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Liminale Lyrik PDF

469 Pages·2018·2.745 MB·German
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Erik Schilling Liminale Lyrik Freirhythmische Hymnen von Klopstock bis zur Gegenwart ABHANDLUNGEN ZUR LITERATURWISSENSCHAFT Abhandlungen zur Literaturwissenschaft Erik Schilling Liminale Lyrik Freirhythmische Hymnen von Klopstock bis zur Gegenwart J. B. Metzler Verlag Die Arbeit an dem vorliegenden Buch wurde großzügig unterstützt durch ein Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Der Autor Erik Schilling ist Privatdozent für Neuere deutsche Literatur und Vergleichende Literaturwissenschaft an der LMU München. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-476-04645-1 ISBN 978-3-476-04646-8 (eBook) Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature www.metzlerverlag.de [email protected] Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Satz: Dörlemann Satz, Lemförde J. B. Metzler, Stuttgart © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature, 2018 Inhalt 1 Liminalitäten hymnischer Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Anthropologische Liminalität: Immanenz vs. Transzendenz . . . . . . . . . 2 1.2 Soziale Liminalität: Individuum vs. Kollektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.3 Formale Liminalität: Metrisch gebundene vs. ungebundene Rede . . . . 10 1.4 Poetologische Liminalität: Selbstreferenz vs. Systemreferenz . . . . . . . . . 17 1.5 Kommunikative Liminalität: Monolog vs. Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.6 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2 Vor- und Parallelgeschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.1 Griechische und lateinische Hymnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.2 Volkssprachige Hymnen der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2.3 Metrisch gebundene Hymnen des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3 Freirhythmische Hymnen ab 1750 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.1 »Schau ich die Schöpfung an«: Klopstock/Herder/Stolberg/ Schiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.2 »Umfangend umfangen«: Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.3 »Auf dem Grenzgebürge der Welt«: Novalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 3.4 »Hinüberzugehn und wiederzukehren«: Hölderlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3.5 »Der Vorwelt | Kunstbegabt nachringen«: Heine/Platen . . . . . . . . . . . . . 200 4 Freirhythmische Hymnen ab 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 4.1 »Nur Narr! Nur Dichter!«: Von Hamerling zu Nietzsche . . . . . . . . . . . . 227 4.2 »Schweigsam über der Schädelstätte«: Trakl und der Expressionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 4.3 »Reiss mich an deinen rand | Abgrund«: George . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 4.4 »Preise dem Engel die Welt«: Rilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 4.5 »Deutschland, wir grüßen dich!«: Brecht/Weinheber . . . . . . . . . . . . . . . 332 VI Inhalt 5 Freirhythmische Hymnen ab 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 5.1 »Gelobt seist du, Niemand«: Sachs/Bobrowski/Celan/Bachmann/ Bernhard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 5.2 »Irr mir im Ohre schallen | Verse von Hölderlin«: Hölderlin nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 5.3 »die signatur | von der geschichte«: Von Rühmkorf bis Kling . . . . . . . . 385 6 Eine kurze Geschichte hymnischer Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 1 Liminalitäten hymnischer Dichtung 1 1 Liminalitäten hymnischer Dichtung Hymnische Dichtung gehört zu den ältesten Formen des poetischen Ausdrucks. Ihre Traditionslinie reicht von den homerischen Hymnen, Pindars Siegesliedern und der Lyrik des Horaz über den christlichen Hymnus bis zu zentralen Texten der Moderne. Götter werden angefleht, Helden besungen, Sieger gepriesen. Die adäquate Form dafür ist das scheinbar spontane Sprechen im hohen Stil. Ein genialer Dichter, so die poetische Selbstzuschreibung, verleiht dem Augenblick im reißenden Rausch der Rhythmen ewige Dauer. Die Literaturwissenschaft hat hymnische Dichtung vielfältig erforscht, etwa im Hinblick auf ihre poetische Gestaltung, ihre literarischen Kontexte oder ihre soziale Funktion. Ein konstitutives Merkmal aber blieb unberücksichtigt: die Grenzsituati- on, die beinahe alle Texte verbindet. Trotz ihrer unterschiedlichen historischen und kulturellen Entstehungskontexte teilen Hymnen dieses Merkmal nicht nur, sie sind ohne den Aspekt des Liminalen kaum denkbar. An einem Beispiel – Goethes Prometheus – sei dies einleitend erläutert.1 Mit den Worten »Bedecke deinen Himmel Zevs | Mit Wolckendunst!« (1 f.) spricht Prome- theus zu Zeus, das Geschehen spielt zwischen Immanenz und Transzendenz. Der Text geht also erstens von einer anthropologischen Liminalität aus. Prometheus als Sprecher wie Zeus als Dialogpartner befinden sich zwischen menschlichem und göttlichem Status. Über Zeus walten die Mächte der Zeit und des Schicksals, er ist – wie Prometheus betont – nicht allmächtig: »Meine Herren und deine« (46). Prome- theus hingegen schafft wie ein Gott die Menschen, ist also seinerseits oberhalb der irdischen Sphäre angesiedelt. Zweitens ist Prometheus einer sozialen Liminalität unterworfen, d. h. er oszilliert zwischen Individualität und Eingliederung ins Kollektiv. Als Schöpfer der Menschen ist er einerseits der Gruppe entrückt; seine Tätigkeit rückt ihn auf die Stufe eines Gottes, zumindest eines alter deus: »Hier sizz ich, forme Menschen | Nach meinem Bilde | Ein Geschlecht, das mir gleich sey« (52–54). Andererseits entsteht ein Kol- lektiv, das ihm ähnlich ist, in dem er aufgehen, ja bis zur Anonymität verschwinden kann. Prometheus schwankt also zwischen pointierter Individualität und sozialer Integration in die Gruppe. Drittens ist Prometheus durch eine formale Liminalität zwischen metrisch gebun- dener Rede und freien Versen charakterisiert. Mittel dafür sind die freien Rhyth- men. Einerseits zitieren sie Elemente der strukturierten Sprechweise etwa der Ode oder der Elegie. Andererseits verzichten sie auf eine klare Vorgabe von Metrum und Rhythmus, um bestimmte syntaktische Fügungen zu betonen. Konkret gilt dies etwa für die letzten beiden Zeilen, die erst einen Hexameterschluss zitieren, dann aber durch den Zeilenbruch die Autonomie des Individuums betonen: »Und dein nicht zu achten | Wie ich!« (57 f.). Viertens weist Prometheus eine poetologische Liminalität auf, die sich zwischen Selbst- und Systemreferenz entwickelt. Auf der einen Seite suggeriert der Text eine momenthaft-autonome ›Authentizität‹, zu der beispielsweise der Verzicht auf me- 1 Zum Text sowie zur Detailanalyse vgl. Kap. 3.2. Zit. n. DJG 2, 234 f. 2 1 Liminalitäten hymnischer Dichtung trische Gebundenheit, die direkte Rede, das betonte Ich und die Imperative beitra- gen: »Musst mir meine Erde | Doch lassen stehn | Und meine Hütte | Die du nicht gebaut, | Und meinen Heerd | Um dessen Glut | Du mich beneidest« (6–12). Auf der anderen Seite zeigen intertextuelle Bezüge z. B. zur Schöpfungsgeschichte der Gene- sis oder zu zeitgenössischen Diskursen vom Dichter als dem second maker Prome- theus als Diskursträger, der allgemein verfügbares Wissen präsentiert. Das Gedicht schwankt also zwischen fingierter Authentizität in einem Moment der Erregung und reflektierter Positionierung gegenüber der vorausgesetzten Tradition. Fünftens ist für den Sprechakt eine kommunikative Liminalität zu konstatieren, die sich zwischen Monolog und Dialog entfaltet. Einerseits präsentiert das Gedicht eine dialogische Konstellation. Prometheus wendet sich in Apostrophen an Zeus: »Ich dich ehren? Wofür?« (38). Andererseits kommt kein Dialog zustande, weil Zeus nicht antwortet. Ob das Gedicht als Dialog zu verstehen ist oder als Monolog des Prometheus, bleibt daher offen. Möglicherweise kann es sogar als Kommunikations- akt verstanden werden, der sich im Inneren des Sprechers vollzieht, etwa wenn er sein Herz adressiert: »Hast du’s nicht alles selbst vollendet | Heilig glühend Herz« (33 f.). Das Gedicht oszilliert so zwischen einer monologischen und einer dialogi- schen Kommunikationssituation. Hymnische Dichtung in freien Rhythmen ist demnach – so die erste These die- ser Arbeit – thematisch, formal und pragmatisch durch Liminalität charakterisiert. Daraus resultiert – so die zweite These – eine programmatische Vieldeutigkeit. Weil die Texte Optionen in Spannungsfeldern zwischen Extrempolen präsentieren, bieten sie einen Diskursraum, in dem Grenzen des Menschen, der sozialen Gruppe, der li- terarischen Form, der Poetik und der Sprache erörtert werden, ohne eine eindeutige Positionierung vorzunehmen. Die genannten liminalen Dimensionen können als heuristische Systematik für einen diachronen Durchgang durch die Geschichte hymnischer Dichtung in der deutschen Literatur dienen. Neben vielen kanonischen Beispielen erschließen sie Prometheus als kontrafazierende ›Anti-Hymne‹ und illustrieren so, dass die Limi- nalität zentrales Merkmal hymnischer Dichtung ist. Bevor dies in Einzeltextana- lysen differenziert zu entfalten ist, seien die liminalen Dimensionen abstrahierend erläutert und um begriffliche Präzisierungen ergänzt. 1.1 Anthropologische Liminalität: Immanenz vs. Transzendenz Eine anthropologische Liminalität zwischen Immanenz und Transzendenz ist die Grundlage hymnischer Dichtung. Alle einschlägigen Texte beschreiben eine Aus- einandersetzung des Sprechers mit einer göttlichen Instanz. In der Rolle des poeta vates ist er zur Transzendenz hin erhöht; er gewinnt Einsichten, die seinen Mit- menschen verwehrt bleiben, und nähert sich dadurch der Sphäre des Göttlichen an. Gleichzeitig bewegt sich dieses auf den Sprecher zu. Für die Dauer des Gedichts interagieren Mensch und Gott in einem gemeinsamen Horizont, ohne dass sie die Grenze ihrer Sphäre ganz überschreiten. Häufig findet diese Kommunikation da- her in einem räumlichen Grenzbereich zwischen Himmel und Erde statt. Zentral ist auch ein zeitliches Spannungsverhältnis: Das Göttliche wird als das Ewige be- 1.1 Anthropologische Liminalität: Immanenz vs. Transzendenz 3 schrieben, demgegenüber erscheint der Moment poetischer Einsicht als flüchtiger Augenblick. Liminalität als Teil des Initiationsritus Die anthropologische Dimension von Liminalität greift den Begriff des Limina- len auf, wie er in der Ethnologie von Victor Turner im Anschluss an Arnold van Gennep geprägt wurde:2 Eine liminale Phase bezeichnet die Schwellensituation im Zuge einer rituellen Handlung, während der sich das dem Ritus unterworfene Sub- jekt in einem sozialen Zwischenstadium befindet.3 Die Schwellensituation umfasst Elemente sowohl des vorangegangenen als auch des folgenden Zustands, die für ein experimentelles Ausprobieren zur Verfügung stehen. Individuen, die sich im Schwellenzustand befinden, sind von gesetzlich, traditionell oder sozial vorgegebe- nen Regeln entbunden.4 Hierarchien werden suspendiert, Unterschiede zwischen den Initianden verwischt.5 Turner unterscheidet drei aufeinanderfolgende Phasen der Initiation, die er mit Bezug auf Gennep als ›Trennung‹, ›Schwelle‹ und ›Angliederung‹ bezeichnet: Auf eine präliminale Phase der Ablösung von der Gesellschaft folgen eine liminale Phase des Abgesondertseins und eine postliminale Phase der Wiedereingliederung.6 Dabei führt der Bruch mit der Gesellschaft in der ersten Phase dazu, dass sich das In- dividuum in der zweiten Phase mit Zweifeln und Ungewissheiten auseinandersetzt und so in der dritten Phase eine neue Struktur mit neuer Sicherheit etabliert. In der Schwellensituation wird die gültige Ordnung außer Kraft gesetzt, bei der Rück- kehr in die Alltagswelt in modifizierter Weise wiederhergestellt. Entscheidend für Turners Modell sind somit seine Übergangszone und sein teleologisch-prozessualer Charakter.7 In der Literaturwissenschaft wurden Aspekte von Liminalität aufgegriffen, aber meist aus politisch-historischer Perspektive untersucht.8 Dies soll hier im Sinne des 2 Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten. Frankfurt am Main 1986; Victor W. Turner: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt am Main [u. a.] 1982; ders.: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt am Main 2000. Etymologisch leitet sich der Begriff von limen, lat. ›Türschwelle‹, ab. 3 Vgl. Turner 1982, 35. 4 Symbole können diesen Status zum Ausdruck bringen. Vgl. Turner 2000, 251. 5 Vgl. Turner 1982, 38 f. Die liminale Situation geht über ein Ritual hinaus: Während Rituale durch Wiederholung und Eindeutigkeit charakterisiert sind, erfahren die Initianden in der Schwellensituation, »daß sie das, was sie zu kennen glaubten, nicht kannten, daß unter der Oberflächenstruktur von Sitte und Brauch eine Tiefenstruktur verborgen [ist], deren Regeln sie durch Paradox und Schock zu erlernen« haben (Turner 1982, 64). 6 Vgl. dazu das Schema bei Rolf Parr: »Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwi- schenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft«. In: Achim Geisenhanslüke u. Georg Mein (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld 2008, 11–63, 21. 7 Weitere Formen, Liminalität zu denken, sind: (a) eine einfache, dauerhafte Grenze zwi- schen zwei Bereichen ohne Übergangszone, (b) eine einfache, dauerhafte Grenze mit Über- gangszone und (c) ein Modell mit Übergangszone ohne prozessuale Ausrichtung. Vgl. dazu Parr 2008, 47 f. 8 Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000 beschreibt postkoloniale Ent- grenzungen. Dieter Lamping: Über Grenzen. Eine literarische Topographie. Göttingen 2001

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