Marcus Balzereit Kritik der Angst Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit Band 6 Herausgegeben von: Roland Anhorn Frank Bettinger Henning Schmidt-Semisch Johannes Stehr In der Reihe erscheinen Beiträge, deren Anliegen es ist, eine Perspektive kritischer Sozialer Arbeit zu entwickeln bzw. einzunehmen. „Kritische Soziale Arbeit“ ist als ein Projekt zu verstehen, in dem es darum geht, den Gegenstand und die Aufgaben Sozialer Arbeit eigen- ständig zu benennen und Soziale Arbeit in den gesellschaftspolitischen Kontext von sozialer Ungleichheit und sozialer Ausschließung zu stellen. In der theoretischen Ausrichtung wie auch im praktischen Handeln steht eine kritische Soziale Arbeit vor der Aufgabe, sich selbst in diesem Kontext zu begreifen und die eigenen Macht-, Herrschafts- und Ausschließungs- anteile zu reflektieren. Die Beiträge in dieser Reihe orientieren sich an der Analyse und Kritik ordnungstheoretischer Entwürfe und ordnungspolitischer Problemlösungen – mit der Zielsetzung, unterdrückende, ausschließende und verdinglichende Diskurse und Praktiken gegen eine reflexive Soziale Arbeit auszutauschen, die sich der Widersprüche ihrer Praxis bewusst ist, diese benennt und nach Wegen sucht, innerhalb dieser Widersprüche das eigene Handeln auf die Ermöglichung einer autonomen Lebenspraxis der Subjekte zu orientieren. Marcus Balzereit Kritik der Angst Zur Bedeutung von Konzepten der Angst für eine reflexive Soziale Arbeit Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werkeinschließlichallerseiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesond ere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei- cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16598-1 Inhalt Vorwort................................................................................................................. 9 Einleitung .......................................................................................................... 11 „Die Angst“ – zur Aufgabe der Pädagogik ................................................ 17 1 Von der Schwierigkeit der Bedeutung oder: Zur Etikettierungsperspektive und deren Relevanz für die vorliegende Arbeit .......................................................................... 19 1.1 Voraussetzung: Erfahrung ................................................................. 19 1.2 Folge I: Erste Fragen .......................................................................... 19 1.3 Folge II: Reflexion und Theorie – Erörterung der Etikettierungsperspektive ................................................................... 21 1.3.1 Ein kurzer Überblick ............................................................ 21 1.3.2 Zu den Grundlagen der Etikettierungs- perspektive und ihrer Relevanz für die Analyse des Wissens über Ängste ......................................... 23 1.3.3 Zur Dimension der Definition und deren Inhalt ................... 26 1.3.4 Zur Dimension der Macht .................................................... 30 1.4 Ein erster Schluss ............................................................................... 33 2 Von der Schwierigkeit professioneller Standards in der Sozialen Arbeit................................................................ 35 3 Von der Schwierigkeit eines angemessenen Begriffs der Gesellschaft oder: Zum Konzept der sozialen Ausschließung .......... 41 3.1 Einleitung ........................................................................................... 41 3.2 Zur Auseinandersetzung um „soziale Ausschließung“ ....................... 42 3.2.1 Zur Entdeckung des Begriffs der „sozialen Ausschließung“ ............................................. 42 3.2.2 Zu den (mindestens) zwei Varianten, „soziale Ausschließung“ zu denken ...................................... 43 3.2.3 Sozialer Ausschluss – zur Bedingung von Erwerbsarbeit ... 47 3.2.4 Selektion – zur Funktion von Schule ................................... 51 3.2.5 Zur professionellen Ideologie der Sozialarbeit und einem kritischen Konzept von sozialer Ausschließung ........ 55 3.2.6 Schluss ................................................................................. 57 6 Kritik der Angst 4 Zur Bedeutung der Unterscheidung von Angst und Furcht im Alltagswissen und in Angeboten der Philosophie .................. 59 4.1 Einleitung ........................................................................................... 59 4.2 Angst und Furcht im Alltagsverständnis ............................................ 59 4.3 „Die Angst“ bei Sören Kierkegaard ................................................... 63 4.4 „Die Angst“ bei Martin Heidegger .................................................... 73 4.5 „Die Angst“ bei Ernst Bloch .............................................................. 77 4.6 Fazit ................................................................................................... 80 5 Zur Enteignung philosophischer Konzepte „der Angst“ durch psychologische Theoriebildung .................................. 83 5.1 Sigmund Freud, die Psychoanalyse und „die Angst“ ......................... 84 5.1.1 „Die Angst“, die eine „Neurose“ sei, in Freuds früher Angsttheorie .............................................. 86 5.1.2 „Die Angst“, die eine „Neurose“ sei, in Freuds später Angsttheorie ............................................... 91 5.1.3 Zur Bestimmung des Unbestimmten „der Angst“ bei Freud ........................................................... 96 5.1.4 Zur Unterscheidung von Angst und Furcht bei Freud im Vergleich zu Kierkegaard, Heidegger und Bloch .... 97 5.1.5 Zur Bestimmung „der Angst“ in „Das Unbehagen in der Kultur“ ....................................... 98 5.1.6 Zur Bestimmung der vier Merkmale „der Angst“ bei Freud ......................................................... 104 5.2 „Die Angst“ bei Dieter Duhm .......................................................... 105 5.3 „Die Angst“ bei Holger Bertrand Flöttmann ................................... 111 5.4 „Die Angst“ bei Fritz Riemann ........................................................ 114 5.5 John Broadus Watson, der Behaviorismus und „die Angst“ ............ 118 5.5.1 „Die Angst“, die eine „Störung“ sei, im Behaviorismus .... 119 5.5.2 Zum Begriff der „operanten Konditionierung“ bei Burrhus Frederic Skinner und dessen Nicht-Bezug zu einem Willen ................................ 123 5.5.3 Zur Kritik am Behaviorismus ............................................ 125 5.6 „Die Angst“, die eine „Störung“ sei, im DSM-IV ........................... 128 5.7 „Die Angst“ in der Verhaltenstherapie am Beispiel der „Sozialen Phobie“ bei Stangier/Heidenreich/Peitz und der „sozialen Unsicherheit“ bei Petermann/Petermann ............. 139 5.7.1 Zu den Gegenmitteln gegen „die Angst“, die eine „Störung“ sei .................................... 147 Inhalt 7 6 „Die Angst“ in Ratgebern ......................................................................... 155 6.1 Einleitung ......................................................................................... 155 6.2 Welchen Rat man von einem Ratgeber (nicht) erwarten kann ...... 155 6.3 „Die Angst“, die zu „überwinden“ sei ............................................. 158 6.4 „Die Angst“, „die Anpassung“ und „das Glück“ ............................. 159 6.5 Zur Diskussion der Elternratgeber über „die Angst“ ....................... 163 6.5.1 Zum Suchen und Finden der Untersuchungsgegenstände .......................................... 165 6.5.2 Zum Bild des sich-ängstigenden Kindes – oder: Zum Zusammenhang von Angst und blonden Haaren ............... 168 6.5.3 Eine Typisierung der Eltern-Ratgeber zu „der Angst“....... 172 6.5.4 Die Vertreterinnen dieser drei Typen im Vergleich ........... 176 6.5.5 Die Ratgeber im direkten Vergleich .................................. 179 7 Resümee ..................................................................................................... 205 7.1 Einleitung ......................................................................................... 205 7.2 Rückblick ......................................................................................... 206 7.3 Schluss ............................................................................................. 213 7.3.1 „Die Angst“ als Aufgabe für Pädagogik und Soziale Arbeit ...................................... 214 Literatur .......................................................................................................... 221 Vorwort Im vorliegenden Buch, hervorgegangen aus meiner Dissertation im Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Frankfurt, habe ich den Versuch un- ternommen, zurückzutreten und zu jenem eigentlich ganz und gar körper-nahen Thema Angst einmal weitgehend auf Distanz zu gehen. In der Folge können die verschiedenen Wissensangebote zu diesem Thema und deren jeweilige Prämis- sen und Folgen in den Blick geraten, können diese nachgedacht und auf ihren jeweiligen Nutzen hin geprüft werden. Die zu Tage geförderten unterschiedlichen Prämissen und Folgen sind es, die diese Untersuchung für die Arbeit in sozial-pädagogischen Berufsfeldern und für die Sozialarbeit, also für die Arbeit am Sozialen, gleichermaßen relevant machen. Angst kann in allen diesen Feldern ein Thema sein. Und weil diese Arbeitsfelder, weil institutionelle Erziehung, Sozialpädagogik und Sozialarbeit in der Praxis oft nicht mehr voneinander zu trennen sind, weil also die eine Tätig- keit, das eine Feld, in das andere übergeht, werden diese unterschiedlichen Be- griffe in dieser Untersuchung synonym gebraucht bzw. nicht streng voneinander geschieden. Mit der theoretischen Besinnung auf ein kritisches Konzept sozialer Aus- schließung einerseits und auf die Etikettierungsperspektive andererseits als zwei bedeutende Grundlagen reflexiver Sozialer Arbeit und Sozialpädagogik (vgl. Keckeisen 1974; Anhorn, Bettinger, Stehr 2008) erhält diese Untersuchung aber dennoch vor allem für die Praxis innerhalb der Berufsfelder der Sozialen Arbeit ihre besondere Bedeutung. Die dort tätigen Expertinnen und Experten für soziale Interaktionen und Situationen erhalten mit dieser Untersuchung ein Wissen an die Hand, das geeignet sein kann, einen weiteren dieser Arbeit zugrundeliegen- den Anspruch einzulösen. Es gilt demnach das Wissen über Erziehung, Soziale Arbeit, Sozialpädagogik und insbesondere das Wissen über „abweichende Per- sonen“ (und somit auch das Wissen über Angst), statt es als unverrückbare Wahrheit zu glauben, als Wissen zu wissen. Auf dieser Grundlage können Wis- sensangebote analysiert und auf ihre Folgen hin geprüft werden. Der in der Pra- xis Tätige, der nicht (mehr) an das Wissen über Erziehung und auch nicht (mehr) an das Wissen über Gefühle glaubt, kann und muss in der Folge selbst entschei- den, für welches Wissen (also für welche Prämissen und Folgen, Folgen auch und gerade für seine Klientinnen und Klienten) er sich entscheidet. Ich hoffe, dass in Bezug auf Angst die vorliegende Arbeit diesbezüglich eine Hilfe sein kann. 10 Kritik der Angst Um Zurücktreten zu können, bedarf es unverstellter Räume. Danken möchte ich daher ganz herzlich jenen, die mich schon immer darin unterstützt haben, solche Räume zu finden, und, auch gemeinsam mit ihnen, zu nutzen. Bedanken möchte ich mich daher ganz besonders und zuallererst bei Christa Balzereit. Ein herzli- ches Dankeschön auch an Günter Balzereit, Antje Goy, Heike Wolf und Jörg Wolf. Für die konkrete Unterstützung an meiner Arbeit und Veröffentlichung, und für zahllose hilfreiche Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge, bedanke ich mich bei Roland Anhorn, Simone Benz, Kristina Hambach, Michael May, Till Münzberg, Gerold Scholz und bei Johannes Stehr. Und ein ganz besonderer Dank für beides, Raum und Verbesserung, an Helga Cremer-Schäfer. Einleitung „Die Angst kennt jeder“. Das ist eine erste Behauptung, wie sie so oder so ähn- lich noch zu Beginn fast eines jeden Beitrags zum Thema zu lesen ist.1 Noch bevor die jeweiligen Autorinnen und Autoren ihre Leserinnen und Leser mit der näheren Ausführung dessen vertraut gemacht haben, was denn nun genau „die Angst“ bestimme und wie diese auszudifferenzieren ist, bevor diese ihren Lese- rinnen und Lesern also versucht haben beizubringen, was denn „die Angst“ aus- macht, wird bereits eine Übereinstimmung in der Kenntnis der Sache vorausge- setzt.2 Mit ihrem Wissen über „die Angst“ zielen die Autorinnen und Autoren in der Folge daher auch konsequent auf eine allgemeine Gültigkeit und Anerken- nung ihrer jeweiligen Wissensangebote ab. Und in dem Maße, wie behauptet wird, dass ein Thema behandelt wird, das jedem geläufig sei, und das, in dieser so besprochenen Form, zumindest ähnlich, auch jeden beträfe, sollen diesem Wissen auch Aussagen entnommen werden können, dahingehend, was „der Mensch“ ist, und wie dieser seine Angst, die jedermanns Angst ist, zu deuten hat. Getroffen werden solche Aussagen vor einer Beschäftigung mit konkreten Sich- Ängstigenden, vor einer Beschäftigung mit ihren jeweiligen Interessen und ihren jeweiligen Situationen. Und doch soll hierüber jeweils etwas Gültiges ausgesagt 1 Einige Sätze diesbezüglich seien zur Illustration dieser Aussage im Folgenden aufgeführt: „Die Angst selbst brauche ich Ihnen ja nicht vorzustellen; jeder von uns hat die Empfindung, oder richtiger gesagt, diesen Affektzustand irgend einmal aus eigenem kennengelernt“ (Freud 1916- 1917: 407). „Jeder kennt Angst. Manchmal lässt sie einen nachts jäh aufschrecken“ (Schmidt- Traub 2001: 15). „Es gibt wohl kaum ein Kind, das nicht von gewissen Ängsten heimgesucht wird“ (Zullinger 1966/1993: 7). „Ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, Angst gehört zu den natürlichen emotionalen Phänomenen, die menschliches Leben begleiten“ (Ennulat 2001: 9). „Angst haben wir alle. Sie gehört zu unserem Leben“ (Niederle 2000: 7). „Jedes Kind hat zuwei- len Angst. Das ist ganz normal“ (Stein 1996: 7). Die logische Konsequenz aus einer jeweiligen solchen ersten Annahme wird von den Autoren und Autorinnen allerdings nicht gezogen. Statt nämlich dann über Möglichkeiten der Auseinan- dersetzung über dieses „allseits bekannte“ Thema nachzudenken, oder gar die Erörterung an die- sem Punkt wieder zu beenden, folgt von ihrer Seite stattdessen immer zunächst doch eine oft sehr ausführlich vorgenommene Klärung dieses eben noch als „bekannt“ vorgestellten Gegens- tands. 2 In dieser Arbeit wird erst wieder im Resümee auf eine sprachliche Nennung beider Geschlechter – immer dann also, wenn sowohl Frauen als auch Männer gemeint sind – Rücksicht genommen. Für die übrigen Kapitel gilt, dass in den Kapiteln 1, 3, 4 und 5 immer die männliche Form be- nutzt wird und Frauen mitgemeint sind. In den Kapiteln 2 und 6 hingegen ist es, aus Gründen der geschlechtergerechten Sprache, umgekehrt, hier wird immer die weibliche Form bemüht und Männer sind mitgemeint. Eine solche Vorgehensweise dient dem besseren Lesefluss und kann, in dem Maße, wie sie irritiert, auch auf das zugrundeliegende Thema der Nichtidentität von Wis- sen und Gestalt selbst, siehe hierzu Kapitel 1 und 2, verweisen.
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