Wissen, Kommunikation und Gesellschaft. Schriften zur Wissenssoziologie Herausgegeben von H.-G. Soeffner, Konstanz, Deutschland R. Hitzler, TU Dortmund, Deutschland H. Knoblauch, TU Berlin, Deutschland J. Reichertz, Universität Duisburg-Essen, Deutschland Wissenssoziologinnen und Wissenssoziologen haben sich schon immer mit der Beziehung zwischen Gesellschaft en, dem in diesen verwendeten Wissen, seiner Verteilung und der Kommunikation (über) dieses Wissen(s) befasst. Damit ist auch die kommunikative Konstruktion von wissenschaft lichem Wissen Gegenstand wissenssoziologischer Refl exion. Das Projekt der Wissenssoziologie besteht in der Abklärung des Wissens durch exemplarische Re- und Dekonstruktionen gesell- schaft licher Wirklichkeitskonstruktionen. Die daraus resultierende Programmatik fungiert als Rahmen-Idee der Reihe. In dieser sollen die verschiedenen Strömungen wissenssoziologischer Refl exion zu Wort kommen: Konzeptionelle Überlegungen stehen neben exemplarischen Fallstudien und historische Rekonstruktionen stehen neben zeitdiagnostischen Analysen. Reiner Keller • Hubert Knoblauch Jo Reichertz (Hrsg.) Kommunikativer Konstruktivismus Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissens- soziologischen Ansatz Herausgeber Reiner Keller Jo Reichertz Universität Augsburg, Deutschland Universität Duisburg-Essen, Deutschland Hubert Knoblauch TU Berlin, Deutschland ISBN 978-3-531-19796-8 ISBN 978-3-531-19797-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-531-19797-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu- stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über- setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandabbildung: Jo Reichertz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media www.springer-vs.de Inhalt Reiner Keller, Hubert Knoblauch & Jo Reichertz Der Kommunikative Konstruktivismus als Weiterführung des Sozialkonstruktivismus – eine Einführung in den Band . . . . . . . 9 I. Positionierungen Hubert Knoblauch Grundbegriffe und Aufgaben des kommunikativen Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Jo Reichertz Grundzüge des Kommunikativen Konstruktivismus . . . . . . . . . . . 49 Reiner Keller Kommunikative Konstruktion und diskursive Konstruktion . . . . . . . 69 II. Anschlüsse Andreas Hepp Die kommunikativen Figurationen mediatisierter Welten: Zur Mediatisierung der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Günther Ortmann Eine Phänomenologie des Entscheidens, organisationstheoretisch genutzt und ergänzt . . . . . . . . . . . . . 121 6 Inhalt III. Diskursive Kontexte kommunikativer Konstruktion Gabriela B. Christmann Raumpioniere in Stadtquartieren und die kommunikative (Re-)Konstruktion von Räumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Saša Bosančić Subjektivierungsweisen als diskursive und kommunikative Identitätskonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . 185 Anna-Katharina Hornidge Wissen-fokussierende Wirklichkeiten und ihre kommunikative Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Angelika Poferl & Verena Walter „Deine Stimme gegen Armut“ – Zur kommunikativen Konstruktion eines globalen Problems . . . . . . 235 Boris Traue Kommunikationsregime: die Entstehung von Wissen um Medialität in kommunikativen Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . 257 IV. Situative Kontexte kommunikativer Konstruktion Richard Bettmann & Norbert Schröer Organisationale Kommunikationsmacht Die Einbeziehung indischer Flugbegleiter in eine globalisierte Airline . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Regine Herbrik Das Imaginäre in der (Wissens-)Soziologie und seine kommunikative Konstruktion in der empirischen Praxis . . . . . . . . . 295 Christian Kiesow Die kommunikative Konstruktion der Mathematik Zur Rolle körperlicher Performanz im Umgang mit mathematischen Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Inhalt 7 Bernt Schnettler, Bernd Rebstein & Maria Pusoma Der Topos kultureller Vielfalt Zur kommunikativen Konstruktion migrantischer ‚Zwischenwelten‘ . . . 337 René Tuma Die kommunikative Video-(Re)Konstruktion . . . . . . . . . . . . . . . 363 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Der Kommunikative Konstruktivismus als Weiterführung des Sozialkonstruktivismus – eine Einführung in den Band Reiner Keller, Hubert Knoblauch & Jo Reichertz Seit den 1960er Jahren hat sich in der gesamten westlichen Wissenschaft eine Denkweise ausgebreitet, die man als „konstruktivistisch“ bezeichnet. Diese Denk- weise reicht von der „Erlanger Schule“ der Philosophie über die Psychologie (z. B. Watzlawick) bis weit hinein in die Naturwissenschaften, wo etwa der „ra- dikale Konstruktivismus“ in großer Breite Eingang fand. Auch die Sozialwissen- schaft und hier vor allem die Soziologie hat mehrheitlich die konstruktivistische Wende vollzogen. Selbst wenn man in Deutschland irrtümlich erst an Luhmann denkt, wenn von „Konstruktivismus“ die Rede ist, waren es doch Peter Berger und Thomas Luckmann, die mit ihrem Buch zur „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ im Jahre 1966 (deutsch: 1970) einen der ersten systematischen theo- retischen Beiträge unter dem Titel der Konstruktion überhaupt vorlegten (und damit auch die Wissenssoziologie neu begründeten). Der Konstruktivismus ist also keineswegs eine wissenschaftliche Rand- oder Neuerscheinung. Man könnte, durchaus auch in einem wissenssoziologischen Sinne, von einem wissenschaftlichen Paradigma sprechen, das vermutlich nicht zufällig den Umbruch von der industriellen in die nachindustrielle Gesellschaft begleitet und vielleicht auch deren Ausdruck ist (die bezeichnenderweise auf den Namen „Wissensgesellschaft“ getauft wurde). Während der Konstruktivismus ge- nerell davon ausgeht, dass die Wirklichkeit keine bloße „positive“ Gegebenheit darstellt, sondern eine, wenn auch keineswegs beliebige Konstruktion ist (wobei zuweilen auch die Wissenschaft selbst als mehr oder weniger bedeutsame Kon- strukteurin Berücksichtigung findet), variiert die Frage quer über die Disziplinen, wie und was konstruiert wird. Berger und Luckmann behandelten diese Frage auf eine entschieden soziologische Weise: Die Konstruktion ist demnach ein sozialer Prozess, in dem aus der interaktiven Dynamik sozialer Handlungen heraus Insti- tutionen geschaffen werden, die mit (legitimatorischem) Sinn erfüllt den Han- R. Keller et al. (Hrsg.), Kommunikativer Konstruktivismus, DOI 10.1007/978-3-531-19797-5_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 10 Reiner Keller, Hubert Knoblauch & Jo Reichertz delnden wieder so vermittelt werden, dass sie zu sozialen Tatsachen und für das soziale Handeln bestimmend werden. Es dürfte kein Zufall sein, dass die „gesellschaftliche Konstruktion“ nicht nur eine theoretische Richtung initiiert hat und heute noch darstellt, sondern auch zu einem der beliebtesten soziologischen Texte überhaupt wurde – und zwar seit Jahrzehnten anhaltend und weltweit. Denn die „gesellschaftliche Konstruktion“ bietet einen so breiten Ausgangspunkt für eine Reihe von nachfolgenden Ansät- zen, dass ihr zentrales Anliegen bald als fast selbstverständlich galt. Diese Selbst- verständlichkeit geht so weit, dass der Begriff der „gesellschaftlichen Konstruktion“ zu einem akademischen Gemeinplatz geworden ist, dessen Verwendung selbst in der anspruchsvolleren Forschungsliteratur nicht immer mit dem Wissen aus der eigenen Lektüre des Buches korrelierte. So bemerkt Hacking (1999) in seiner Kri- tik an der „sozialen Konstruktion“, dass Berger und Luckmann eigentlich eine sehr plausible Theorie formuliert hätten, jedoch von einer Unzahl von Arbeiten in oberflächlicher, irreführender und sogar verfälschender Weise zitiert (oder, noch häufiger, ohne Zitation verwendet) wurden1. Es mag diese vielfache Konfusion gewesen sein, die sowohl Berger wie auch Luckmann zunehmend zögern ließen, den Begriff der gesellschaftlichen Kon- struktion überhaupt noch selber zu verwenden. In der Tat scheinen sich beide ab den 1970er Jahren vom Konzept des Konstruktivismus zu distanzieren. So formu- lierte Luckman wiederholt und plakativ: „Ich bin kein Konstruktivist, jedenfalls nicht im Sinne der Angehörigkeit zu einer wissenschaftstheoretischen Richtung, die sich als Konstruktivismus bezeichnet.“ (Luckmann 1999: 17, siehe auch Luck- mann 2003: 127)2 Dass diese Formulierung nicht ein (einer bestimmten Situation geschuldeter) ‚Ausrutscher‘ war, sondern in der Tat dem Selbstverständnis von Luckmann (auch heute noch) entspricht, das belegt ein weiteres Zitat: „Im Ver- 1 In Anlehnung und Abgrenzung zum Sozialkonstruktivismus von Berger & Luckmann hat sich auch ein Sozialkonstruktionismus enwickelt, der allerdings empirisch später andere Wege ging (vgl. Reichertz/Zielke 2008, vgl. auch den Beitrag von Reichertz in diesem Band). 2 Auch Peter Berger verwahrt sich öffentlich immer wieder dagegen, ‚Konstruktivist‘ genannt zu werden (Pfadenhauer 2010: 77) – so z. B. in seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung der Eh- rendoktorwürde an der LMU in München: „Luckmann und ich haben ausgeführt, wie die Wirk- lichkeit immer durch ein Prisma gesellschaftlicher Deutungen erlebt wird. Nachher entstand eine soziologische Richtung, die sich zu unserem Ärger ‚Konstruktivismus‘ nannte und die be- hauptete, daß alle Deutungen gleichwertig seien und darüber hinaus, daß es überhaupt keine Wirklichkeit außerhalb der gesellschaftlichen Deutung gebe. Luckmann und ich haben immer wieder betont, dass diese ‚postmoderne‘ Richtung nicht mit unseren Absichten übereinstimme; es hilft alles nichts. Immer wieder werden wir als Gründer des ‚Konstruktivismus‘ gelobt oder be- schimpft“ (Berger 1998: 23, siehe auch Berger 2001: 166). Der Kommunikative Konstruktivismus als Weiterführung des Sozialkonstruktivismus 11 gleich zu Watzlawick und den Konstruktivisten der Erlanger Schule sind Berger und ich in gewissem Sinne Materialisten.“ (zitiert nach Schnettler 2006: 87) Auch Schnettler betont in seiner Luckmanneinführung, dass Berger und Luckmann weit davon entfernt gewesen seien zu behaupten, „alles sei konstruiert oder auch nur konstruierbar“ (ebd., vgl. auch Pfadenhauer 2012, Reichertz 2012). Diese Distanzierung vom Begriff bedeutete jedoch keine Abwendung von der Sache, also der gesellschaftlichen Konstruiertheit von Wirklichkeit, sondern nur eine Abwendung von einer postmodernen Spielart des Konstruktivismus, die alle Konstruktionen für beliebig ansieht. Vielmehr hat sich in der Aufnahme und Weiterführung der These von der gesellschaftlichen Konstruiertheit von Wirk- lichkeit in den letzten Jahrzehnten in Deutschland eine Form der empirischen Forschung ausgebildet, die sich dezidiert mit dem Prozess der gesellschaftlichen Kon struktion auseinandersetzt und sich als empirisch arbeitende Wissenssozio- logie versteht. Die empirische Forschung setzt dabei jedoch weniger auf die klassischen Konzepte der Wissenssoziologie (der die „gesellschaftliche Konstruktion“ zu- mindest in der deutschen Übersetzung laut Untertitel zugerechnet wurde), son- dern verband sich mit Verfahren aus der deutschsprachigen Hermeneutik, aus dem Umfeld der angelsächsischen Ethnomethodologie und Ethnographie, der Interaktionsanalyse wie auch aus dem Umfeld der französischen Diskursanalyse. Theoretisch waren diese Verfahren beeinflusst – wenn auch in unterschiedlichem Maße – von der deutschen Phänomenologie (Husserl, Schütz), dem amerikani- schen Pragmatismus (Peirce, Mead) und dem französischen Poststrukturalismus (Foucault). Gegenstand dieser empirischen verfahrenden Forschungen, die mit- unter die Gestalt einer Art ‚Nanosoziologie‘ annahmen, waren die häufig nur in aufwendigen Studien erkennbaren Prozesse des Aushandelns und Herstellens so- zialer Wirklichkeit. Mittel dieser oft erst unter dem Mikroskop erkennbaren Pro- zesse war durchgängig die Kommunikation. Diese Erkenntnis führte zu einer erkennbaren Fokusverschiebung: Das Augenm erk wurde zunehmend auf Prozesse der Kommunikation verlagert. Auch Luckmann hat frühzeitig diese Bedeutung der Kommunikation gesehen, gewür- digt und später von einem „kommunikativen Aufbau der sozialen Welt“ und dem „kommunikativen Paradigma der neuen Wissenssoziologie“ gesprochen (Luck- mann 2002: 157 ff und 201 ff; vgl. auch 2004 und 2007). Kommunikation gilt dabei keineswegs nur als ein besonderes Feld der sozia- len Konstruktion. Vielmehr wird Kommunikation als die empirisch beobachtbare Seite des Sozialen betrachtet. Genauer: kommunikatives Handeln steht im Mittel- punkt des Sozialen, und damit unterscheidet sich dieser Ansatz deutlich (wenn
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