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Kampf der Emotionen : wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen PDF

103 Pages·2009·0.482 MB·German
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Preview Kampf der Emotionen : wie Kulturen der Angst, Demütigung und Hoffnung die Weltpolitik bestimmen

Dem Andenken meines Vaters, Jules Moisi, Nummer 159721 in Auschwitz, der tiefste Angst und Demütigung überlebte und mich Hoffnung lehrte Inhalt Vorwort................................................ EINLEITUNG Der Zusammenprall der Emotionen.......... KAPITEL EINS Globalisierung, Identität und Emotionen ... KAPITEL ZWEI Die Kultur der Hoffnung......................... KAPITEL DREI Die Kultur der Demütigung..................... KAPITEL VIER Die Kultur der Angst.............................. KAPITEL FÜNF Grenzfälle............................................. KAPITEL SECHS Die Welt im Jahr 2025............................. Dank.................................................... Anmerkungen................................................................................ Auswahlbibliographie .......................................................... Register................................................................................................ VORWORT Wie Millionen anderer Menschen auf der Welt habe auch ich am 4. November 2008 im Fernsehen die Feier anlässlich des Sieges von Barack Obama bei den US-Präsidentschaftswahlen im Grant Park von Chicago verfolgt. Es war eine Nacht mit vielen bewegenden Bildern. Das stärkste Symbol dieser bemerkenswerten Nacht waren für mich die Freudentränen, die über das Gesicht von Reverend Jesse Jackson liefen. Diese Tränen erinnerten mich an andere, fast zwanzig Jahre zurückliegende Bilder - Bilder wie die von dem großen russischen Musiker Mstislaw Rostropowitsch, der aus seinem Heimatland verbannt worden war und an der gerade gefallenen Berliner Mauer vor den ausgelassen feiernden Menschenmassen Cello spielte. Es waren Tränen des Triumphs und der Versöhnung, Tränen der Eintracht mit der Welt, Tränen, deren frohe Botschaft lautete, dass Männer und Frauen den Lauf der Geschichte zum Besseren wenden können, wenn sie sich von Emotionen - den richtigen Emotionen - leiten lassen. Weniger als ein Monat später brachen sich in Mumbai - der Stadt, die für Indien ein Symbol der Hoffnung ist - die »falschen« Emotionen Bahn, als Demütigung in terroristische Gewalt umschlug. »Weshalb tut ihr uns das an?«, schrie ein Mann, der als Geisel genommen worden war, den Bewaffneten zu, die ihn erschießen wollten. »Wir haben euch nichts getan!«1 »Erinnerst du dich an Babri Masjid?«, schrie einer der Bewaffneten zurück. Er meinte die im 16. Jahrhundert vom ersten muslimischen Mogul-Kaiser Indiens erbaute und 1962 von hinduis-tischen Fanatikern zerstörte Moschee. »Erinnerst du dich an Godhra?«, fragte ein zweiter Angreifer. Er spielte auf die Stadt im indischen Bundesstaat Gujarat an, in der 2002 religiöse Unruhen ausbrachen, die in einen antimuslimischen Pogrom ausarteten. Der Vorfall ist ein weiterer Beleg für die anhaltende Macht von Symbolen - in diesem Fall Symbolen der Demütigung - und ihre Fähigkeit, noch Jahrhunderte später Emotionen wachzurufen und dadurch das Verhalten von Menschen zu steuern. Schon der Titel dieses Buches - Kampf der Emotionen (im englischen Original: The Geopolitics of Emotion) - wird vielen Kritikern als reinste Provokation, wenn nicht gar als ein Widerspruch in sich erscheinen. Denn geht es in der Geopolitik nicht um Vernunft, um objektive Gegebenheiten wie Grenzen, ökonomische Ressourcen, militärische Macht und kaltes politisches Interessenkalkül? Emotionen dagegen gelten ihrem Wesen nach als subjektiv, wenn nicht vollkommen irrational. Emotionen und Geopolitik zu vermengen ist dann ein nutzloses, vielleicht sogar gefährliches Unterfangen, das letztlich in den Abgrund jenes Wahns führt, wie ihn die Volksmassen in Nürnberg verkörperten, zu jener Zeit, als Deutschland unter Hitler in der Barbarei versank. Vielleicht ist es so. Aber wir haben alle noch immer den vollkommenen Gegensatz zu diesem Ausbruch emotionaler Grausamkeit vor unseren Augen: Bundeskanzler Willy Brandt, der am 7. Dezember 1970 in Warschau vor dem Denkmal für Märtyrer des Ghetto-Aufstands auf die Knie fiel und in stiller Andacht um Vergebung bat. Diese machtvolle symbolische Geste war für die Versöhnung Deutschlands nicht nur mit der jüdischen Welt, sondern mit der Welt insgesamt und letztendlich mit sich selbst, wichtiger als jeder Reparationsvertrag. Aus diesem Grund basiert dieses Buch auf einer doppelten Überzeugung. Erstens: Man kann die Welt, in der wir leben, nicht wirklich verstehen, wenn man nicht ihre Emotionen berücksichtigt und sie zu verstehen versucht. Und zweitens sind Emotionen wie Cholesterin, sowohl nützlich als auch schädlich. Das Problem besteht darin, das richtige Gleichgewicht zwischen ihnen herzustellen. Im November 2008 gewann, zumindest eine Zeitlang, die Hoffnung die Oberhand über die Angst. Die Mauer rassistischer Vorurteile fiel, so wie knapp zwanzig Jahre zuvor die Mauer der Unterdrückung in Berlin gefallen war. Offenkundig gab es objektive, vernünftige Gründe für den Wahlsieg Obamas. Die gängige politische Betrachtungsweise sieht in diesem Sieg die Ablehnung jener Politik, die die Vorgängerregierung während einer Zeit, die von langwieriger Kriegführung und einer schweren Wirtschaftskrise geprägt war, verfolgt hatte. Doch sollte man die emotionale Dimension dieser Wahl und das Gefühl des Stolzes, das sie in vielen Amerikanern geweckt hat, nicht unterschätzen. Desgleichen kann man die militärischen Abenteuer Russlands im Kaukasus im Sommer 2008 nicht richtig einordnen, wenn man deren emotionale Bedeutung verkennt. Die Botschaft, die das Moskauer Regime unter Führung von Putin und Medwe-dew nicht nur an die Adresse der Georgier, sondern an die gesamte Welt richtete, war unmissverständlich: »Das imperiale Russland ist wieder da! Nach 1989 habt ihr es gewagt, auf uns herabzublicken. Doch diese Zeiten sind vorbei. Wir sind bereit, die Erniedrigung der postsowjetischen Ära hinter uns zu lassen und unsere neugeborene Hoffnung auf dem Fundament eurer Angst zu errichten.« Im selben Sommer 2008 bemühte sich ein weiteres Regime darum, vergangene Demütigungen auf der globalen Bühne zu überwinden, allerdings nicht durch militärisches Abenteurertum, sondern mithilfe internationaler Sportwettkämpfe. China forderte als Gastgeber der Olympischen Spiele auf symbolische -und emotionale - Weise seine ehedem zentrale Stellung in der Weltgeschichte und die Anerkennung durch die internationale Staatengemeinschaft wieder ein. Durch die spektakuläre Eröff-nungsfeier, die architektonische Schönheit des Olympiastadions und die vielen Medaillen, die chinesische Sportler gewannen, bestand China die Aufnahmeprüfung in die Moderne und erreichte, begleitet vom Schwung atemberaubender Wachstumsraten, einen neuen Gipfel der Hoffnung. Doch während China nach Hoffnung strebt, verharrt die arabische Welt in Resignation und dem negativen Gefühl der Demütigung. Nicht alle Araber - nicht einmal eine Mehrheit - billigen die irrationalen und hasserfüllten Lehren des gewaltsamen Dschihad gegen den Westen. Aber selbst viele gemäßigte Araber glauben nicht an friedlichen Wandel oder den Sinn zivilgesellschaftlichen Engagements, weil sie davon ausgehen, dass alle Politiker unehrlich und korrupt sind. Diese Einstellung mag verständlich sein, aber sie offenbart und verstärkt genau das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das Fortschritt und Entwicklung in der ganzen arabischen Welt behindert. Im Iran, einem Land, das muslimisch, aber nicht arabisch ist, kam es bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen im Juni 2009 zu einem Zusammenprall der Emotionen zwischen der Kultur der Angst der Anhänger des amtierenden Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad und der Kultur der Hoffnung all derjenigen, die den Wandel herbeisehnen und sich hinter Mir Hossein Mussawi scharen. Die Bannerträger der Angst haben die Macht an sich gerissen. Doch angesichts wachsender Spannungen und Differenzen unter ihnen mag die Hoffnung schließlich doch noch obsiegen. Angst gegen Hoffnung, Hoffnung gegen Demütigung, Demütigung, die zu blanker Irrationalität und gelegentlich sogar zu Gewalt führt I man kann die Welt, in der wir leben, nicht verstehen, wenn man sich nicht mit den Emotionen befasst, die sie mitgestalten. Während ich diese Zeilen sechs Monate nach dem Amtsantritt von Barack Obama schreibe, ist die Finanz- und Wirtschaftskrise noch keineswegs vorüber: Längst hat sie auf Asien übergegriffen, den Kontinent, der bis vor Kurzem der Hauptmotor des weltwirtschaftlichen Wachstums war. Was wird sich auf globaler Ebene durchsetzen: der Geist der Hoffnung, den Obamas Wahlsieg wachgerufen hat, oder der Geist der Angst, der durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch um sich greift? Das lässt sich unmöglich vorhersagen. Viel wird von der Fähigkeit des neuen amerikanischen Präsidenten abhängen, auf Worte Taten folgen zu lassen, die Politik in den Augen der Bürger seines Landes zu erneuern und ihre Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Aber viel hängt auch vom Geschick der chinesischen Führung ab, die mit der größten Herausforderung seit Jahrzehnten konfrontiert ist. Zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte wird die Zukunft des Planeten nicht mehr nur von den Maßnahmen bestimmt, die der demokratische Westen ergreift. Vielleicht werden wir bald wissen, ob zentralistische, nicht-demokratische Regime, wie etwa das chinesische, Wirtschaftskrisen besser bewältigen können als die Vereinigten Staaten. Dieses Buch hat seine eigene Geschichte, die ein wenig an eine Matroschka, eine traditionelle russische Steckpuppe, erinnert. Es begann mit meiner Kolumne bei Project Syndicate im März 2006, die den Titel trug »The Emotional Clash of Civilizations« (Der emotionale Zusammenprall der Kulturen). Mein ehemaliger akademischer Lehrer und heutiger Kollege an der Harvard University, Stanley Miller, ermunterte mich, daraus einen kurzen Essay zu machen, der im Januar 2007 in der amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs erschien. Dieser Beitrag mit dem Titel »The Clash of Emotions« (Der Zusammenprall der Emotionen) löste eine lebhafte Debatte aus, und ich wurde eingeladen, meine These in verschiedenen amerikanischen Medien vorzustellen und zu verteidigen. Dazu gehörte auch ein Vortrag in der populären National Public Radio-Sendung On Point, und einer der Zuhörer, Charlie Conrad von Random House, bat mich, meinen Foreign Affairs- Aufsatz in ein Buch umzuarbeiten. So ist Kampf der Emotionen entstanden. Im Unterschied zu dem Essay, auf dem es basiert, ist das Buch viel detaillierter ausgearbeitet und daher in seiner Darstellung nuancierter. Außerdem hat sich die Welt in den letzten beiden Jahren grundlegend gewandelt. Während das Ausmaß an Demütigung gleich geblieben ist, scheinen Hoffnung und Angst in einer sehr parallelen Weise exponentiell zugenommen zu haben. Die zentrale These dieses Buches aber hat sich nicht geändert. Schließlich sind Emotionen nach wie vor essentiell für das Verständnis der Natur und der Entwicklung der Welt, und aller Voraussicht nach wird dies auch so bleiben, solange die Menschheit existiert. Dominique Moisi Joigne 28. Juli 2009 Der Zusammenprall der Emotionen »Die Globalisierung ist super, aber sie betrifft uns nicht wirklich. Wir sind weder Asiaten noch Westler. Wir können es nicht schaffen; wir werden es nicht schaffen.« Es war im Sommer 2000. Ich war eingeladen, eine internationale Konferenz über Globalisierung an der Universität von Al Akhawayn zu leiten, einer Wirtschaftshochschule in der im Atlasgebirge liegenden Stadt Ifrane, sechzig Kilometer westlich von Fez, die die Könige von Marokko und Saudi-Arabien gemeinsam gegründet hatten. Englisch ist die Unterrichtssprache an der Hochschule, und die Studenten wären auch an einer Universität in Kalifornien oder Ohio nicht weiter aufgefallen. Das Tragen des Schleiers ist verboten; junge Männer und junge Frauen gingen Hand in Hand oder lagen zwanglos nebeneinander auf dem makellosen Rasen, dessen leuchtendes Grün sich von der ausgedörrten Landschaft um den Campus herum abhob. Die Studenten, die wissen wollten, was einen Franzosen dazu bewog, an dieser Konferenz teilzunehmen, luden mich eines Abends ein, ihnen Gesellschaft zu leisten. Sie unterhielten sich auf Französisch mit mir, einer Sprache, die ihnen noch immer geläufiger ist als Englisch. Die Globalisierung faszinierte sie, aber sie wollten mit mir über ihre grundlegenden Zweifel an sich selbst und über ihre Unsicherheit im Hinblick auf die Zukunft sprechen. Mich verblüffte das mangelnde Selbstvertrauen, das in jenen Worten eines Studenten, »die Globalisierung betrifft uns nicht wirklich«, zum Ausdruck kam. Diese jungen Leute gehörten zur Elite Marokkos; sie waren Kinder der Mittelschicht, und viele Marokkaner erhofften sich von ihnen eine grundlegende Wende zum Besseren im Land. Was war der Grund für ihre tiefen Zweifel an der eigenen Fähigkeit, die Zukunft zu meistern? 16 Einleitung Mir fielen mehrere mögliche Erklärungen ein. Vielleicht hatten sie Zweifel an den politischen Erfolgschancen ihrer Regierung. (Die Studenten äußerten sich durchaus positiv über den neuen König, der gerade den Thron bestiegen hatte, aber ihre skeptischen Mienen straften ihre Worte Lügen.) Vielleicht hing ihr mangelndes Selbstvertrauen auch mit der geographischen Lage ihres Landes zusammen - das so nahe an Europa, aber auf der »falschen Seite« des Mittelmeeres lag oder es lag an ihrem kulturellen und religiösen Erbe. Was immer der Grund sein mochte, ihre Botschaft an mich war unmissverständlich: Wenn sie in der Welt der Globalisierung Erfolg haben sollten, dann als Individuen, nicht als Repräsentanten ihres Heimatlandes, und der Durchbruch würde vermutlich nicht in Marokko geschehen. Einige Jahre später machte ich auf einer internationalen Konferenz in Deutschland die Bekanntschaft eines intelligenten jungen marokkanischen Professors, der an einer nordamerikanischen Universität lehrte. Er stammte aus einer sehr armen ländlichen Region in Südmarokko und hatte von Hassan IL ein Stipendium für ein Auslandsstudium erhalten, das jedoch aufgrund der in Marokko weit verbreiteten Korruption nie bei ihm angekommen war. Irgendein Bürokrat hatte das Geld jemand anderem zugeschanzt, vermutlich einem Studenten mit guten Beziehungen und Zugang zur Elite des Landes. Nach zahlreichen Umwegen hatte er es endlich und wie durch ein Wunder »geschafft«, aber das war ihm eindeutig aus eigener Kraft gelungen. Er war in seinem eigenen Land ein Außenseiter, und er hatte nicht die geringste Absicht, dorthin zurückzukehren. Im Winter 2006 besuchte ich zum ersten Mal Indien. Nach meiner Ankunft in Mumbai, einem der Symbole des indischen Wirtschaftswunders, war ich fasziniert von dem, was ich sah. Auf der Fahrt vom Flughafen ins Stadtzentrum wurde ich sehr schnell daran erinnert, dass Indien die größte Unterschicht weltweit hat: Die Armen und Obdachlosen hausten in Lärm und Gestank, direkt neben der stark befahrenen Straße. Dennoch beeindruckte mich die schiere Energie der Stadt; Mumbai schien Hoffnung auszustrahlen. Suketu Mehta, ein indischer Schriftsteller und Journalist, der zurzeit in New York lebt, hat eine Erklärung für das Lebensgefühl, das ich bei diesem Besuch spürte: »Mumbai«, schrieb er, sei ein Ort »an dem deine Kastenzugehörigkeit keine Rolle spielt, wo eine Frau allein in einem Restaurant essen kann, ohne belästigt zu werden, und wo man die Person heiraten kann, die man heiraten möchte. Junge indische Dorfbewohner fühlen sich nicht nur vom Geld, sondern auch von den Freiheiten Mumbais angezogen.«2 Dieser überbordende Optimismus beeindruckte mich. Die Ärmsten der Armen strömen weiterhin nach Mumbai, in dem festen Glauben, dass es ihren Kindern und Enkeln einmal besser gehen wird, auch wenn ihnen selbst noch nicht der Durchbruch gelingt. Der Gegensatz zwischen den wohlhabenden jungen Leuten in Marokko und den Armen von Mumbai ist bemerkenswert. Während Erstere die Globalisierung als eine bereits verlorene Herausforderung erleben, sehen Letztere darin, trotz widrigster Umstände, eine Chance. Und jetzt eine dritte Beobachtung aus einer weiteren Stadt. Am 7. Juli 2006 ging ich durch die Straßen von London. Es war genau ein Jahr, nachdem die Bombenanschläge von 2005 die Stadt erschüttert hatten. Ich spürte, dass die Erinnerung an diese Ereignisse bei allen Menschen noch sehr lebendig war. Ich stieg in einen Zug der Londoner U-Bahn ein und hatte den Eindruck, die Anspannung förmlich mit Händen greifen zu können. Wann und wo würde der nächste Terroranschlag stattfinden? Die wenigen Fahrgäste musterten sich gegenseitig misstrauisch. An einer U-Bahn-Station stieg eine junge Frau mit fast völlig verschleiertem Gesicht zu, setzte sich mit einem schweren Rucksack mir gegenüber und psalmodierte etwas, das sich für mich wie ein Gebet anhörte. Plötzlich glaubte ich, mein letztes Stündlein habe geschlagen. Ich war fest davon überzeugt, dass sie sich jeden Moment selbst in die Luft sprengen würde. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken; ich konnte kaum atmen. An der nächsten Haltestelle stürzte ich aus dem Zug. Ich war nicht der Einzige, der das tat, denn auch die meisten anderen Fahrgäste waren von Angst erfüllt. Die junge Frau blieb fast allein in dem U-Bahn-Wagen zurück; ihre Vereinzelung und Verlassenheit waren wie ein Spiegel unserer Ängste und Vorurteile. Ihr Schleier beschützte nicht nur ihre »Tugendhaftigkeit«, sondern isolierte sie auch, indem er sie, in unseren Augen, mit einer Art Nimbus des Terrors umgab, der sie zu einem wandelnden Minenfeld machte. Ich befand mich in einer Weltfinanzmetropole, einer geschäftigen, wohlhabenden Stadt, die zugleich - zumindest an diesem Tag - von Angst beherrscht wurde. Demütigung in Ifrane, Hoffnung in Mumbai, Angst in London. Haben diese drei Momentaufnahmen und die drei verschiedenen Gefühlslagen, die sie veranschaulichen, irgendeine Aussagekraft, die über sie selbst hinausweist? Stehen sie für grundlegende kulturelle Strömungen in bestimmten Regionen oder bestimmten Bevölkerungsgruppen? Und falls ja: Wie wirken sich diese Emotionen möglicherweise auf die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Konflikte aus, die unsere Welt heimsuchen? Mit diesen Fragen habe ich in den letzten Jahren gerungen. Es gab eine Zeit, als Experten für internationale Beziehungen die Bedeutung von Emotionen herunterspielten. Die Weltpolitik war ein Feld, das einer privilegierten Kaste von Fachleuten vorbehalten war, überwiegend europäischen Aristokraten, die die internationale Politik als eine Art Schachspiel betrachteten. Sie gingen davon aus, dass Staaten und Regierungen rational handelten. Emotionen sollten unter Kontrolle gehalten werden, denn sie erhöhten lediglich die Irrationalität in einer Welt, die sich bereits in einem natürlichen Zustand der Unordnung befand. Daher wurden emotionale Dispositionen durch internationale Abkommen, die Ordnung in eine ungestüme Welt bringen sollten, eingedämmt und kanalisiert. So beendete der Westfälische Friede im Jahr 1648, der das Ergebnis des ersten großen internationalen Kongresses der Geschichte war, den Dreißigjährigen Krieg und errichtete eine europäische Ordnung, die heftige Gefühlsaufwallungen wie etwa religiösen Fanatismus in Schach halten sollte. Emotionen lassen sich allerdings nicht leicht im Zaum halten. Sie entluden sich - mit umso größerer Macht - in der Französischen Revolution von 1789, wurden dann vom Wiener Kongress, der im Jahr 1815 das Ende des napoleonischen Abenteuers besiegelte, abermals zurückgedrängt, nur um in den Revolutionen von 1848 erneut hervorzubrechen. Zwischen der russischen Oktoberrevolution von 1917 und dem Fall der Berliner Mauer 1989 traten Ideologien an die Stelle nationaler Leidenschaften. Man könnte das 20. Jahrhundert sogar das Zeitalter der Ideologie nennen. Das Ende dieser Epoche veranlasste den Historiker Francis Fukuyama dazu - voreilig, wie sich zeigen sollte das Ende der Geschichte zu postulieren.3 Sein Irrtum war verständlich. Schließlich war die Geschichte über mehrere Generationen hinweg von ideologischen Auseinandersetzungen angetrieben worden; lag es jetzt, wo eines der beiden Lager des zentralen Konfliktes dieser Epoche in sich zusammengebrochen war, nicht nahe anzunehmen, dass das ständige Kräftemessen, woraus Geschichte letzten Endes besteht, vorüber sein könnte? Es sollte - konnte - nicht so kommen. Heute hat die Identitätssuche von Menschen, die nicht wissen, wer sie sind, wo ihr Platz in der Welt ist und wie es um ihre Zukunftschancen bestellt ist, die Ideologie als Motor der Geschichte abgelöst. Die Folge davon ist, dass den Emotionen in einer Welt, in der die Medien die Funktion eines Resonanzbodens und eines Vergrößerungsglases innehaben, eine größere Bedeutung zukommt als je zuvor. 20 Einleitung In einem weiteren Sinne haben Emotionen - ob nun religiöse, nationale, ideologische oder auch rein persönliche - natürlich schon immer eine Rolle gespielt. Während des gesamten 19. und 20. Jahrhunderts bestimmten Emotionen die Politik auf maßgebliche Weise. Sogar Immanuel Kant war am Tag der Schlacht von Valmy im Jahr 1792, als die Armeen der Französischen Revolution die alliierten Koalitionstruppen besiegten, die das Ancien Régime verteidigten, so aufgeregt, dass er seine Arbeit unterbrach - angeblich eines von nur zwei Ereignissen, die die berühmte Selbstdisziplin des Königsberger Philosophen zu Fall brachten. (Das andere Ereignis soll die Veröffentlichung von Rousseaus Du contrat social im Jahr 1762 gewesen sein.) Die totalitären Bewegungen des 20. Jahrhunderts waren auf leidenschaftliche Weise ideologisch. Wenn wir den immensen Einfluss von Emotionen verkennen, die uns stärker im Griff zu haben scheinen als wir sie, können wir den Gang der Geschichte schlichtweg nicht verstehen. In diesem Buch konzentriere ich mich auf drei grundlegende Emotionen: Angst, Hoffnung und Demütigung. Wieso ausgerechnet diese drei? Wieso nicht Ärger, Verzweiflung, Hass, Groll, Wut, Liebe, Ehre, Solidarität...? Weil alle drei eng mit dem Begriff der Zuversicht (engl, confidence, nachfolgend auch mit »Selbstvertrauen« übersetzt) zusammenhängen. Und weil Zuversicht die Art und Weise bestimmt, wie Nationen und Menschen die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, angehen, und Einfluss darauf hat, welche Beziehungen sie zu anderen pflegen. Angst ist die Abwesenheit von Selbstvertrauen. Ein Mensch, dessen Leben von Angst beherrscht wird, fürchtet sich vor der Gegenwart und erwartet, dass die Zukunft immer gefährlicher wird. Hoffnung dagegen ist ein Ausdruck von Zuversicht; sie beruht auf der Überzeugung, dass die Gegenwart besser als die Vergangenheit ist und die Zukunft besser sein wird als die Gegenwart. Demütigung wiederum ist das gekränkte Selbstver- trauen derjenigen, die die Hoffnung in die Zukunft verloren haben; ihre Hoffnungslosigkeit ist die Schuld von anderen, die sie in der Vergangenheit schlecht behandelt haben. Wenn der Gegensatz zwischen einer idealisierten, ruhmreichen Vergangenheit und einer als frustrierend empfundenen Gegenwart allzu groß ist, gewinnt das Gefühl der Demütigung die Oberhand. Wenn man diese drei Emotionen in drei Formeln zusammenfassen wollte, würde der Satz der Hoffnung lauten: »Ich will es tun, ich kann es tun, und ich werde es tun.« Die Formel der Erniedrigung lautete: »Ich werde es nie schaffen« und führte vielleicht zu: »Ich könnte genauso gut versuchen, dich zu vernichten, da ich nie mit dir gleichziehen kann.« Und die der Angst wäre die Frage: »Lieber Himmel, die Welt ist zu einem so gefährlichen Ort geworden; wie kann ich mich vor ihr schützen?« Diese drei Emotionen drücken den Grad des Selbstvertrauens und der Zuversicht aus, den jemand hat. Zuversicht ist für Nationen und Kulturen genauso wichtig wie für Individuen, weil Zuversicht einem erlaubt, der Zukunft hoffnungsvoll entgegenzusehen, seine Fähigkeiten auszuschöpfen und sogar über diese hinauszuwachsen. Selbstvertrauen, das nicht mit Selbstüberhebung verwechselt werden sollte, ist eines der wichtigsten Elemente einer intakten Weltordnung. Wie jedoch, so mag man fragen, lässt sich eine so abstrakte Eigenschaft wie Selbstvertrauen auf nationaler Ebene erfassen? Es gibt mehrere Möglichkeiten. Man kann Selbstvertrauen sowohl objektiv als auch subjektiv messen. Einige seiner Indikatoren mögen auf den ersten Blick etwas trivial anmuten. So sind etwa in der heutigen Welt Fernsehübertragungen von Sportveranstaltungen zu einer Art säkularer Religion geworden, wo der Sieg auf dem Spielfeld die Moral eines ganzen Volkes, wenn auch nur für kurze Zeit, heben kann und sich vielleicht sogar nachweislich auf das nationale Selbstvertrauen auswirkt. Vergegenwärtigen wir uns nur die Auswirkungen des Sieges des US-Eishockeyteams über seine sowjetischen Gegner bei den Olympischen Spielen von 1980 oder jüngere Beispiele aus Europa, wie den Sieg Frankreichs bei der Fußballweltmeisterschaft 1998 und den Sieg Spaniens bei der Fußball-Europameisterschaft 2008. Wenn die eigene Mannschaft bei einem internationalen Wettbewerb gewinnt, fühlt man sich in einer Art »Siegestaumel« mit der eigenen Nationalmannschaft vereint. Auch in der Architektur, in der bildenden Kunst oder der Musik kann das Selbstvertrauen einer Nation zum Ausdruck kommen. Denken wir nur an die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts, jene Kunst des Goldenen Zeitalters, in der sich der Stolz auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Errungenschaften der holländischen Kaufmannschaft: widerspiegelte. Oder man denke an die Musik Purcells, die Ruhm und Glanz des nachrevolutionären Englands feiert. Auf objektivere Weise lässt sich Selbstvertrauen vermittels sogenannter Vertrauensindikatoren erfassen. Diese messen mit wissenschaftlicher Genauigkeit das Vertrauen einer Bevölkerung in ihre eigene Zukunft, das sich am greifbarsten in ihrem Ausgabenverhalten niederschlägt. Auch die Höhe der Investitionen ist ein Maß für Zuversicht. So war etwa die Tatsache, dass die Russen ihr Geld wieder in ihrem eigenen Land investierten, ein Anzeichen für das gegenwärtige Wiederaufleben des nationalen Selbstvertrauens in der ehemaligen Sowjetunion. Geburtenziffern sind ein vielschichtiger Indikator. Sozio-ökonomischer Fortschritt bedingt oft eine Zunahme des Individualismus, der wiederum zu einem Rückgang der Geburtenziffern führen kann, begleitet von steigendem Wohlstand. Aber auch wirtschaftliche und soziale Hoffnungslosigkeit können einen Geburtenrückgang auslösen, in dem sich nicht Wohlstand, sondern Zukunftsangst widerspiegelt. In der Geopolitik kann sich Zuversicht in Abkommen zwischen Staaten niederschlagen. So gesehen sind die vertrauensbildenden Maßnahmen, die China und Indien Anfang der Neunzigerjahre ergriffen haben, ein Indiz für den wachsenden Optimismus der beiden asiatischen Giganten. Selbstverständlich sind Emotionen wie Demütigung, Hoffnung und Angst viel stärker miteinander verzahnt, als meine Anekdoten erahnen lassen. Angst ist nie weit von Hoffnung entfernt, und man müsste nicht tief graben, um festzustellen, dass hinter Angst und sogar Hoffnung oftmals Demütigung lauert. Dieses Buch spiegelt die persönliche Erfahrung eines »leidenschaftlich gemäßigten« Mannes wider, der sein Leben dem Studium der internationalen Beziehungen gewidmet hat. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass vereinfachte Sichtweisen der Weltgeschichte - ob allzu positive wie Fukuyamas Lobpreis des »Siegs der Demokratie« oder übermäßig negative wie Samuel Huntingtons »Kampf der Kulturen«4 - schlichtweg gefährlich sind. Aus diesem Grund bietet dieses Buch keine allumfassende Theorie der Weltpolitik an. Vielmehr möchte es ein Korrektiv zu den vereinfachten Anschauungen liefern, die allzu oft den Diskurs beherrschen. Es geht gerade um die Mischung von Gefühlslagen und um jene Grautöne, die der Welt am ehesten gerecht werden. Ich bin selbstverständlich nicht der Einzige, der die Bedeutung von Emotionen betont. Von Piaton bis Hobbes, von Kant bis Hegel haben Philosophen von jeher die Rolle und den Einfluss der Leidenschaften hervorgehoben, im Gegensatz zum marxistischen Begriff des Klasseninteresses, dem zufolge das Verhalten von Menschen durch ihren sozioökonomischen Status bestimmt wird. Doch ist dies kein Buch über die Geschichte der Emotionen. Es ist ein Essay über die Globalisierung und die Notwendigkeit, sich mit Emotionen zu befassen, um unsere im Wandel begriffene Welt zu verstehen, ein Versuch, die Globalisierung gewissermaßen in ihrer emotionalen Dimension zu vermessen. Bei diesem Projekt haben mir meine geistigen Mentoren geholfen, Stanley Hoffmann in Harvard und Pierre Hassner in Paris die in ihren Arbeiten den Einfluss von Emotionen auf die Geo-politik herausgestrichen haben. Sie waren meine akademischen Lehrer, bevor ich ihr Kollege und Freund wurde, und sind, wie ich, beide Schüler von Raymond Aron. In seinen zahlreichen Aufsätzen hat mir Pierre Hassner die Augen für die Vielschichtigkeiten der Weltpolitik und die Gefahren der Vereinfachung geöffnet,5 während Stanley Hoffmann, der aufgeschlossenste und großzügigste Lehrer, den ich je hatte, mich in der tiefen Überzeugung bestärkte, dass es realistisch ist, moralisch zu sein.6 Dennoch ist meine Herangehensweise in dieser Arbeit eine andere als ihre. Sie ist sowohl impressionistischer als auch globaler, und außerdem streue ich bewusst persönliche Anekdoten und Beispiele aus Kunst und Kultur ein. Es ist ein sehr persönliches Werk, in dem ich meine eigenen Gedanken und Gefühle zum Ausdruck zu bringen versuche, während ich die Auswirkungen menschlicher Emotionen auf die großen Ereignisse, die sich in der Welt um uns herum entfalten, im Allgemeinen erkunde. Ich hoffe, dass meine Beobachtungen beim Leser Widerhall finden, ihm tiefere Einblicke in die Trends vermitteln, die unsere Welt prägen, und ihm die erfolgversprechendsten Lösungsansätze aufzeigen. Kapitel Eins Globalisierung, Identität und Emotionen Im Zeitalter der Globalisierung sind Emotionen ein unentbehrlicher Faktor geworden, wenn es darum geht, die Komplexität der Welt, in der wir leben, zu durchdringen. Verstärkt durch die Medien, reflektieren und reagieren Emotionen auf die Globalisierung und beeinflussen ihrerseits die Geopolitik. Die Globalisierung mag die Welt »flach« gemacht haben, um die berühmte Metapher des Journalisten Thomas Friedman zu zitieren, aber sie hat die Welt auch den Leidenschaften stärker preisgegeben als je zuvor.7 Wir werden gleich die Gründe dafür genauer betrachten. Aber zunächst müssen wir uns darüber verständigen, was Globalisierung überhaupt ist, da viele Missverständnisse diesbezüglich im Umlauf sind. In seinem Buch Globalisierung verstehen definiert Friedman die Globalisierung als das internationale System, das den Kalten Krieg abgelöst habe.8 Anders als das System des Kalten Krieges sei die Globalisierung nicht statisch, sondern ein dynamischer, fortlaufender Prozess, der die unaufhaltsame Integration von Märkten, Nationalstaaten und Technologien in einem nie dagewesenen Ausmaß betreibe; dies vollziehe sich in einer Weise, die Individuen, Unternehmen und Staaten weltweit befähige, umfassender, schneller, beziehungsreicher und kostengünstiger als je zuvor zu agieren. Derselbe Prozess erzeuge auch eine starke Gegenreaktion seitens derjenigen, die von dem neuen System brutal behandelt oder zurückgelassen würden. Für viele Menschen, insbesondere die Kritiker der Globalisierung, ist diese gleichbedeutend mit Amerikanisierung. Die Ausweitung des amerikanischen Einflusses - politisch, ökonomisch und kulturell - reicht mindestens bis zum Zweiten Weltkrieg zurück, doch nach dem Ende des Sowjet- Imperiums im Jahr 1991, als die Vereinigten Staaten die einzige verbliebene Supermacht waren, verstärkte sich dieser Prozess. Daher ist die zunehmende Verflechtung der Volkswirtschaften und Kulturen der Welt faktisch eine Verflechtung zu amerikanischen Bedingungen. Folglich verknüpfen die heutigen Protestbewegungen gegen die Globalisierung, die mit der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise an Schärfe gewinnen, in ihrem Kampf um Gleichheit, fairen Handel und nachhaltige Entwicklung antiamerikanische Affekte mit einer Kapitalismuskritik. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich indes, dass eine Gleichsetzung der Globalisierung mit einer Amerikanisierung die Dinge simplifiziert. Tatsächlich verhält es sich so, dass zwar der kulturelle Einfluss der Vereinigten Staaten weltweit allgegenwärtig und beispiellos ist, der Westen aber wirtschaftlich von Asien überholt wird. In der jetzigen Phase der Globalisierung spiegelt sich das Mündigwerden des asiatischen Kontinents wider, mit der Folge, dass sich das ökonomische Machtzentrum vom amerikanisch dominierten Westen nach China und Indien verlagern wird. Die Globalisierung lässt sich daher als Verbindung zweier grundverschiedener Phänomene betrachten, die man entweder als unvereinbar oder als komplementär ansehen kann. Einerseits erleben wir die Auswirkungen einer kulturellen Amerikanisierung der Welt. Der französische Ökonom Daniel Cohen vertritt die Ansicht, der allmähliche Rückgang der Geburtenziffern auf der Südhalbkugel gehe unmittelbar auf die Beliebtheit amerikanischer Fernsehserien zurück, die dazu geführt hätten, dass Familien mit zwei Kindern zu einem allgemeinen Ideal geworden seien.9 Andererseits setzt der wirtschaftliche Aufstieg Asiens dem Monopol des westlichen Modells ein Ende. Die weltweite Vormachtstellung des Westens, die mit der britischen Kolonialherrschaft in Indien Mitte des 18. Jahrhunderts sowie dem Niedergang Chinas zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann und die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte, scheint an ein Ende zu kommen. Für Historiker, die seit Langem wissen, dass Aufstieg und Fall von Imperien einem zyklischen Muster folgen, stellt dies keine Überraschung dar. So entsteht eine Situation »asymmetrischer Multipolarität«: Die Hauptakteure auf der Weltbühne sind nicht nur ungleich im Hinblick auf Macht und Einfluss, auch die jeweiligen Sichtweisen der internationalen Politik unterscheiden sich grundlegend. Während Amerika und Europa ihre internationalen Beziehungen nach wie vor auf der normativen Grundlage eines Glaubens an universelle Werte zu gestalten versuchen, scheinen sich China und Indien sowie mittlerweile auch das postkommunistische Russland weit weniger für eine vernünftig funktionierende Weltordnung zu interessieren als für ihre eigene Machtposition in der Welt. (So sollen etwa die riesigen Öl- und Gasreserven Russlands nicht etwa der weltweiten Anhebung des Lebensstandards zugutekommen, sondern vielmehr Russlands Einfluss und seine rechtmäßige Stellung im internationalen System erneuern.) Entsprechend hat sich China in pragmatischer Weise ein Beispiel an Singapur genommen. Dieser Stadtstaat, der konfuzianische Werte mit einem aufgeklärten Despotismus im Stil des europäischen 18. Jahrhunderts verbindet, spielte in der Entwicklung des modernen China eine wichtige Rolle. Als Chinas neuer starker Mann, Deng Xiaoping, im Februar 1978 Singapur einen diplomatischen Besuch abstattete, erkannte er das »Moskito-Loch«, das ihm von einem Aufenthalt in den 1920er Jahren im Gedächtnis geblieben war, nicht wieder. Gerade mal ein Jahrzehnt nach seiner Entlassung in die Unabhängigkeit im Jahr 1965 war Singapur bereits eine wohlhabende Stadt, die sich unter der strengen, aber aufgeklärten Führung von Lee Kuan Yew dem Kapitalismus verschrieben hatte. Sobald sie die Fesseln des sozialistischen Wirtschaftsmodells abgestreift hätten, sagte Lee Kuan Yew zu Deng Xiaoping, sollten die kommunistischen Erben von den Mandarinen des Reichs der Mitte ökonomisch noch erfolgreicher sein als die Nachfahren armer Kleinbauern aus Südchina. Und tatsächlich haben Deng und seine Nachfolger diesen Rat beherzigt. Für China hat sich dieser pragmatische Ansatz ausgezahlt. Der bemerkenswerte wirtschaftliche Erfolg des Landes wurde ohne Demokratisierung und ohne Rechtsstaatlichkeit erreicht. Unterdessen hat die Demokratie im Rest der Welt aufgrund des inflationären Gebrauchs, den die Regierung Bush in ihrem Bestreben, die geopolitischen Ambitionen der Vereinigten Staaten zu rechtfertigen, von diesem Begriff machte, eine gefährliche Entwertung erfahren. Der Gegensatz zwischen dem demokratischen Ideal und dessen praktischer Umsetzung in allzu vielen westlichen und nicht-westlichen Ländern mag die von mir erwähnte Machtverschiebung von Amerika nach Asien zumindest teilweise erklären. Wenn Demokratien den Glauben an demokratische Modelle verlieren und wenn autokratische Regime durch hohe wirtschaftliche Wachstumsraten in Verbindung mit politischer Stabilität in

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