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Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher. IV. Richard Wagner in Bayreuth PDF

678 Pages·2020·2.098 MB·German
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Nietzsche-Kommentar Band1/4 Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken Herausgegeben von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Band 1/4 Barbara Neymeyr Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher IV. Richard Wagner in Bayreuth DE GRUYTER DieserBandwurdeimRahmendergemeinsamenForschungsförderungvonBund undLändernimAkademienprogrammmitMittelndesBundesministeriumsfürBildung undForschungunddesMinisteriumsfürWissenschaft,ForschungundKultur desLandesBaden-Württembergerarbeitet. ISBN978-3-11-067789-8 e-ISBN(PDF)978-3-11-067796-6 e-ISBN(EPUB)978-3-11-067811-6 LibraryofCongressControlNumber:2020931477 BibliografischeInformationderDeutschenNationalbibliothek DieDeutscheNationalbibliothekverzeichnetdiesePublikationinderDeutschen Nationalbibliografie;detailliertebibliografischeDatensindimInternet überhttp://dnb.dnb.deabrufbar. ©2020WalterdeGruyterGmbH,Berlin/Boston Satz:MetaSystemsPublishing&PrintservicesGmbH,Wustermark DruckundBindung:CPIbooksGmbH,Leck www.degruyter.com Inhalt Vorwort VII HinweisezurBenutzung XVII Siglenverzeichnis XIX EditorischeZeichen XXV III.Schopenhauer als Erzieher Überblickskommentar 3 III.1 Entstehungs-undTextgeschichte 3 III.2 DieSchriftSchopenhaueralsErzieherimKontext derUnzeitgemässenBetrachtungen 6 III.3 SelbstaussagenNietzsches 9 III.4 QuellenundEinzugsgebiete:VergleichmitSchopenhauersSchrift UeberdieUniversitäts-Philosophie 20 III.5 DieStrukturdesGedankengangsinderAbfolgederKapitel 29 III.6 DieRezeptionvonSchopenhaueralsErzieher 38 Stellenkommentar 55 IV. Richard Wagner in Bayreuth Überblickskommentar 289 IV.1 Entstehungs-undTextgeschichte 289 IV.2 QuellenundEinzugsgebiete 293 IV.3 NietzschesambivalentesVerhältniszuRichardWagnerimSpiegel seinerWerke,Nachlass-NotateundBriefe 295 IV.4 DieKonzeptionderSchriftRichardWagnerinBayreuth imWerkkontext 331 IV.5 DieStrukturdesGedankengangsinderAbfolge derKapitel 339 IV.6 SelbstaussagenNietzsches 351 IV.7 DieRezeptionvonRichardWagnerinBayreuth 361 Stellenkommentar 367 VI Inhalt Bibliographie 583 Sach-undBegriffsregister 621 Personenregister 647 Vorwort InseinenvierUnzeitgemässenBetrachtungenwertetNietzschedenBegriff‚un- zeitgemäß‘entschiedenum,deransonstendasfürdiejeweilsaktuelleEpoche nicht Angemessene oder das Veraltete bezeichnet. Entgegen der Sprachkon- ventionmeintNietzschemit‚unzeitgemäß‘keineswegsdasObsolete;stattdes- sen signalisiert er mit diesem Begriff seine Opposition zu Tendenzen der Zeit. DarüberhinaushebterinderzweitenderUnzeitgemässenBetrachtungenaus- drücklich die kulturelle Bedeutung des ‚Überhistorischen‘ und des ‚Unhistori- schen‘ hervor. Aus den kritischen Gegenwartsdiagnosen seiner Frühschriften leitet Nietzsche Zukunftsperspektiven ab, die gerade das Zeitgemäße als das zuüberwindendeNegativeerscheinenlassen.InfolgedessenhälterPersönlich- keiten,MentalitätenundIdeenfür‚unzeitgemäß‘,dieüberdiejeweiligeGegen- wart hinausweisen und auf eine bessere Zukunft hoffen lassen. Als ‚unzeitge- mäß‘ in diesem positiven Sinne präsentiert er in der dritten und vierten der UnzeitgemässenBetrachtungenSchopenhauerundWagner,derenparadigmati- sche Bedeutung er darin erblickt, dass sie sich von konventionellen Normen emanzipiert und als autonome Persönlichkeiten die Beschränkungen ihrer ei- genen Epoche überwunden haben. Nietzsche sieht sie daher als ‚unzeitgemä- ße‘Vorbilderan,dieImpulsefüreinekulturelleErneuerunggebenkönnen. Inwiefern Nietzsche seine kritischen Epochendiagnosen mit einem kon- struktiven Zukunftsengagement zu verbinden sucht, zeigt das Vorwort zur zweitenderUnzeitgemässenBetrachtungen:VomNutzenundNachtheilderHis- toriefürdasLeben.MitNachdruckformulierterhierseineAbsicht,„unzeitge- mäss – das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu GunsteneinerkommendenZeit–zuwirken“(KSA1,247).DassNietzschegera- de dem Philosophen eine besondere Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit, mithin einen zukunftsweisenden Sonderstatus zuschreibt, geht aus Schopenhauer als Erzieher hervor, der dritten der Unzeitgemässen Betrachtungen: Hier statuiert er,„derPhilosoph“müsse„seineZeitinihremUnterschiedegegenandrewohl abschätzenund,indemerfürsichdieGegenwartüberwindet,auchinseinem Bilde, das er vom Leben giebt, die Gegenwart überwinden“ (KSA1, 361). In diesem Sinne versucht Nietzsche seinen Lesern „zu erklären, wie wir Alle durch Schopenhauer uns gegen unsre Zeit erziehen können“ (KSA1, 363). DieseprogrammatischeIntentionauf‚Unzeitgemäßheit‘reichtüberNietzsches Frühwerk Unzeitgemässe Betrachtungen allerdings weit hinaus und manifes- tiert sich sogar noch in seiner Spätschrift Der Fall Wagner. Dort verbindet er seinphilosophischesSelbstverständnisdezidiertmiteinemAnspruchauf‚Zeit- losigkeit‘ und grenzt sich dabei entschieden von der Décadence-Problematik seinerEpocheab:„WasverlangteinPhilosophamerstenundletztenvonsich? https://doi.org/10.1515/9783110677966-203 VIII Vorwort SeineZeitinsichzuüberwinden,‚zeitlos‘zuwerden.Womitalsohaterseinen härtesten Strauss zu bestehn? Mit dem, worin gerade er das Kind seiner Zeit ist. Wohlan! Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte. Der Philosophinmirwehrtesichdagegen“(KSA6,11). Während sich Nietzsches Historienschrift auf die Geschichtskultur des 19.JahrhundertsalsübergeordnetesEpochenphänomenkonzentriert,beziehen sichdiedreianderenUnzeitgemässenBetrachtungenjeweilsaufeinzelnePerso- nen, um deren Stellenwert im kulturellen Kontext zu reflektieren. In David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller attackiert Nietzsche den durch das BuchDasLebenJesu,kritischbearbeitetlängstbekanntenundheftigumstritte- nen Theologen David Friedrich Strauß, nicht zuletzt um Wagner damit einen Gefallenzutun. DabeinimmtNietzscheallerdings nurStrauß’AlterswerkDer alte und der neue Glaube polemisch ins Visier, in dem dieser das Christentum durch eine fortschrittsoptimistische Universalreligion zu ersetzen versucht. Neben konzeptionellen Ungereimtheiten und gedanklichen Inkonsequenzen kritisiert Nietzsche an dieser Schrift auch stilistische Schwächen und die prä- tentiöseSelbstinszenierungdesAutors,deneralsdenPrototypeinesbanalen ‚Bildungsphilisters‘desavouiert. Im Unterschied zum polemischen Gestus von David Strauss der Bekenner undderSchriftstellersinddiedritteundviertederUnzeitgemässenBetrachtun- gen auf Vorbildfiguren fokussiert: In Schopenhauer als Erzieher beleuchtet Nietzsche die Persönlichkeit Arthur Schopenhauers vor dem Hintergrund sei- nerPhilosophieundhebtdabeivorallemdasaufAutarkiebasierendeLebens- modell,denAuthentizitätsanspruchunddasWahrhaftigkeitsethosalsCharak- teristikaseinesphilosophischenLehrershervor.InRichardWagnerinBayreuth macht er verschiedene Stationen im Leben des Komponisten zum Thema und fokussiert dabeiWagners Bayreuth-Projekt, seinetheoretischen Konzepte und seinOpernwerk.IndemNietzscheindiesenSchriftenSchopenhauerundWag- ner als vorbildliche Persönlichkeiten exponiert, schafft er einen Kontrast zu denkritischenEpochendiagnoseninallenvierUnzeitgemässenBetrachtungen. Eine besonders interessante Wirkungsgeschichte wurde der Schrift Vom NutzenundNachtheilderHistoriefürdasLebenzuteil.DennsieerlangteBedeu- tunginderbreitenundfacettenreichenHistorismus-Diskussion,dieschondie zweiteHälftedes19.Jahrhundertsbestimmteundsichspäterauchindenintel- lektuellenDiskursdes20.Jahrhundertsprolongierte(vgl.dazudieKapitelII.7 undII.8imÜberblickskommentar).IndervonzahlreichenAutorenrezipierten Historienschrift entfaltet Nietzsche seine bekannt gewordene Differenzierung zwischen der ‚monumentalischen‘, ‚antiquarischen‘ und ‚kritischen‘ Art der Historie. Unter dem Gesichtspunkt des ‚Lebens‘ problematisiert er die große Vorwort IX Konjunktur der Geschichtswissenschaft und der ‚historischen Bildung‘ in sei- nerEpoche.ZugleichbetrachteterdiesePhänomenealsrepräsentativfürprin- zipielleProbleme,dieermitWissenschaftundErkenntnisgenerellverbunden glaubt. In diesem Zusammenhang kritisiert Nietzsche nicht nur die Überfor- mung der Historiographie durch die idealistische Geschichtsphilosophie, son- dernauchdiepositivistischeFixierungaufhistorischeFaktizitätundvermeint- liche ‚Objektivität‘. Da er Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft durch eine forcierteundeinseitigeVergangenheitsorientierunggefährdetsieht,diagnosti- zierterdenhypertrophen‚historischenSinn‘alseinDécadence-Symptomund reflektiert eingehend die problematischen Konsequenzen des Historismus in derKulturseinereigenenEpoche. InderRetrospektivederSpätschriftEccehomo,inderNietzschedurcheine autoritativeBewertungseinerfrüherenWerkeaufdauerhafteSelbststilisierung fürdieNachweltzielt,charakterisierterdenspezifischenGestusderUnzeitge- mässenBetrachtungenso:„DievierUnzeitgemässensinddurchauskriege- risch.Siebeweisen,dassichkein‚HansderTräumer‘war,dassesmirVergnü- gen macht, den Degen zu ziehn, – vielleicht auch, dass ich das Handgelenk gefährlichfreihabe“(KSA6,316).NietzschesRückblickaufdieHistorienschrift zeigt zugleich, inwiefern er seine Kritik an der eigenen Epoche, insbesondere an obsoleten Bildungskonzepten, am Primat einer sterilen, lebensfernen Ra- tionalität und an der Heterogenität der modernen Zivilisation, letztlich auf die Kultur der Zukunft als den eigentlichen Zweck hin funktionalisiert: „Die zweite Unzeitgemässe (1874) bringt das Gefährliche, das Leben-Annagende und-VergiftendeinunsrerArtdesWissenschafts-Betriebsan’sLicht–:[…]Der Zweck geht verloren, die Cultur: – das Mittel, der moderne Wissenschafts- Betrieb, barbarisirt… In dieser Abhandlung wurde der ‚historische Sinn‘, auf den dies Jahrhundert stolz ist, zum ersten Mal als Krankheit erkannt, als typisches Zeichen des Verfalls“ (KSA6, 316). Gegen dieses von ihm bereits in derHistorienschriftpathologisierteEpochensyndromführtNietzschedasIdeal derJugendinsFeld,dasfürihndieHoffnungaufeinevonVitalitätundkreati- venEnergienerfüllteZukunftrepräsentiert. DenvierUnzeitgemässenBetrachtungeninsgesamtistdieKritikamzeitge- nössischen Bildungssystem und Wissenschaftsbetrieb sowie das Engagement füreinezukünftige„Kultur“gemeinsam,dieNietzscheals„Einheitdeskünst- lerischenStilesinallenLebensäusserungeneinesVolkes“definiert(KSA1,163, 274). Damit bezieht er eine Gegenposition zum Historismus des 19. Jahrhun- derts,indemdurcheineneklektischenStilpluralismusdiefürfrühereKulturen charakteristischeHomogenitätverlorengegangensei. Im Falle von Schopenhauer als Erzieher und Richard Wagner in Bayreuth unterscheiden sich Nietzsches Bewertungen in zahlreichen späteren Stellung- X Vorwort nahmengravierendvonseinenursprünglichen Überzeugungen.InEccehomo depotenzierterdiewichtigstenLeitfigurenseinerfrühenSchaffensphasenach- träglichzubloßenEtappendereigenenEntwicklungundsuggeriertdenLesern sogar,erhabeinderdrittenundviertenderUnzeitgemässenBetrachtungengar nicht von Schopenhauer und Wagner, sondern antizipatorisch allein von sich selbstgesprochen(vgl.KSA6,320).MitdieseremphatischenSelbststilisierung zieht Nietzschein Eccehomo Konsequenzen ausder Demontageder einstigen Idole,mitderereinJahrzehntzuvorbereitsinMenschliches,Allzumenschliches begonnenhatte. DievielfältigenaufschlussreichenAkzentverschiebungen,diesichimÜber- gang von Nietzsches anfänglicher Schopenhauer- und Wagner-Faszination zu seinen späteren Ambivalenzen und massiven Vorbehalten gegenüber den frü- herenVorbildernabzeichnen,werdenindenÜberblickskommentarenzuScho- penhauer als Erzieher und Richard Wagner in Bayreuth dokumentiert. Dabei tretenauchNietzschesGründefürdiespätereRevisionderursprünglichenAuf- fassungenhervor,insbesonderefürseineAbkehrvonderschoninderGeburt der Tragödie propagierten Kunstmetaphysik. Auf diese Weise kommen zu- gleichideologiekritischeAspektezurGeltung.ImZugeeinerradikalenNeuori- entierungentwickeltNietzschesubversiveEntlarvungsstrategien,mitdenener diefrüherenTendenzenzuidealistischenÜberhöhungenundSakralisierungen der Kunst entschieden demontiert. Dabei distanziert er sich vom Kult des Ge- nies und von der zuvor mit Richard Wagner verbundenen Utopie kultureller Erneuerung.IndenspätenAnti-Wagner-SchriftennimmtNietzschedieSelbst- inszenierung des Komponisten und seine Wirkungsobsession sogar zum An- lassfürheftigePolemik. In Schopenhauer als Erzieher hingegen propagiert Nietzsche die „Erzeu- gungdesGenius“sogarals„dasZielallerCultur“(KSA1,358,386).Mitdieser Programmatik verbindeter seine Kritikam zeitgenössischen Wissenschaftsbe- triebundBildungssystem,dieanSchopenhauerspolemischeSchriftUeberdie Universitäts-Philosophie anschließt. In diesem Kontext betont Nietzsche die produktive Gefährlichkeit echter Philosophen, um mit dem von ihnen reprä- sentierten Ethos einer genuinen „Liebe zur Wahrheit“ (KSA1, 426–427) dann satirischdenHabitusdesbloßenGelehrtenzukontrastieren(KSA1,394–400), den fragwürdige Sekundärmotivationen antreiben. Im Vergleich mit einer sol- chenMentalitäterscheintihmSchopenhaueralsvorbildlich,undzwaralsPa- radigma autonomer Selbstentfaltung trotz aller äußeren Widerstände und da- mit als unzeitgemäße Verkörperung eines ‚heroischen Lebenslaufs‘ (KSA1, 373). An die Unzeitgemässen Betrachtungen schließt Nietzsche noch in seinem SpätwerkGötzen-DämmerungdurchthematischeKontinuitätenan.Siereichen

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