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Konstitutionelle Verstimmung und manisch-depressives Irresein: Klinische Untersuchungen über den Zusammenhang von Veranlagung und Psychose PDF

287 Pages·1910·16.174 MB·German
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J{onstitutionelle Verstimmu11g und maniscl1-depressives Irresein Klinische Untersuchungen über den Zusammenhang von Veranlagung und Psychose Von Privatdozent Dr. Eduard Reiss Oberarzt an der Kgl. Universitätsklinik für Gemüts· und Nervenkrankheiten zn Tübingen Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH 1910 ISBN 978-3-662-32009-9 ISBN 978-3-662-32836-1 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-32836-1 Inhaltsü hersieht: Seite Einleitung. Yeranlassung zur Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Der heutige Stand der Frage vom manisch-depressiven Irresein . 8 Die Bedeutung persönlicher Eigenart für die affektiven Psychosen 21 )lethodik . . . . . . . . . . . . 37 Kran kengesc hic h ten. A. Die konstitutionelle Verstimmung 42 B. Die Depressionen auf konstitutionellem Boden l. Die rein reaktiven Formen . . . . 68 2. Depressionen nach Anlaß mit protrahiertem Verlaufe 79 3. Depressionen nach Anlaß bei Kranken mit ausgesprochenen endo- genen Schwankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4. Konstitutionell depressive Kranke mit endogenen Verstimmungs- zuständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5. Endogene Depressionen des Rückbildungsalters auf dem Boden konstitutioneller Verstimmung . . . . . . . . . . . • . . . . 126 6. Änderungen im Dauerzustande bei schweren Formen konstitutionell depressiver Veranlagung . . . . . . . . . . . . . . . 133 C. Die Depressionszustände von hysterischem Gepräge . . . . 142 Anhang: Die hysterieformen Depressionen des Präseniums 162 D. Die zirkulären Erkrankungen l. Die echten zirkulären Formen . . . . . . . . . . . . 169 2. Zirkuläre Erkrankungen bei hypomanischem Temperamente 178 3. Zirkuläre Erkrankungen bei anscheinend normaler Gemütsveran lagung a) Bei ruhigem, heiterem Temperamente . . . . . . . 190 b) Bei stillem, ernstem Temperamente . . . . . . . . 197 4. Zirkuläre Erkrankungen bei psychogener Veranlagung . 206 5. Zirkuläre Erkrankungen bei konstitutionell Depressiven 217 a) Depressionen mit anschließenden Hypomanien . . . 217 b) Konstitutionell Depressive mit zyklothymen Schwankungen 226 c) Konstitutionell Depressive mit schweren manischen Erkran- kungen ........................ 233 6. Kranke mit heiterer Veranlagung, die im späteren Leben dauernd depressiv bleiben . . . . . . . . 242 Ergebnisse. Die Pnmöglichkeit scharfer Abgrenzungen 246 Die Bedeutung der konstitutionell depressiven Anlage a) Auf Grund der klinischen Beobachtungen . . . . 249 b) Auf Grund der Erblichkeitsuntersuchungen . . . 254 Die Beziehungen der konstitutionell depressiven Veranlagung zu den echten zirkulären Formen · 260 Literaturverzeichnis ................ · . · · · · · 277 Die Untersuchungen der letzten Jahre haben die Grenzen des ma nisch-depressiven Irreseins mehr und mehr erweitert. Statt des wohl umschriebenen Krankheitsbildes der früheren Jahre fassen wir heute unter diesem Begriffe schon nahezu die gesamte Masse aller funktio nellen Psychosen zusammen, wenn wir von der Dementia praecox einmal ganz absehen, deren funktionelle Natur ja überhaupt recht zweifelhaft ist. In dieser großen vielgestaltigen Gruppe krankhafter Veränderungen des Gemütslebens nehmen die konstitutionellen Verstimmungszustände heiterer wie depressiver Natur eine besondere Stellung ein. Als an geborene Störungen leichteren Grades gehören sie hinein in das große Gebiet psychopathischer Zustände, zu deren verschiedensten Formen sie in der Tat auch die mannigfaltigsten Beziehungen besitzen. Auf der anderen Seite zeigt aber ihr klinisches Symptomenbild eine so auffallende Analogie zu den entsprechenden Phasen des zirkulären Irreseins und die Xeigung zu periodischen Stimmungsschwankungen erinnert so sehr an das \"erhalten jener Erkrankung, daß hier eine innere Verwandtschaft äußerst wahrscheinlich wird. Kraepelin gebührt das Verdienst, dies als erster erkannt zu haben. Trotzdem hat er an ihrer klinischen Sonder stellung festgehalten, und das mit Recht. Denn im Gegensatze zu den übrigen zirkulären Erkrankungen haben wir hier einen angeborenen Dauerzustand vor uns, aus dem sich heraus die verschiedenen Psychosen entwickeln, und das vollkommen entsprechend der gemütlichen Ver anlagung, dem Temperamente des Kranken. So eignen sich diese Krank heitszustände ganz besonders für Untersuchungen, die von der Veran lagung ausgehend in das Verständnis der wechselvollen Bilder des manisch-depressiven Irreseins einzudringen versuchen. Rein äußere Gründe veranlaßten mich, mein Augenmerk vor allem auf die depressive Seite dieser Störungen zu richten. Die Anregung zu meiner Arbeit gab die Beobachtung meines verehrten Chefs, des Herrn Prof. Gau p p, daß das hiesige Material an Depressionszuständen von seinen an anderen Orten gemachten Erfahrungen in wesentlichen Zügen abwich. Einmal schienen die traurigen Verstimmungen in auffallender Weise die manischen Erkrankungen an Häufigkeit zu übertreffen, und dann traten unter diesen Depressionszuständen wieder die einfach ge hemmten Formen sehr in den Hintergrund gegenüber den mehr melan cholieartigen Erkrankungen, womit ich kurz Symptomenbilder in der Art der früheren klimakterischen Melancholie Kraepelins bezeichnen 1 Reiss. 2 möchte. Erkundigte man sich nun bei diesen Kranken nach ihrer indi viduellen Gemütsveranlagung, so erhielt man vielfach die typische Schilderung des Bildes, das Kraepelin in seinem Lehrbuche von der konstitutionellen Verstimmung entworfen hat. Manische Zustände ließen sich bei der Mehrzahl der Fälle in der Anamnese nicht nach weisen, und das ganze Krankheitsbild entsprach so durchaus der an geborenen Gemütsveranlagung, daß es sich um weiter nichts zu handeln schien, als ein stärkeres Hervortreten und eine Steigerung der eigen tümlichen Konstitution, wofür sich nicht selten auch noch ein äußerer Anlaß fand. Diese Krankheitsbilder entfernten sich weit von dem ty pisch zirkulären Anfalle und schienen in ihrer Eigenart so scharf um schrieben, daß man wohl den Eindruck gewinnen konnte, hier biete sich ganz von selbst eine eigene Gruppe dar, deren Abgrenzung ohne jede Schwierigkeit gelingen müsse. Unterstützt wurde diese Auffassung durch die Beobachtung anderer Autoren. Schott1°") hat im Jahre 1901 die sämtlichen Melancholiefälle der hiesigen Klinik, d. h. alle diejenigen Depressionszustände, die "ir heute mit Kraepelin in dem Krankheitsbilde des manisch-depressiven Irreseins zusammenfassen, einer kritischen Bearbeitung unterzogen. Dabei war es ihm aufgefallen, daß sich bei einer großen Zahl seiner Kranken, nämlich bei etwa 50% aller derer, von denen er eine Notiz über die Veranlagung besaß, in der Vorgeschichte die Angabe fand, sie seien von jeher stille und zu ernster Lebensauffassung neigende Menschen gewesen. Und dabei scheint man bei Anfertigung der seiner Unter suchung zugrunde liegenden Krankengeschichten nicht einmal besonders auf solche Zusammenhänge geachtet zu haben; denn ein großer Bruch teil der Journale enthält über die gemütliche Veranlagung keinerlei Be merkung. Es scheinen also hier ganz augenfällige Beziehungen vor zuliegen, die sich sogar einem Beobachter direkt aufdrängten, der dieser Frage kein besonderes Interesse entgegenbrachte. Daß gerade melan cholieartige*) Depressionszustände unter der schwäbischen Bevölkerung besonders häufig angetroffen werden, bestätigen auch die Erfahrungen Fauser's27) in Stuttgart. Rehm9&), der das Material der Münchener Klinik zusammenstellte, fand gleichfalls ein ganz auffälliges Überwiegen der Depressionszustände bei Kranken aus schwäbischen Landesteilen. Doch hat es sich bei seinen Fällen wohl in der Hauptsache um Be wohner der südwestlichen Provinzen Bayerns gehandelt, deren Be völkerung mit den oberschwäbischen Teilen des Königreichs Württem berg in Religion und wohl auch in Rasse mehr übereinstimmt, als mit derjenigen der vorwiegend evangelischen mittleren Partien, die unseren Hauptaufnahmebezirk bilden, und die auch meinen Untersuchungen vor allem zugrunde liegen. *) Im früheren Kraepelin'schen Sinn. 3 Solche Erfahrungen scheinen darauf hinzuweisen, daß bei dem schwäbischen Volksstamme unter den affektiven Störungen bestimmte Verlaufsformen, ganz besonders bevorzugt werden, ja daß sich vielleicht hier ganz besondere Krankheitstypen finden. Und da liegt die Ver mutung nahe, es möchten wohl irgendwelche in Charakter oder Tem perament begründete Eigentümlichkeiten den Anlaß für eine solche Prädisposition abgeben. Ist das richtig, dann müßten sich aber auch sonst im Volksleben allerlei Zügen nachweisen lassen, die auf eine solche Veranlagung hindeuteten, und eine ernste und schwerblütige Lebens auffassung müßte als Allgemeingut oder wenigstens als sehr häufige Eigenschaft dargetan werden. Wissenschaftlich werden sich solche Tat sachen nur sehr schwer feststellen lassen, da sie auf das Gebiet der indi viduellen Charaktereigentümlichkeiten hinübergreifen, die für uns heute einer exakten Untersuchung noch nicht zugänglich sind. An wirklichen brauchbaren Beobachtungen über derartige Fragen fehlt es in der Tat auch noch vollkommen. Und wenn wir das, was über den schwäbischen Volkscharakter bekannt geworden ist, zusammenstellen wollen, so müssen wir uns da mit allgemeinen Eindrücken begnügen, die Männer, welche Land und Leute gut zu beurteilen imstande sind, gelegentlich geäußert haben. Einen gewissen von den übrigen deutschen Stämmen abweichenden Volkscharakter hat man wohl von jeher den Schwaben zuerkannt, und sie selbst haben diese Sonderstellung nicht ungern für sich in Anspruch genommen. So findet man hie und da in der Literatur .verstreut eine ganze Reihe scharfer und recht zutreffender Bemerkungen über schwä bische Eigenart, schwäbischen Charakter und schwäbisches Wesen. Gute wie schlechte Seiten werden offen und ehrlich beleuchtet; nur findet sich leider gerade über die uns interessierende Frage der gemütlichen Ver anlagung äußerst wenig, und von einer Neigung zu ernster und schwerer Lebensauffassung ist nur selten die Rede. So war die Ausbeute quan titativ leider nur sehr gering, doch besitzt das wenige, was wir zu sammengetragen konnten, durch die Ar~ der Persönlichkeiten, von denen es herrührt, einen gewissen Wert. Als erster ist da der berühmte Ästhetiker F. Th. Vischer137) zu nennen, wohl einer der besten Kenner schwäbischer Eigenart, der sich in seinem bekannten Romane "Auch Einer" gerade mit seinen Landsleuten ausführlich beschäftigt. "Meine sie nun zu kennen diese Schwaben. Schwerblütig, unvermögend sich aus sich herauszuleben. Wie leichtlebig dagegen selbst unsere mittel deutschen Stämme! - Und dabei merkwürdig starkes Stammesgefühl. Meinen ihre Eigenheiten seien besser, als die Eigenheiten anderer Stämme. Meinen sie haben die Gemütlichkeit gepachtet ... Nachdenk liches Wesen, viel Talent, aber stellt sich das T und L um: Talent bleibt latent. Sind so gescheid wie nur irgend einer, haben aber beschlossen, 1* 4 wie die Schildbürger heimlich gescheid zu sein. . . Sind übrigens auch fremdenscheu, fremdeln. Auch Gutes in dieser Verstocktheit~ Hassen windiger Volubilität~ Flunkerhaften Leichtredeus ~ Gewiß auch darin viel Recht. . . Auch eine gewisse edle Scham, das Innere nur so ge schwind herauszugeben~ Selbstgefühl, das sich gegen Modelebtag sperrt. Ja auch davon ein Korn im übrigen Phlegma, oder ist es anders zu bezeichnen? ... Formlosigkeit prinzipiell gemacht: sie gilt für wahre Natur; Form gilt für affektiert, vor allem höher belebte Form; doch auch einfach richtige Form, z. B. reines Deutsch. Wissen aber doch in Kunst und Wissenschaft sehr wohl, was große Form ist. Vieles offen bar auch Folge der langen Abgeschlossenheit vom großen Verkehr. Weltlosigkeit, \Tergessenheit, Stagnation ... Beamtenstand habe ich in Mehrheit sehr gewissenhaft gefunden. - Auch die Sitte im großen ganzen noch etwas intakter als anderswo ... Mehr Ernst, Sorgfalt, Ge nauigkeit als bei den südöstlichen Nachbarn ... keinen einzigen bla sierten Menschen habe ich gefunden, und ich bin doch mit vielen um gegangen. Dies besagt nicht wenig." Ähnlich lauten Schilderungen anderer seiner Landsleute. K urz77) spricht von Schwerfälligkeit, unbehilflichem Eigensinn und ablehnen dem V erhalten gegen Fremdes und bringt diese Eigenschaften mit einer angeborenen Scheu in Zusammenhang, über das zu sprechen, was den Menschen am tiefsten berührt. Er hält die Schwaben für innerlich isoliert, sehr leicht empfindlich und mit einem zarten Selbstgefühl ver sehen. Kölle66) hebt den übertriebenen oft unzweckmäßigen Fleiß, die falsch verstandene Sparsamkeit und den mangelnden Sinn für Bequem lichkeit hervor. Das Fehlen des Verständnisses für äußere Form und ein gewisser Mangel an Grazie werden auch von Kr a u ß 74) betont und zu der Gemächlichkeit und Schwerfälligkeit in Beziehung gebracht, die er für ein Hauptkennzeichen schwäbischer Gemütsart ansieht. Aus dauernder Fleiß, große Ehrlichkeit und starker Pflichteifer werden von ihm ebenso wie von den anderen besonders erwähnt. Dann kommt er näher auf die religiösen Verhältnisse zu sprechen, die in Württemberg einen besonderen Charakter tragen, und in denen sich nach seiner An sicht in hervorragendem Maße die Volksart kundtut. In Schwaben finde sich viel ausgeprägter als in anderen deutschen Landesteilen ernstliches Bedürfnis "zu höherer religiöser Gefühlserwärmung" und diese Neigung habe dem in Württemberg so kräftigen Pietismus das Leben gegeben. In dem Drang zu einer möglichst intensiven Gottesverehrung hätten sich die zahlreichen Sekten gebildet, die heute über das ganze Land verstreut sind, habe sich das Stundenwesen zu einer Höhe wie sonst nirgends in Deutschland entwickelt, und mystische Neigungen aller Art seien dabei zur Blüte gelangt. Das sind Erfahrungen, wie sie auch heute noch ein jeder machen 5 kann, der Gelegenheit hat, mit der württembergischen Landbevöl kerung aus den mittleren Provinzen, dem alten Kernlande, in nähere Berührung zu kommen, wenn auch der zunehmende V erk ehr und die Industrialisierung dieser Gegenden hierin einen Wandel zu schaffen drohen. Recht häufig wird er dann ernsten, tief angelegten Bauern naturen begegnen, denen die Ausübung ihrer religiösen Pflichten nicht zu einer Äußerlichkeit, zu einem angelernten gewohnheitsmäßigen Ge brauche geworden ist, sondern bei denen sie aus einer tiefgehenden Frömmigkeit, aus einem wirklichen inneren Bedürfnisse entspringt. Aus innerem Triebe beschäftigen sich diese Leute mit dem Studium der Bibel, vertiefen sich in ihre Lektüre mit unermüdlichem Eifer und kennen große Teile auswendig, ohne sie jemals extra gelernt zu haben, nur weil sie ihnen ans Herz gewachsen sind, und weil sie sie so oft gelesen haben. Die Bibel und das religiöse Leben in Stunden und Gemeinschaften ist ja auch das einzige, was den vom großen Treiben der Welt abgeschie denen Bauem etwas über den Alltag mit seinem engen Kreis materieller Pflichten und Interessen zu erheben vermag. Es war und es ist für ein zelne Teile auch heute noch das einzige, was ihnen zur Befriedigung h0herer geistiger Bedürfnisse geboten wird. So spielt die Religion für weite Kreise des Volkes eine außerordentlich wichtige Rolle, und es ist gewiß kein Zufall, daß gerade die eifrigsten Stundengäuger nüchterne, ernste und fleißige Menschen zu sein pflegen. Grüneisen 42) hat sich als Theologe besonders für diese Seite des schwäbischen Volkes interessiert und ihr eine ausführlichere Betrachtung gewidmet. Auch er glaubt, daß die Neigung zu Gemeinschaftsbildungen, zu Sonderungen und Sektierungen zum vornehmsten Teil aus innen heraus, aus der Inner lichkeit schwäbischer Gemütsart stamme. Ihm ist gleichfalls das starke Bedürfnis der Landbevölkerung aufgefallen, über göttliche Dinge nach zudenken, in der Schrift zu forschen und zu grübeln, ihren Inhalt nicht nur sinnend sich anzueignen, sondern gründlich in der Erfahrung zu erleben. So spielen religiöse Anschauungen eine recht wichtige Rolle und greifen weit in das übrige Leben hinein. Wohl in keinem anderen protestantischen Lande sind Gebetheilungen und Behandlung körper licher Leiden durch geistigen Zuspruch so verbreitet als in Württem berg, und es ist ein recht erheblicher Prozentsatz unserer Kranken, der zuerst eine derartige Anstalt aufgesucht hat, ehe man sich dazu ent schließt, die Klinik um Rat und Hilfe anzugehen. Alle die hier geschilderten Eindrücke hat Finckh2B), ein früherer Assistenzarzt der hiesigen Klinik, selbst ein Schwabe, auf Grund seiner eigenen Erfahrung recht hübsch zusammengestellt. Auch ihm ist vor allem die Schwerblütigkeit aufgefallen, die den Schwaben "Unangeneh mes oder Trauriges, das er erlebt hat, nicht leichthin abtun läßt. Je weniger er sich nach außen hin mitteilt, desto hartnäckiger lebt Un- G glück und Kummer in seinem Inneren fort. Es ist ja bekannt, wie be freiend die Aussprache, die Lösung gemütlicher Spannung und Erwar tung durch das gesprochene Wort auf die beengte Seele wirkt. Es wird also das Kleben an traurigen Erlebnissen verständlich, wenn die Neigung zu ängstlicher Zurückhaltung es verbietet, von außen her sich Trost und Erleichterung zu holen. Es ist aber auch klar, daß der schwermütige Zug im Wesen der Schwaben den geeigneten Boden für eine dauerhafte und intensive Aufnahme alles dessen darstellt, was an diesen ernsten Grundton seines Gemütslebens anklingt. Und so sehen wir als Resultat eine geistige Verfassung, die an dem Leben schwerer als billig trägt, ein Gemüt, das sorgt und ahnt und eher zu einer düsteren als zu einer heiteren Lebensauffassung drängt. So kann man in gewissem Sinne sagen, daß die Schwermut, die spezifische Nervenkrankheit der Schwaben sei. Und in der Tat spielt dieses Leiden bei uns im Gegensatz zu anderen deutschen Ländern eine überraschend große Rolle, was wiederum auf die eingangs erwähnte besondere Veranlagung unseres Volkes hinweist". Mit diesen Ausführungen stimmen die Beobachtungen an unserer Klinik völlig überein. Auch habe ich mir sonst noch von Persönlich keiten, die Land und Leute in jeder Weise kennen, bestätigen lassen, daß sie gleichfalls im täglichen Leben den Eindruck gewonnen haben, daß in Schwaben sich eine gewisse Keigung zu depressiver Lebensauf fassung häufig findet, und daß überhaupt das ganze Volk sich weniger harmlos heiterem Lebensgenusse hinzugeben vermöge als seine nächsten Stammesgenossen. Gerade in den Kreisen der Gebildeten und unter der höheren Intelligenz soll die schwermütige Veranlagung besonders häufig sein und nicht selten als Familieneigentümlichkeit durch Gene rationen hindurch vererbt werden, so daß kaum eines der Glieder von dieser Gabe des Schicksals verschont bleibt. Die Schilderung, die wir hier von dem schwäbischen Volkscharakter entworfen haben, kann natürlich keinen Anspruch auf allgemeine Gül tigkeit erheben. Sie ist dürftig und unvollkommen, und nur für gewisse Volksteile wird man sie als einigermaßen zutreffend bezeichnen dürfen. Das sind .die mittleren vorwiegend protestantischen Gebiete, die aber den Hauptrekrutierungsbezirk für unsere Klinik darstellen. Die meisten der zitierten Autoren haben gerade auf die evangelische Religion und ihren Zusammenhang mit der Gemütsveranlagung einen besonderen Wert gelegt. Von Grüneisen als Theologen ist das selbstverständlich. Aber auch Krauß und Vischer heben das Protestantische in der schwäbischen Art ganz besonders hervor. Ob das in diesem Umfange berechtigt ist, erscheint immerhin fraglich; denn für das katholische Oberschwaben gelten anscheinend, was Veranlagung und Psychosen anbetrifft, ähnliche Tatsachen, wenn wir den Beobachtungen Reh ms prinzipielle Bedeutung beilegen dürfen. Überdies haben auch wir aus

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