Lebensreform und Ku¨nstlergruppierungen um 1900 Dissertation zur Erlangung der Wu¨rde einer Doktorin der Philosophie vorgelegt der Philosophisch-Historischen Fakult¨at der Universit¨at Basel von Renate Foitzik Kirchgraber von Eschwege/Deutschland Zu¨rich 2003 Genehmigt von der Philosophisch-Historischen Fakult¨at der Universit¨at Ba- sel, auf Antrag von Herrn Professor Dr. G. Boehm (Referent) und Frau Pro- fessor Dr. Gabriele Brandstetter (Korreferentin). Basel, den 30. 1. 2003 Der Dekan Prof. Dr. Andreas Guski Inhaltsverzeichnis Einfu¨hrung 1 Lebensreform und Ku¨nstlergruppierungen: Forschungsstand 13 2 Lebensreform 27 2.1 Was heisst Lebensreform? . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.1.1 Kleiderreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2.1.2 Freik¨orperkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.1.3 Natur- und Landschaftsschutz . . . . . . . . . 32 2.1.4 Heimatbewegung und Heimatliteratur . . . . 33 2.1.5 Die Maler Karl Wilhelm Diefenbach und “Fi- dus” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.2 Die Lebensreformerkolonie Monte Verit`a . . . . . . 38 3 Wirkungen der Reformen auf die bildenden Ku¨nstler 45 3.1 Die Jugend formiert sich . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3.2 Abkehr von der Ausbildung an den Akademien . . . 47 3.3 Ku¨nstlergruppierungen und ihre Manifeste . . . . . 51 3.3.1 Die Ku¨nstlervereinigung Worpswede . . . . . 53 3.3.2 Die Ku¨nstlergruppe “Bru¨cke” . . . . . . . . . 54 3.3.3 Die Ku¨nstlergruppierung “Der Blaue Reiter” 56 3.3.4 DADA in Zu¨rich . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.3.5 Ku¨nstler am Staatlichen Bauhaus in Weimar 60 3.4 Lebenskonzept: Kunst und Natur . . . . . . . . . . . 63 3.5 Lebenskonzept: Boh`eme . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 4 Spiegelungen reformerischer Elemente in der Malerei 69 4.1 Auf der Suche nach dem Paradiesischen . . . . . . . 71 4.1.1 In Einfachheit und Schlichtheit - Worpswede 72 3 4 INHALTSVERZEICHNIS 4.1.2 Mensch undNatur bei PaulaBecker-Modersohn 79 4.1.3 Naturbilder der Ku¨nstlergruppe “Bru¨cke” . 83 4.1.4 Natursichtder Ku¨nstlergruppierung “DerBlaue Reiter” . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4.2 Urbane Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4.2.1 Lebensalltag in den Atelierwohnungen . . . . 99 4.2.2 Dynamik des Grossstadtlebens bei ErnstLud- wig Kirchner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5 Atelierwohnungen als Inszenierung zu Anfang des 20. Jahr- hunderts 107 5.1 Heinrich Vogeler in Worpswede . . . . . . . . . . . . 108 5.2 Peter Behrens in Darmstadt . . . . . . . . . . . . . . 113 5.3 Mu¨nter und Kandinsky in Murnau . . . . . . . . . . 117 5.4 Ernst Ludwig Kirchner in Dresden und Berlin . . . 122 5.4.1 Kirchners Atelierwohnungen in Dresden . . 125 5.4.2 Kirchner in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . 164 5.5 Das Bauhaus in Weimar . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 6 Tanz als ikonographisches Sujet 177 6.1 Bilder vom Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 6.1.1 Von Toulouse-Lautrec bis Kirchner . . . . . . 179 6.1.2 DieWigman und diePaluccain WerkenKirch- ners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 6.2 Reformimpulse fu¨r den Tanz . . . . . . . . . . . . . . 194 6.2.1 Die Rolle von Musik und Sprache . . . . . . 196 6.2.2 Neue Tanzorte: Natur, Museum, antike Ruinen 199 6.2.3 Die Entstehung von Tanzschulen . . . . . . . 205 6.3 Tanzende Malerinnen und Maler . . . . . . . . . . . 207 6.4 Tanz als Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 6.4.1 Totentanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 6.4.2 “Tanze, tanze, meine sp¨ate Liebe” . . . . . . 214 6.4.3 Tanz der Salome . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 7 Neue Tendenzen in Literatur und Musik 219 7.1 Literaten bringen es auf den Punkt . . . . . . . . . . 219 7.2 Die Musik sprengt den bisher gu¨ltigen Rahmen . . 222 INHALTSVERZEICHNIS 5 8 Lebensreformimpuls - Ku¨nstlerische Antwort: Ergebnisse 225 8.1 Ganzheitliche Sichtweise der Ku¨nste . . . . . . . . . 226 8.2 Lebensreformimpuls - Ku¨nstlerische Antwort . . . . 230 8.3 Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Abbildungsverzeichnis 242 Literaturverzeichnis 253 6 INHALTSVERZEICHNIS Vorwort Im Jahre 1988 schrieb ich an der Julius-Maximilians-Universit¨at Wu¨rzburg meine Magisterarbeit bei Professor Dr. Joachim Poeschke u¨ber “Die Chrono- logie der fru¨hen Gem¨alde E.L. Kirchners.” Seit dieser Zeit befasse ich mich mit dem Werk des expressionistischen Malers. Zun¨achst arbeitete ich unter der Leitung von Professor Dr. Franz Zelger, Universit¨at Zu¨rich, u¨ber Ernst LudwigKirchnersAtelierwohnungeninDresdenundBerlin.MitdemWechsel zuProfessorDr.GottfriedBoehm,Kunsthistorisches Seminar derUniversit¨at Basel, erweiterte sich der Ansatz auf die Auswirkungen der Lebensreform um 1900 auf mehrere Ku¨nstlergruppierungen. Ich danke Herrn Professor Boehm fu¨r die Vergabe des Themas und die ausserordentlich motivierende Betreuung der Arbeit. Frau Professor Dr. Ga- briele Brandstetter, Deutsches Seminar der Universit¨at Basel, danke ich fu¨r Anregungen zum Thema Tanz und die U¨bernahme des Korreferats. Herrn Dr. Claus Volkenandt, Universit¨at Basel, danke ich fu¨r einen wichtigen Lite- raturhinweis und hilfreiche Gespr¨ache. In interessanten Diskussionen habe ich viele Anregungen erfahren von der damaligen Kuratorin im Kirchner Museum Davos, Frau Dr. Gabriele Loh- berg, von Herrn Dr. Hans Bolliger, Zu¨rich, von Herrn Dr. Eberhard Korn- feld, Bern und Davos, von dem Experten fu¨r afrikanische Kunst Herrn Dr. Homberger, Museum Rietberg, Zu¨rich, von Herrn Dr. Beat Stutzer, Bu¨nd- ner Kunstmuseum, Chur, und von Herrn Dr. Gu¨nter Kru¨ger, Berlin. Ihnen allen sage ich vielmals Dank. In pers¨onlichen Gespr¨achen mit Frau Dr. Jo- hanna Morel von Schulthess, Ru¨schlikon, FrauDr.Claudia Bertling Biaggini, Zu¨rich, und Frau Isabel Zu¨rcher, Basel, wurde ich ermutigt, u¨ber den Auf- bruch der jungen Ku¨nstler im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts weiter zu arbeiten. DieArbeit wurde von Frau Felizitas Ammann und meinem Bruder, Herrn Helmut Beyersd¨orfer, aufmerksam gelesen. Auch dafu¨r danke ich sehr. Ich 7 8 INHALTSVERZEICHNIS widme diese Arbeit meinem Mann, Herrn Urs Kirchgraber, der mich stets ermutigte, dieses Projekt zu Ende zu fu¨hren. Einfu¨hrung Am Ende des 19. Jahrhunderts entstehen Reformbewegungen, die fast alle Bereiche des Lebens beru¨hren. Sie werden heute als “Lebensreform” bezeich- net. Einerseits basieren sie auf Entwicklungen des zu Ende gehenden 19. 1 Jahrhunderts, andererseits erwachsen sie aus einer Zivilisationskritik, die 2 wegen der Lebensbedingungen der Bu¨rger im wilhelminischen Kaiserreich entsteht. Kritisiert werden zum Beispiel die schwierigen sozialen Verh¨altnis- se in den rasch wachsenden Grossst¨adten, die Zerst¨orung der Natur durch die immer grossr¨aumiger um sich greifenden Industrieanlagen und anderes mehr. 3 Seit der Industrialisierung setzt ein wirtschaftlicher Aufschwung ein, der sei- ne Schattenseiten hat. Sie werden als bedrohlich empfunden. Erkenntnisse in den Naturwissenschaften bringen neue Entdeckungen und setzen Entwick- lungen in Gang, die das Weltbild ver¨andern. Auf dem Hintergrund dieser Bewegungen und des damit verbundenen Aufbruchs schliessen sich jungeKu¨nstler -Maler, Bildhauer,Architekten und T¨anzer - zu Ku¨nstlergruppierungen zusammen. Sie formulieren ihre Ziele in Manifesten und Leits¨atzen. Parallel zur Kritik an den Lebensumst¨anden in weiten Kreisen entwerfen sie ihre Visionen einer zuku¨nftigen Kunst. Die Ku¨nstler wenden sich in radikaler Weise gegen die bisherige akade- mische Ausbildung an den Kunstschulen. Zu lebensfern erscheint sie ihnen. Sie kritisieren die Bedeutung des Traditionellen in der Kunst, die sich etwa 1Aus England kommt zum Beispiel die Sportbewegung. Damit verbunden ist der Ge- brauchvonneuartigerBekleidung.EineEntwicklungsetztein,diezurKleiderreformfu¨hrt. 2Wilhelm I regiert als Deutscher Kaiser von 1871-1888.Sein Enkel Wilhelm II amtiert nachkurzerRegierungszeitseinesVaters,FriedrichIII,alsDeutscherKaiserbiszumEnde des Ersten Weltkrieges 1918. Diese A¨ra wird als “Wilhelminische Kaiserzeit” bezeichnet. 3DieIndustrialisierungkommtvonEnglandAnfangdes19.JahrhundertsnachDeutsch- land.HandwerkerarbeitwirddurchMaschinenarbeitersetzt,umeine gr¨ossereEffizienzzu erreichen. 9 10 INHALTSVERZEICHNIS 4 im Historismus zeigt. Sie wollen die Kunst n¨aher an das Leben heranfu¨hren. Die Dynamik des Grossstadtlebens fasziniert sie. Sie entwickeln neuartige 5 Lebenskonzepte, etwa das der Boh`eme in der Grossstadt. Andere Ku¨nstler suchen das unmittelbare Leben und arbeiten inmitten von bodenst¨andigen Menschen in der Naturlandschaft. Natur und Religiosit¨at sind ihre Leitbil- 6 der. Die neuentstehenden Lebenskonzepte mu¨ssen als Schubkraft fu¨r die Ent- faltung der modernen Kunst angesehen werden. Sie bewirken gravierende Ver¨anderungen, die als Bausteine der Moderne gelten. Es stellt sich die Frage, inwieweit der Einfluss lebensreformerischer Be- wegungen bei der Entwicklung von ungew¨ohnlichen Lebenskonzepten in den Ku¨nstlergruppierungen beteiligt ist und ob sich dieser Einfluss im Werk der Ku¨nstler nachweisen l¨asst. Dieser Problemstellung wird hier nachgegangen mit dem Ziel, die Beziehungen zwischen Lebensreform und Ku¨nstlergruppie- rungen um1900zuuntersuchen. FolgendeFragestellungen liegen demAnsatz zugrunde: • Warum entstehen gerade um 1900 so viele Ku¨nstlergruppierungen? • Welche Wirkungen haben die reformerischen Impulse auf die Ku¨nstler? • Wie spiegeln sich reformerische Elemente im Werk? Indeninder Literaturgenannten Untersuchungen zuKu¨nstlergruppierungen wurde diesen Fragen bisher wenig Beachtung geschenkt. Die vorliegende Un- tersuchung umfasst einen Zeitraum von ungef¨ahr 25 Jahren ab 1895 bis 1920. VonderKu¨nstlervereinigung Worpswede biszur erstenmodernenKunstschu- le, dem Bauhaus in Weimar, hat sich eine rasante Entwicklung vollzogen. Sie beginnt mit einem Ku¨nstlerfreundeskreis und fu¨hrt bis zur Institutionalisie- rung einer Schule. 4Der Historismus bezieht sich auf fru¨here Stilepochen und bringt eine Neuauflage, et- wa die Neo-Gotik. Hofmann beschreibt in seinem 1974 erschienenen Buch “Das Irdische Paradies. Motive und Ideen des 19. Jahrhunderts” unter anderem u¨berzeugend, wie die Abl¨osung vom Historismus bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts beginnt. 5Die Ku¨nstlergruppe “Bru¨cke”etwa schliesst sich 1905 in Dresden zusammen und ar- beitet ab 1911 in Berlin. Mit dem Lebensstil der Mitglieder als Boh`emien haben sich in der Forschung J¨ahner, Horst, Ketterer, Roman Norbert, Kornfeld, Eberhard und andere befasst. 6Die Ku¨nstlervereinigungWorpswedeisteine fru¨he Gruppierung,die ab1895inmitten der Natur fu¨r ihre Vision voneiner engstenVerknu¨pfung zwischenNatur und Kunst lebt.
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