Die "Monographien aus dem Gesamtgebiete der Neurologic und Psychiatric" stellen cine Sammlung solcher Arbeiten dar, die cinen Einzelgegenstand dieses Gebietes in wissenschaftlich-methodischer Weise behandeln. Jede Arbeit solI cin in sich abgeschlossenes Ganus bilden. Diese Vorbedingung liiBt die Aufnahme von Originalarbeiten, auch solchen groBeren Umfanges, nicht zu. Die Sammlung mochte damit die Zeitschriften "Archiv flir Psychiatric und Nervenkrankheiten, vereinigt mit Zeitschrift flir die gesamte Neurologic und Psychiatric" und "Deutsche Zeitschrift flir Nervenheilkunde" erganzen. Sic wird deshalb Abonnenten zu cinem Vorzugspreis geliefert. Manuskripte nehmen entgegen aus dem Gebiete der Psychiatric: Prof. Dr. M. MULLER, RUfenacht (Bern), HinterhausstraBe 28 aus dem Gebiete der Anatomic: Prof. Dr. H. SPATZ, 6 Frankfurt (Main)-Niederrad, DeutschordenstraBe 46 aus dem Gebiete der Neurologic: Prof. Dr. P. VOGEL, 69 Heidelberg, VoBstraBe 2 MONOGRAPHIEN AUS DEM GESAMTGEBIETE DER NEUROLOGIE UND PSYCHIATRIE HEFT 107 HERAUSGEGEBEN VON M. MULLER-RUFENACHT (BERN) . H. SPATZ-FRANKFURT P. VOGEL-HEIDELBERG KLINIK UND ELEKTROMYOGRAPHIE DER SPONTANAKTIVITKT DES MENSCHLICHEN SKELETMUSKELS VON KLAUS MAYER MIT 28 ABBILDUNGEN SPRINGER-VERLAG· BERLIN· HEIDELBERG· NEWYORK . 1965 Privatdozent Dr. med. Dr. phil. KLAUS MAYER, Dozent fur Neurologie und Psychiatrie, Oberarzt der Neurologischen Klinik und Poliklinik der Universitiit Tiibingen Aus der Neurologischen Klinik und Poliklinik der Universitiit Tiibingen (Direktor: Professor Dr. J. HIRSCHMANN) ISBN-\3: 978-3-540-03369-1 e-ISBN-13: 978-3-642-48188-8 DOl: 10.1007/978-3-642-48188-8 Aile Rechte, insbesondere das der tlbersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdriickliche Genehmigung des Vedages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) oder auf andere Weise zu vervielfoiltigen © by Springer-Verlag Berlin . Heidelberg . 1965 Library of Congress Catalog Card Number 65-22144 Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daB solche Namen im Sinne der Warenzeichen-und Marken schutz-Gesetzgebung aIs frei Zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden diirften Tite! Nr. 6439 Geleitwort Elektromyographisch registrierbare pathologische Aktivitat des ruhenden mensch lichen Skeletmuskels findet sich unter mannigfachen pathologischen Bedingungen. Ihre diagnostische Zuordnung wird haufig von Vorstellungen bestimmt, die der Kritik nicht standhalten und die zu falschen Schlussen uber die Art des der Starung zugrunde liegenden Krankheitsprozesses fUhren. Die Arbeit ist unter der Zielsetzung entstanden, dem Kliniker Einblick zu vermittcln in die verschiedenen Erscheinungs formen pathologischer Aktivitat des Skeletmuskels, in die pathophysiologischen Be dingungen ihres Auftretens und ihre diagnostische Wertung, da eine geschlossene Bearbeitung dieses besonderen Gebietes bisher nicht erfolgte. Die Untersuchungen uber das Zustandekommen pathologischer Spontanentladungen muBten ihren Aus gang nehmen von der Sichtung einer groBeren Zahl definierter Erkrankungen mit klinisch nachweisbarer Funktionsstorung des peripher motorischen Neurons. Hierbei zeigten die elektromyographischen Befunde eindeutig, daB das Auftreten der Spon tanaktivitat zwar selten vermiBt wird bei organischer Lasion der motorischen V order hornzelle und ihrer Axone, daB aber pathologisch-anatomische Veranderungen dieses Systems nicht notwendigerweise als Bedingung fUr die Entstehung zugrunde gelegt werden mussen. Allein schon eine Obererregbarkeit motorischer V orderhornzellen oder peripher motorischer Fasern fUhrt zu Faszikulationspotentialen und hoch frequenten Impulsserien. Den Nachweis hierfUr am Menschen zu erbringen, ist schwierig. Hier setzen die Untersuchungen ein, und es wird gezeigt, daB auch unter der Beschrankung, die das Experimentieren am Kranken auferlegt, wichtige Er gebnisse auf dem speziellen Gebiet zu gewinnen sind. Die lebhafte Spontanaktivitat der nicht im Kontraktionszustand befindlichen Muskulatur unter Einwirkung chro nischer Schmerzzustande in der Peripherie bei anatomisch intaktem, peripher motori schem Neuron bietet u. a. ein gewichtiges Argument fUr die Moglichkeit auch funktioneller Entstehung pathologischer Spontanentladungen. Weitere Einblicke in die Entstehung des Phanomens liefert die artefizielle Ischamie einer Extremitat. Es konnte erstmalig gezeigt werden, daB diese geradezu einen Modellversuch bildet, in verkurzter Zeit diejenigen Erscheinungsformen pathologischer Muskelaktivitat zu erzeugen, die bisher nur in bestimmten Phasen langdauernder organischer Krank heitsprozesse zu gewinnen waren. Mit den vorgelegten Untersuchungsergebnissen werden dem Verstandnis der Entstehung pathologischer Spontanentladung des menschlichen Skeletmuskels neue Grundlagen gegeben. Die gewonnenen Erkenntnisse eroffnen zahlreiche Aspekte, die sich fruchtbar auswirken werden fUr die Einordnung der elektromyographischen Befunde in das Gesamt der verschiedenartigen klinischen Erscheinungsbilder. Tubingen, im Marz 1965 J. Hirschmann Inhaltsverzeichnis I. Einleitung und Aufgabenstellung 1 Methode .......... . 4 II. Klinisch-elektromyographische Untersuchungen . 8 1. Amyotrophe Lateralsklerose . . . . . . . . 8 2. Spinale progressive Muskelatrophie und neurale Muskelatrophie 13 3. Syringomyelie . . . . . . . . . . . . . . . . 15 4. Ischiassyndrom und radikullire Reizerscheinungen . 16 5. Carpaltunnelsyndrom . . . . 16 6. Polyneuritis, Neuritis . . . . . . . . . . . . . 18 7. Periphere Nervenverletzungen . . . . . . . . . 19 8. Chronische Schmerzzustande im Bereich der Extremitliten 22 9. Periphere arterielle Durchblutungsstorungen 24 10. Ergebnisse der klinischen Untersuchungen 27 III. Experimentelle Untersuchungen. . . . . . 27 Sensible und motorische Reizerscheinungen durch Kompression des Oberarmes mit Stau- manschette . 27 m M~~. Ergebnisse . . 29 1. Klinische Befunde 29 a) Wlihrend der Ischlimie 29 b) Postischlimisch. . . . 30 2. Elektromyographische Befunde . 31 a) Wlihrend der Ischlimie 31 b) Postischlimisch. . . . 33 c) Elektromyographische Befunde bei Willkiirinnervation wlihrend der Ischlimie und postischlimisch. . . . . . . . . . . . . 37 3. Versuchsreihe (besondere Versuchsanordnung) . . . . . . . . . . . . . . . .. 39 a) Versuchsanordnung zur Feststellung des Zeitintervalls zwischen Ischlimie und Erst- auftreten von Fibrillationspotentialen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 40 b) Versuchsanordnung zl,lrFrage der raum-zeitlichen Symmetrie sensibler und motori- scher Reizerscheinungen in kontralateralen Extremitliten . . . . . . . . 40 c) Versuchsanordnung. Unterbindung der Blutzirkulation bei Phantomschmerz 42 IV. Besprechung der Ergebnisse 43 V. Zusammenfassung . 51 Literatur . . . . . 53 I. Einleitung und Aufgabenstellung Motorische Reizerscheinungen werden im Gefolge zahlreicher Erkrankungen be obachtet und gelten im allgemeinen als unphysiologische AuBerungsform von Sto rungen im Bereich des peripheren motorischen Neurons oder der Muskulatur. Sie treten unabhangig von der Willktirinnervation auf und werden daher in der Neuro logie und im elektromyographischen Schrifttum als "Spontanaktivitat" oder "Spontanentladungen" bezeichnet. Hierbei darf jedoch nicht tibersehen werden, daB diese motorischen Entladungen tatsachlich die Reizantwort auf unphysiologische Zustandsanderungen des Nerven oder der Muskulatur sind. Treffender und verstand licher ware daher die Bezeichnung "pathologische Aktivitat". Als solche ist auch im folgenden die sogenannte Spontanaktivitat zu verstehen. In der klinischen Neurologie haben das Fibrillieren einzelner Muskelfasern und das Fasciculieren von Muskelfasergruppen besondere differentialdiagnostische und prognostische Bedeutung. Sie werden als Ausdruck beginnender und fortgeschritte ner Muskeldenervierung infolge Degeneration des peripheren motorischen Neurons gewertet. Diese Ansicht findet in den zahlreichen klinischen Beobachtungen und Untersuchungen tiber das Auftreten motorischer Reizerscheinungen nach Durch trennung peripherer Nerven oder bei degenerativen Prozessen der motorischen V or derhornzellen des Rtickenmarks eine Bestatigung. Andererseits treten motorische Reizerscheinungen haufiger auf als tatsachlich eine Degeneration des peripheren motorischen Neurons vorliegt. Muskelfasciculieren wird in zahlreichen Fallen beob achtet und geklagt, obwohl sich keinerlei Hinweise ftir eine Erkrankung des Nerven systems oder der Muskulatur ergeben. Die im Schrifttum vorliegenden klinischen Untersuchungen tiber das Zustandekommen und die diagnostische Wertung motorischer Reizerscheinungen sind verhaltnismaBig gering und zudem sehr widerspruchsvoll. 1m klinischen Sprachgebrauch wird Muskelfibrillieren und Muskelfasciculieren meist gleichbedeutend genannt. Dies ist nicht richtig, denn unter Fibrillieren sollten feine, spontane Zuckungen einzelner Muskelfasern, unter Fasciculieren spontane Zuckungen von Muskelfasergrup pen verstanden werden. Das Muskelfibrillieren ist nur an der Zunge oder an der lediglich unter einer dtinnen Schleimhaut liegenden Muskulatur der Innenseite der Lippen sowie an der tibrigen Musku latur nach Praparation der verdeckenden Haut, des Binde-und Fettgewebes sichtbar. Fibrillieren der Zungenmuskulatur wurde erstmals von SCHIFF (1851) durch Durchschneiden des N. hypoglossus beim Hund und Kaninchen experimentell erzeugt. Weitere Untersuchungen zur Klarung dieses Phanomens ftihrten VULPIAN (1863) (sogenanntes pseudomotorisches Zungenphano men) und HEIDENHAIN (1863) durch. HEIDENHAIN machte eine auch ftir unsere Untersuchungen be merkenswerte Beobachtung: Er komprimierte bei einem Versuch beide Aa. linguales. Die mangelnde Sauerstoffzufuhr war auf der entnervten und der normalen Zungenseite erkennbar, allerdings schnel ler und intensiver auf der gelahmten Zungenseite. LANGLEY (1915) sah in den fibrillaren Zuckungen des degenerierenden Muskels und der damit verbundenen gesteigerten Aktivitat ("over-activity") und einer nachfolgenden Erschopfung die tat sachliche Ursache der Muskelatrophien. SCHIFF beschrieb bereits die zeitlich zunachst vereinzelt auftretenden Fibrillationen, die dann Zu nehmende Ausbreitung des Fibrillierens tiber den ganzen Muskel und das Nachlassen des Fibril lierens bei fortschreitender Muskelatrophie. AuBerdem erkannte er bereits das tierartspezifisch unter schiedliche Zeitintervall zwischen Nervendurchtrennung und Beginn des Fibrillierens, das auch von spateren Untersuchern nachgewiesen wurde. Nach den Untersuchungen von HINES u. KNOOWLTON (1933) tritt nach Durchtrennung des N. ischiadicus Fibrillieren im M. gastrocnemius bei Ratten nach 3 Tagen, nach den Untersuchungen Mayer, Klinik und Elektromyographie 2 Einleitung und Aufgabenstellung von DENNy-BROWN U. PENNYBACKER (1938) bei Katzen nach 5 Tagen auf. Beim Menschen liegt das Intervall zwischen 10 und 18 Tagen und variiert zwischen den einzelnen Extremitatenmuskeln und Muskelgruppen. Man nahm daher an, daB die GroBe der Tierart bestimmend ist flir das Zeitintervall zwischen Nervenlasion und Auftreten des Fibrillierens. Von Luco u. EYZAGUIRRE (1955) wurde demgegenliber der Nachweis der Abhangigkeit dieses Intervalls von der Lange des degenerierenden, distal von der Verletzungsstelle gelegenen Axons er bracht. Auf diese Feststellungen werden wir noch an Hand der eigenen Untersuchungsergebnisse eingehen mlissen. Kein Zweifel besteht auf Grund zahlreicher klinischer Beobachtungen zumindest an dem Auftreten motorischer Reizerscheinungen nach Schadigung des peripher motorischen Neurons. Nach totaler Denervierung eines Muskels lassen sich moto rische Reizerscheinungen zwar gehaufter nachweis en als bei partieller Denervierung. Es trifft aber nicht zu, daB sie nur bei Muskeldenervierung beobachtet werden. Schon von GOLDSCHEIDER (1886) wurde darauf hingewiesen, daB bei Druck auf den Nerven oder Ischamie motorische und auch sensible Reizerscheinungen auftreten konnen. Vorher waren schon im Tierversuch Veranderungen der Erregbarkeit und Leitfahigkeit des Nerven durch unphysiologische Zustandsanderungen festgestellt worden (PFLUGER 1859, ENGELMANN 1870). Bei solchen unphysiologischen Zustands anderungen infolge chemischer oder physikalischer Einwirkungen, die seit WEDENSKY (1900,1903) als Parabiose bezeichnet werden, kommt es entweder zu einer Hemmung neuronaler Funktionen oder zur Dbererregbarkeit und Spontanentladungen, wie sie experimentell von La RENTE DE No ("exalted state" - "rhythmic state") und KLENSCH erzeugt und von KUGEL BERG beim Menschen nachgewiesen wurden. Solche subtilen Untersuchungen der den motorischen Reizerscheinungen entsprechenden motorischen Spontanentladungen gelangen jedoch erst mit Hilfe der Elektromyo graphie. Die Elektromyographie (EMG) ermoglicht, die den motorischen Reizerscheinun gen entsprechende elektrische Spontanaktivitat der Muskel- und Nervenfasern zu registrieren, auch wenn klinisch keine oder noch keine motorischen Reizerscheinun gen nachweis bar sind. Daher gewinnt die Elektromyographie als klinische Unter suchungsmethode zur Friih- und Differentialdiagnose neurologischer Erkrankungen zunehmende Bedeutung. Als Forschungsmethode zur Ableitung und Untersuchung der Muskelaktionspotentiale unter verschiedenen Bedingungen ist sie schon langer bekannt. Die erste Ableitung und Registrierung von Aktionspotentialen gelang bereits DUBOIS-REYMOND im Jahre 1851. Uber elektromyographisch registrierte Spontanaktivitat denervierter Muskelfasern hat PROEBSTER (1928) als erster berichtet. Er beobachtete bei intramuskularer Ableitung mit chlC1- rierten Silbernadeln in schlaff-paretischen Muskeln nach Poliomyelitis kleinste negative "Ruhe schwankungen". Die von PROEBSTER angewandte Ableitung und Registrierung sowie die dargestellten Kurven erlauben allerdings keine sichere Aussage dartiber, ob es sich bei der von ihm beobachteten Spontanaktivitat um die spater als Fibrillationspotentiale bezeichnete Potentialform gehandelt hat. Eine quantitative und qualitative Auswertung der Muskelaktionspotentiale wurde erst mit Hilfe der von ADRIAN u. BRONK im Jahre 1929 eingefiihrten koaxialen Hohl nadelelektrode sowie verbesserter Verstiirker- und Registriergeriite moglich. HOFFMANN u. SOMMER (1938) haben schlie13lich alle wesentlichen elektrophysiologischen Er scheinungen bei Muskeldegeneration nachgewiesen. Sie fanden am quergestreiften degenerierenden Muskel spontane Fibrillationen von 10-15 flY Spannung, die durch Veranderungen des Blut calciumspiegels beeinfluflbar waren. HOFFMANN beschrieb bereits das sogenannte "Einstichphano men" (spater in der anglo-amerikanischen Literatur als "insertion-activity" bezeichnet) und erklarte Einleitung und Aufgabenstellung 3 es durch das Auftreten cines "Reizstoffes" verursacht, wahrscheinlich des Acetylcholins. DENNY BROWN U. 'PENNYBACKER (1938) haben dann in einer eingehenden Untersuchung Fibrillationspoten tiale und Fasciculationspotentiale auf die abnorme Irritabilitat einzelner Muskelfasern, die Fasci culationspotentiale auf irritative Storungen der Vorderhornzellen oder ihres Axons und damit ganzer motorischer Einheiten zurUckgefiihrt. An den von DENNy-BROWN u. PENNYBACKER experimentell gewonnenen Befunden und ihrer Deutung hat sich auch in der Folgezeit nichts Grundsatzliches ge andert. Bei Ruheableitung im entspannten gesunden Muskel lassen sich normalerweise keine Aktionspotentiale nachweisen (BUCHTHAL u. a.). Bei der von GOPFERT gefun denen "Restaktivitat" des ruhenden Muskels handelt es sich nach seinen eigenen Ausfiihrungen und vorgelegten Ableitungskurven urn Aktionspotentiale, die Aus druck einer reflektorischen Muskelspannung sind. Dies gilt auch fur die registrierten Potentialmuster bei Schmerz-und Temperaturreizen (GOPFERT) und bei psychischen Einwirkungen und emotionalen Belastungen (v. EIFF). Nur bei Denervierung und unphysiologischer Zustandsanderung der Muskulatur kommt es zu Spontanaktivitat, also Spontanentladungen von Aktionspotentialen bestimmter Form, vorwiegend den Fibrillations-und Fasciculationspotentialen, die den klinisch nachweisbaren motorischen Reizerscheinungen entsprechen. Daruber hinaus wurden noch weitere Formen pathologischer Aktivitat, vor allem die monophasischen positiven Denervierungspotentiale nachgewiesen, uber deren Ursprungs ort und Ursache jedoch keine einheitliche Meinung herrscht. Ganz allgemein ist Spontanaktivitat der Ausdruck eines Labilwerdens der Muskel fasermembran bzw. der motorischen Endplatte. Der gesunde Muskel besitzt ein hohes und stabiles Membranpotential. Er ist nur durch einen efferenten Impuls von den motorischen V orderhornzellen aus uber die motorischen Endplatten zu aktivie ren, so daG es nur bei unphysiologischen Zustandsanderungen zu Spontanaktivitat aus peripherer Ursache kommen kann. Die Fibrillationspotentiale sind vorwiegend biphasische Aktionspotentiale von kurzer Dauer, relativ niedriger Spannung und geringer Frequenz. Nach den im wesentlichen ubereinstimmenden Untersuchungsergebnissen aller Untersucher, vor allem nach den Untersuchungen KUFFLERS (1942-1945) und LULLMANNS (1960) handelt es sich bei den Fibrillationspotentialen urn eine von neuralen Reizen unab hiingige Spontanaktivitat einzelner Muskelfasern infolge Zustandsanderung dieser Fasern und Labilisation ihrer Membran. Die Ursache der Instabilitat ist aber letzthin trotz zahlreicher pharmakologischer Untersuchungen noch nicht bekannt. Nach den vorliegenden Untersuchungen werden die denervierten Muskelfasern und die motori schen Endplatten sensibilisiert gegenuber Acetylcholin in geringer Konzentration, Nicotin und Coffein (KUFFLER) und Kaliumchlorid. Die Endplatte soll nach De nervierung auf Acetylcholin sogar tausendmal reaktionsfahiger werden als die Muskel membran (NICHOLLS 1956). Chinin und Chinidin k6nnen dagegen vorubergehend die Fibrillationen hemmen. Die Fasciculationspotentiale dagegen sind neurogen durch Spontanerregung peri pherer motorischer Neurone bedingt. Sie sind vorwiegend Ausdruck pathologischer Spontanaktivitat der motorischen V orderhornzellen und ihrer Axone. Es handelt sich bei den Fasciculationspotentialen urn groGe, polyphasische Entladungen, die asyn chron in verschiedenen Bereichen eines Muskels auftreten. Diese Polyphasie ist kenn zeichnend fur eine Desynchronisation der Entladungen der Muskelfasern einer motorischen Einheit. 1* 4 Einleitung und Aufgabenstellung Diese inzwischen experimenteU und empirisch gesicherten Potentialformen mo torischer Spontanaktivitat und andere elektrophysiologische Phanomene ermoglichen klinisch die Objektivierung motorischer Reizerscheinungen und durch bestimmte Versuchsanordnung Einblicke in ihre Entstehungsweise. Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist es, mit Hilfe klinischer und elektromyo graphischer Untersuchungen weitere Hinweise fur die physiologischen und patho physiologischen Bedingungen motorischer Reizerscheinungen und Spontanentladun gen zu gewinnen. Es soUte versucht werden, die bereits bekannten, meist tierexperi mentell gewonnenen Erkenntnisseuber AuBerungsformen und Ursache der diffe rentialdiagnostisch wichtigen motorischen Spontanaktivitat beim Menschen zu er weitern. Es wurden daher elektromyographische Untersuchungen an Kranken mit neurologischen Erkrankungen bekannter Ursache und Lokalisation durchgefiihrt. Zur Erweiterung der dabei gewonnenen Erkenntnisse wurden zusatzliche elektro myographische Ableitungen unter experimenteU variierten Bedingungen und Zu standsanderungen der Muskulatur am Menschen ausgefuhrt. Methode Die Untersuchungen erfolgten mit einem Elektromyographen der Firma DISA-Elektronik, Kopenhagen, der die Ableitung und Registrierung der Muskelaktionspotentiale ohne wesentliche Ver zerrung gestattet und dessen gutes Auflbsungsvermbgen eine Beurteilung der Potentiale ermbglicht. Die mit Elektroden abgeleiteten Aktionspotentiale werden durch einen mehrstungen Rohren verstarker verstarkt und auf Kathodenstrahlrohren (Sichtrohren) dargestellt. In dem von uns be nutzten Elektromyographen ermoglichen [/eldrodefl drei unabhangige Elektrodenverstarkerkreise drei verschiedene Ableitungen in einem oder Verstdrirer verschiedenen Muskeln. Es kann dabei eine Verstarkung zwischen 3 und 1000 ftV/mm gewahlt werden. Ka/l1odensiralilriJ/;refl Die Aktionspotentiale konnen mit Hilfe ( Sichtrohren) eines eingebauten Lautsprechers gleichzeitig akustisch erfafit werden. Das fiir bestimmte Potentialformen oder Potentialmuster cha Kat/;odeflstralilrij/;reo rakteristische Gerausch erlaubt haung eine (Kamerarohren) raschere Orientierung als sie optisch mit Hilfe der Sichtrohren moglich ist. Die Registrierung erfolgt photographisch LalJ/sprecher durch drei weitere Kathodenstrahlrohren (Kamerarohren), die mit den Sichtrohren Abb. 1. Ableitungs-und Registrierschema des DISA parallelgeschaltet sind (Abb. 1). Die Regi Elektromyographen striergeschwindigkeit kann bei fortlaufender Registrierung (continuous) zwischen 5 und 20 msec/mm, bei unterbrochener Registrierung (inter rupted) im Einzelkipp zwischen 0,25, 0,5, 1 und 2 msec/mm gewahlt werden. Die fortlaufende Registrierung erfolgt zur Bestimmung des Aktionspotentialmusters bei Will kiirinnervation, d. h. also des Aktivitatsgrades des Muskels und der Koordination der Aktivitat in verschiedenen Muskelgruppen sowie bei Ruheableitung zur Erfassung von Spontanaktivitat. Die unterbrochene Registrierung gestattet durch raschere Registriergeschwindigkeit von 0,25-2 msec/mm und Einzelkipp eine Auflosung und Analyse der Einzelpotentiale nach Dauer, Spannung und Form. Die Potentialanalyse war fiir unsere Fragestellung besonders wichtig. Es wurden ausschliefilich die fiir klinische Untersuchungen am besten geeigneten konzen trischen Nadelelektroden benutzt, die in den Muskel eingestochen werden. Die konzentrische Nadel elektrode besteht aus einer Stahlkaniile mit eingebettetem Platindraht, der als differente Elektrode die Spannungsdifferenz gegeniiber der Kaniile als indifferenter Elektrode mifit. Der aufiere Durch messer der Kaniile betragt 0,65 mm, die Ableitungsoberflache des Platindrahtes nur 0,4 mm2 (Abb. 2).