LIEBESWU¨NSCHE ALS LEBENSA¨NGSTE. ZU DIETER WELLERSHOFFS ROMAN DER LIEBESWUNSCH. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwu¨rde der Philologischen Fakult¨at der Albert-Ludwigs-Universit¨at Freiburg i. Br. vorgelegt von Elisabeth Hollerweger aus Ingolstadt SS 2004 2 . Erstgutachter: Prof. Dr. Carl Pietzcker Zweitgutachter: Prof. Dr. Gu¨nter Schnitzler Vorsitzender des Promotionsauschusses der Gemeinsamen Kommision der Philologischen, Philosophischen und Wirtschafts- und Verhaltenswissenschaftlichen Fakult¨at: Prof. Dr. Hermann Schwengel Datum der letzten Fachpru¨fung im Rigorosum: 14.12.2004 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 9 1.1 Themenstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.2 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.3 Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.4 Bisheriger Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2 Der Liebeswunsch- einfu¨hrende U¨berlegungen 29 2.1 Der erste Eindruck: ein Rauschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2 Erz¨ahlstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.2.1 Das Rauschen als Strukturmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.2.2 Der Strafprozess als Strukturmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.2.3 Der Heilungsprozess als Strukturmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.2.4 Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2.3 Tiefenpsychologische Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.3.1 Fritz Riemanns Grundformen der Angst“ . . . . . . . . . . . . . . 40 ” 2.3.2 Ju¨rg Willis Psychologie der Liebe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 ” 2.3.3 Theodor Reiks Von Liebe und Lust“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 ” 3 Der Wunsch nach Selbsthingabe: Anja 47 3.1 Literarische Repr¨asentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.1.1 Erz¨ahlperspektive und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.1.2 Metaphern, Bildfelder, Assoziationsbereiche . . . . . . . . . . . . . 50 3 4 INHALTSVERZEICHNIS 3.2 Psychologischer Deutungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3.2.1 Der Einfluss von Kindheitsmustern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.2.2 Anja und ihre Liebhaber: Liebe als Verletzungsgefahr . . . . . . . . 77 3.2.3 Anja und Leonhard: Liebe als einzige Zukunftsperspektive . . . . . 78 3.2.4 Anja und Paul: Liebe als Wahn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 3.2.5 Anjas Liebe als Weg in den Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3.3 Exkurs: Von der Skandal- zur Romanfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 4 Der Wunsch nach Best¨andigkeit: Leonhard 115 4.1 Literarische Repr¨asentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4.1.1 Erz¨ahlperspektive und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4.1.2 Metaphern, Bildfelder, Assoziationsbereiche . . . . . . . . . . . . . 116 4.2 Psychologischer Deutungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.2.1 Der Einfluss von Kindheitsmustern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 4.2.2 Leonhard und Marlene: Liebe versus Freundschaft . . . . . . . . . . 133 4.2.3 Leonhard und Anja: Liebe als Lebensstrategie . . . . . . . . . . . . 136 5 Der Wunsch nach Ver¨anderung: Paul 147 5.1 Literarische Repr¨asentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.1.1 Erz¨ahlperspektive und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 5.1.2 Metaphern, Bildfelder, Assoziationsbereiche . . . . . . . . . . . . . 148 5.2 Psychologischer Deutungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.2.1 Der Einfluss von Kindheitsmustern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 5.2.2 Paul und seine Liebschaften: L´amour pour l´amour . . . . . . . . 159 5.2.3 Marlene versus Anja: Zwei M¨oglichkeiten hysterischer“ Partnerwahl 163 ” 5.2.4 Paul und Leonhards Partnerinnen: Liebe als Rivalit¨atskampf . . . . 169 6 Der Wunsch nach Selbstwerdung: Marlene 173 6.1 Literarische Repr¨asentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 6.1.1 Erz¨ahlperspektive und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 INHALTSVERZEICHNIS 5 6.1.2 Metaphern, Bildfelder, Assoziationsbereiche . . . . . . . . . . . . . 175 6.2 Psychologischer Deutungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 6.2.1 Der Einfluss von Kindheitsmustern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 6.2.2 Marlene und Leonhard: Liebe als Basis fu¨r Freundschaft . . . . . . 188 6.2.3 Marlene und Paul: Liebe als Lebensbu¨ndnis . . . . . . . . . . . . . 193 7 Der Liebeswunsch in der Kritik 203 7.1 Das Rauschen der Pressestimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 7.2 Exkurs: Der Liebeswunsch als moderne Wahlverwandtschaften? . . . . . . 225 8 Resu¨mee 239 8.1 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 8.2 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 8.3 Der bleibende Eindruck: Es rauscht weiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 Bibliographie 245 Anhang 257 A Zeittafel zu Dieter Wellershoffs Leben und Werk 257 B Briefe von Dieter Wellershoff 261 6 INHALTSVERZEICHNIS Danke... Meinen Eltern fu¨r alles, was sie fu¨r mich getan und mit oder wegen mir durchgestanden haben, fu¨r ihre Rundum-Unterstu¨tzung, die mir das Tempo meines Studiums erm¨oglicht hat, sowie fu¨r ihre Scheidung, durch die sie sich selbst zu wesentlich kompetenteren Ge- spr¨achspartnern in Sachen Liebe entwickelt haben und durch die mein Horizont um viele interessante Menschen und Erfahrungen erweitert wurde, die ich keinesfalls missen m¨ochte. MeinenGeschwistern AndyundJuliafu¨rdiestetigeErinnerungdaran,dassmannieverges- sensollte,Kindzubleiben, dieimmer wieder exzessive Aktivierung meiner Lachmuskulatur sowie fu¨r das lebenserhaltende Gefu¨hl gebraucht zu werden. Meinem Glu¨cksbringer Florian Forster fu¨r die U¨berzeugung von und die Einfu¨hrung in LaTeX, die Einrichtung und Wartung meines treuesten Bettgenossen SCENIC Mobile 510 AGP, fu¨r seine langanhaltende beschwichtigende und sich selbst u¨ber mein Chaotentum hinwegsetzende Geduld, besonders aber fu¨r seinen Kampf um die Wiederentdeckung mei- nes Liebeswunsches“, Pink Floyds Wish you were here“... ” ” Meinem Sorgen- und Freudentelefon Ralf Zimmermann fu¨r seine Anteilnahme an s¨amtli- chen Hochs und Tiefs und die regelm¨aßige Ermutigung. Meiner Mitbewohnerin Christine und ihrem Sohn Bent Langner fu¨r das sch¨one Zusammen- leben,dasMusterbeispiel anpositiverLebensbew¨altigungunddenregelm¨aßigzwischenTu¨r undAngelstattfindendenamu¨santenAustausch desganznormalenAlltagswahnsinns sowie den unz¨ahligen bei uns ein- und ausgehenden Beziehungsgesch¨adigten fu¨r die zus¨atzliche Eweiterung meiner Vorstellungen vom Spielplatz Liebe. Meinem Beziehungsexperten Oliver Heilfu¨rendloseGespr¨ache, Spazierg¨angeundeineganz 7 8 INHALTSVERZEICHNIS besondere Sicht des Lebens und der Liebe. Meinem Dozenten Dr. Karl-Michael Schneider fu¨r seine bereitwillige Hilfe in allen wei- terfu¨hrenden Linguistik-, LaTeX- und schließlich auch Lebensfragen. Meinem Doktorvater Professor Carl Pietzcker und dem Doktorandenkolloquium fu¨r viele fruchtbare Diskussionen, hilfreiche Hinweise und produktive Krisen. Meiner Korrekturleserin Martina Großfu¨rihreprofessionelle Arbeit undihrekonstruktiven Verbesserungsvorschl¨age. Dieter Wellershoff fu¨r sein großartiges Werk, fu¨r faszinierende und schockierende Wieder- erkennungseffekte sowie fu¨r seine Offenheit und Kooperationsbereitschaft. Werner Jung fu¨r Rat und Kritik sowie die Zeit, die er sich dafu¨r genommen hat. Uta Biedermann aus dem Literaturarchiv K¨oln fu¨r ihre freundliche Hilfsbereitschaft, die die Recherchearbeit nicht nur leichter, sondern auch angenehmer gemacht hat. Allen, die daru¨ber hinaus w¨ahrend der oftmals schwierigen Zeit, die ich mit dieser Arbeit zugebracht habe, offene Ohren und Tu¨ren fu¨r mich hatten: Florian Doering, Christia- ne Ipsen, Kristina Kraft, Barbara Lechtreck, Ortwin Leiber, Karin P¨ochtrager, Johannes Reinhardt, Christian R¨osener, J¨org Stech, Anne Weber, Tanja Wilde. Ich entschuldige mich bei all jenen, die ich vergessen habe. Endlich Abschied nehmen m¨ochte ich in diesem Zusammenhang von S. K.-B., der mit ihm durchlebten Extremerfahrung Liebe und dem tiefen daraus hervorgegangenen Schmerz, ohne den diese Arbeit nie zustande gekommen w¨are, die doch letztlich nicht nur die lite- raturwissenschaftliche Erkenntnis, sondern zum großen Teil auch die Ann¨aherung an die Selbsterkenntnis zum Ziel hatte. In diesem Sinne widme ich diese Arbeit allen Liebenden. Kapitel 1 Einleitung 1.1 Themenstellung Liebe beschreibt Dieter Wellershoff als die Glu¨ckssuche des Menschen in einer transzen- ” denzlosen Welt, in der ‘Selbstverwirklichung’ hier und jetzt das zentrale Lebensmotiv von immer mehr Menschen geworden ist, die sich in der Verschiedenheit ihrer Vorgeschichten und ihrer Charaktere begegnen und sich darum bemu¨hen, ihre jeweiligen Lebensvorstel- lungen und Liebeswu¨nsche zu vereinen“.1 Im Werk des K¨olner Autors, das in der 1996 edierten Gesamtausgabe neben dem breiten literaturtheoretischen Œuvre elf H¨orspiele, fu¨nf Drehbu¨cher, eine Multi-Media-Oper, 43 Gedichte, zwanzig Erz¨ahlungen, zwei Novellen und fu¨nf Romane umfasst, nimmt dieses von Irrtu¨mern und Illusionen bedrohte Projekt“2 ” einen wichtigen Stellenwert ein. Bereits anhand der fru¨hesten H¨orspiele Wellershoffs stellt Keith Bullivant fest: Das Verh¨altnis Mann - Frau,als eine besonders problematische inter- ” personelle Beziehung, [...] k¨onnte man als ureigenste Thematik der H¨orspiele Wellershoffs bezeichnen.“3 Dass diese Beobachtung nicht auf die H¨orspiele zu beschr¨anken ist, macht ein gattungsu¨bergreifender Blick auf das literarische Werk des K¨olner Autors deutlich: 1 Dieter Wellershoff am 7.2.2003 in einem Brief an mich. 2 Ebd.. 3 KeithBullivant: H¨orspielalsLaienanalyse.“ In:Der Schriftsteller Dieter Wellershoff. Hrsg.:R.Hinton ” Thomas. K¨oln 1975. S.99. 9 10 KAPITEL 1. EINLEITUNG In dem Band Doppelt belichtetes Seest¨uck und andere Texte4 hat Wellershoff eine einzige ” Geschichte, die, die am schwersten zu erz¨ahlen ist“,5 n¨amlich seine eigene, aus verschie- denen Perspektiven beleuchtet. Den Kernpunkt all dieser Texte bildet eine Krise in der ” Lebensmitte“,6 die sich in unterschiedlich ausagierten Beziehungskonflikten des Protago- nisten manifestiert. Den Klartext der Krise“7 liefern vor allem die Erz¨ahlungen. W¨ahrend ” von 1960 und Wiederkommen von 1970 vermitteln den inneren Stillstand des Erz¨ahlers in der Routine seiner Ehe, der fu¨r ihn w¨ahrend gemeinsamer Urlaube zunehmend zur existen- tiellen Bedrohung wird. Doppelt belichtetes Seest¨uck von 1973 behandelt die Zerrissenheit des Protagonisten, der mit seiner Frau nach seinem zwischenzeitlichen Ausbruch aus der Ehe an den Ort reist, an dem er sich ein Jahr vorher von seiner Geliebten getrennt hatte. Ein Gedicht von der Freiheit von 1974 fu¨hrt diese Vorgeschichte n¨aher aus, wobei die un- gekl¨arte Beziehung des hier in Ichform sprechenden Erz¨ahlers zu einer dritten Frau in das Zentrum des Geschehens ru¨ckt. DieHandlungselemente Stagnation-Fluchtversuch -innereSpaltung-Ru¨ckkehr“, diesich ” durch die Verbindung dieser vier Erz¨ahlungen zu Bestandteilen jener einzigen Geschich- ” te“ zusammenfu¨gen, bestimmen auch das Geschehen der beiden Wellershoffschen Novellen. Anders als in den fru¨hen Erz¨ahlungen gestaltet der Autor hier keine fiktional-realen, son- dern imagin¨are Beziehungsszenarien. Der Akzent liegt vornehmlich auf dem als mythisch gestalteten Aspekt der Verfu¨hrung, der in Die Sirene8 in einem vagen Stimmenzauber“ ” undinZikadengeschrei9 inder Begegnungmit derMedusa“10 besteht. Abgesehen vondem ” Unterschied zwischen auditiver und visueller Wahrnehmung werden die Protagonisten bei- der Novellen in einer Situation innerer Unzufriedenheit von fremden Frauen in einen Sog hineingezogen, dem sie letztlich nur durch die Ru¨ckkehr in die Alltagswirklichkeit ihrer 4 Dieter Wellershoff: Doppelt belichtetes Seest¨uck und andere Texte. K¨oln 1974. 5 Ebd., S.7. 6 PeterDettmering: EineKriseinderLebensmitte“.In:Praxis derPsychotherapie: OrganderDeutschen ” Gesellschaft f¨ur ¨arztliche Hypnose. Jahrgang 22, 1977. S.225. 7 Katharina Rutschky/Michael Rutschky: Zum Ende der Emanzipationsperiode“. In: Frankfurter Hefte ” Jahrgang 30, H3, 1975. S.66. 8 Dieter Wellershoff: Die Sirene. K¨oln 1980. 9 Dieter Wellershoff: Zikadengeschrei. K¨oln 1995. 10 Dieter Wellershoff:Das Schimmern der Schlangenhaut. Frankfurt1996.S.131.Auchin: Werke5.S.884.
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