligen Wohnungen lassen annehmen, dass häufiger Kon- takt und die direkte Übergabe von Schriftstücken zwischen Marouzeau und Ernst praktiziert wurden.
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