Jörg Hagedorn Jugendkulturen als Fluchtlinien Erlebniswelten Band 13 Herausgegeben von Winfried Gebhardt Ronald Hitzler Franz Liebl Jörg Hagedorn Jugendkulturen als Fluchtlinien Zwischen Gestaltung von Welt und der Sorge um das gegenwärtige Selbst Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 1.Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VSVerlag für Sozialwissenschaften | GWVFachverlage GmbH,Wiesbaden 2008 Lektorat:Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werkeinschließlichallerseiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmungdes Verlags unzulässig und strafbar.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen,Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspei- cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen,Handelsnamen,Warenbezeichnungen usw.in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme,dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung:KünkelLopka Medienentwicklung,Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung:Krips b.v.,Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15982-9 Vorwort .............................................................................................7 1. Einleitung......................................................................................... 9 2. Theoretische Ortsbestimmungen und Stand der Forschung 2.1 Popkultur als Ort kultureller, sozialer und politischer Auseinandersetzungen .................................................................................... 21 2.2 Jugendkulturen als Protest- und Widerstandskulturen ...............................27 2.3 Jugendkulturelles Handeln als kunstvolles Handeln ...................................35 2.4 Jugendkulturen in den Segmentaritäten von Gesellschaft .........................41 2.5 Über den Un-Sinn von Techno als Widerstandskultur – Zugleich ein kritischer Blick auf den Stand der Forschung ......................45 3. Empirischer und methodischer Bezugsrahmen 3.1 Empirischer Fokus der Arbeit und Markierung zentraler Forschungslücken .............................................................................................57 3.2 Anlage und Ziele der Studie.............................................................................65 4. Die Methode der Objektiven Hermeneutik...........................................69 4.1 Sinnstrukturiertheit sozialer Realität und regelgeleitetes Handeln ....................................................................................70 4.2 Die Analyse objektiver Sinn- und Bedeutungsstrukturen in der Fallrekonstruktion ............................................................................................72 4.3 Ausdrucksgestalten sozialer Realität und ihre Verfügbarkeit als Protokoll ......................................................................................................74 4.4 Edierte Ausdrucksgestalten im Internet als ein mögliches Forschungsfeld für eine rekonstruktiv-hermeneutische Jugend- und Medienforschung ......................................................................................76 4.5 Die Sequenzanalyse an einem Anwendungsbeispiel ...................................77 4.6 Das Generalisierungsprinzip der Objektiven Hermeneutik ......................83 5. Darstellung der Rekonstruktionsergebnisse 5.1 Rekonstruktion A .............................................................................................95 5.2 Rekonstruktion B .............................................................................................97 5 6. Theoretisierung der Rekonstruktionsergebnisse 6.1 Über die Gelassenheit und das Verschwinden des Horizonts ................101 6.2 Einige Überlegungen zur widersprüchlichen Einheit von Entscheidungszwang und Begründungspflicht .........................................107 6.3 Jugendkulturelle Handlungstheater im Internet – Das Schreiben als raumaneignende und strukturbildende Praktik .........110 6.3.1 Raumaneignung durch Erzählung und Gründung ....................................111 6.3.2 Das Paradox der Grenze – Differenzmarkierungen und Berührungspunkte zwischen dem Selbst und dem Anderen ...................116 6.4 Inszenierung des gegenwärtigen Selbst im Erscheinenlassen von Sinngestalten ............................................................................................121 6.5 Über den Rhythmus als Ordnungs- und Strukturprinzip ........................127 6.6 ‚Körper-Papier’ – Über die Einschreibung rhythmischer Ordnungen und Gesetze auf den Körper eines Volkes .................................................133 6.6.1 Schreib-Apparate – Werkzeuge und Instrumente .....................................136 6.7 Techno als Fluchtlinie – Jugendkultureller Widerstand in den Zwischenräumen segmentierter Linien und Quanten-Strömungen.....................................................................................140 6.7.1 Mikropolitik und Segmentarität – Was Techno zur Fluchtlinie macht ..141 6.7.2 Erde und Kosmos – Grundlegung und kosmisches Ausbrechen ..........145 7. Schlusswort ....................................................................................................151 8. Literatur ...........................................................................................................165 6 Vorwort und Danksagung Das hier vorliegende Buch ist das Ergebnis einer Arbeit, die sich dem Verstehen jugendkultureller Praktiken verschrieben hat. Gelungen wäre diese Arbeit, wenn dieses Buch diesen Verstehensprozess theoretisch wie methodisch schlüssig nach- zuzeichnen vermag. Dies ist oft nicht ganz einfach gewesen, denn Verstehens- prozesse neigen leider dazu, die Sache zu überformen oder zu vereinfachen. Die Schlüssigkeit der Argumente und Positionen sollte aber der Sache selbst, dem Fall dienen. Dieses Buch versteht sich als ein Agent dieser Sache, dieses Buch ist aus dieser Sache entstanden und dieses Buch gehört dieser Sache. Die ganzen ange- strengten reflexiven aber auch lustvollen Akte, deren Zeuge der Leser werden wird, sind die Produkte von jugendlichen Alltagspraktikern, die in ihren kulturellen Fel- dern eine Leistung vollzogen haben, deren Wert wir nicht abschätzen können, da wir uns auf anderen Feldern befinden. Die Sache von Innen zu verstehen und dieser Sache eine Sprache zu verleihen, das ist das ganze Anliegen, dessen Ergebnis in diesem Buch zu lesen ist. Dieses Buch ist im Rahmen eines dreijährigen, von der Hans–Böckler– Stiftung finanzierten Stipendiums entstanden. Der Hans–Böckler–Stiftung sei dafür aufrichtig gedankt. Wenngleich dieses Buch von einem Einzelnen geschrie- ben wurde, so verdienen sich an diesem Buche viele Personen auf ganz unter- schiedliche Weise. Zuvorderst sind es junge kreative Menschen, die sich ihre ganz eigenen Gedanken über die Welt und ihrem Selbst in dieser Welt machen. Ihnen gilt mein Dank, da sie einerseits, das ist meine feste Überzeugung, auch weiterhin am Projekt einer besseren Welt festhalten und ihren eigenen Beitrag in der Gestal- tung dieser Welt leisten werden. Es ist nur an uns, die spezifischen und oft un- scharfen Arten und Weisen zu verstehen. Andererseits sind gerade diese jungen Menschen der Grund dafür, dass ich dieses Buch, so wie es nun zu lesen ist, ge- schrieben habe. Dieses Buch gründet auf dem Äußerungs- und Veränderungs- willen junger Menschen, die sich einer Welt mitteilen und die sich ihre eigene Welt formen wollen. Ihnen zuzuhören, ohne ein Wollen an sie zu adressieren, ist ein weiteres Anliegen dieses Buches. 7 Mein ganz verbindlicher Dank gilt Prof. Dr. Heinz-Hermann Krüger, der meine Arbeit gewissermaßen ‚beheimatet’ und vor allem im Rahmen seines Kolloquiums betreut hat. Ein ganz großer Dank gilt Prof. Dr. Uwe Sander, der die Zweit- betreuung meiner Arbeit übernommen hat und dessen unkomplizierte Art und Anregungen mir sehr geholfen haben. Ein solches Buch entsteht nicht ohne die Arbeitszusammenhänge, in denen man die wichtigen Dinge lernt, die für die Verrichtung einer solchen Arbeit vonnöten sind. Ich denke hierbei insbesondere an Prof. Dr. Werner Helsper, der mir diese Dinge beigebracht hat – ihm bin ich zu großem Dank verpflichtet. Schließlich möchte ich Prof. Dr. Jeanette Böhme für die langjährige inspirierende Zusammenarbeit und Freundschaft danken. Leipzig im Januar 2008 Jörg Hagedorn 8 1. Einleitung Jugend bedeutet eine prekäre Lebensphase, und dies in verschiedener Weise: einer- seits verlassen Jugendliche gerade den Schonraum der Kindheit, andererseits fehlen ihnen noch die Privilegien der Erwachsenenwelt. Jugendliche müssen sich die Anerkennung durch ihre Eltern, Lehrer und Vorgesetzten erst hart erkämpfen. Vor allem aber sind an die Lebensphase Jugend auf der einen Seite gesellschaftliche Hoffnungen gebunden. Auf der anderen Seite steht die Erwachsenenwelt der Jugend mit Skepsis und diffusen Ängsten gegenüber. Jugendliche sind also Hoffnungsträger der Gesellschaft und fremde, bedrohliche Ethnie zugleich. Innerhalb der Lebensphase Jugend müssen sich junge Heranwachsende zwei- schneidig bewähren: als gesellschaftlicher Innovationsmotor einerseits und als Bewahrer tradierter gesellschaftlicher Ordnungen andererseits. Das ist die Reibungsfläche, an der die Lebensphase Jugend stattfindet. Hier die gesellschaft- lichen Rollenzuschreibungen und Erwartungshaltungen, dort die je eigenen Inte- ressen und Bedürfnisse. Zwischen diesen beiden Seiten ein richtiges Lebens- konzept zu finden, das aktiv und innovativ an der Gestaltung von Welt beteiligt sein sollte, ist als gesellschaftlicher Auftrag an Jugendliche adressiert. Diese Ich- Konstruktionsleistung im ausgewogenen Selbst–Welt–Verhältnis ist nicht zuletzt Ausdruck und Gegenstand von Bildungsprozessen junger Heranwachsender. In diesem Lichte betrachtet, müssen sich Jugendliche mit einer offenen, riskanten und krisenimmanenten Zukunft auseinandersetzen. Diesen Prinzipien rationaler Ver- nunft folgend, gelang es den vorangegangenen Jugendgenerationen mal besser und mal schlechter, diese höchst riskanten Zukunftshorizonte mit eigenen utopischen Entwürfen im Sinne von Lebenskonzepten, Wünschen und Idealen zu schließen. Aus diesen Entwürfen, die sich gegen gesellschaftliche Machstrukturen, gegen tradierte gesellschaftliche Ordnungen und gegen die Entwürfe einer dominanten Erwachsenenkultur richten, geht gesellschaftliches Neues hervor, verändert sich eine Gesellschaft innovativ. Jugendliche bewegen sich in ihren Sozialisations- prozessen also immer zwischen Innovationsanspruch und Reproduktions- verpflichtung. Jugendliche müssen in ihren Sozialisationsprozessen aber auch darauf achten, dass ihr eigenes Selbst nicht zwischen Rollenerwartungen einerseits 9 und eigenen Interessen und Bedürfnissen andererseits gespalten wird. Dieser Selbsterhalt gehört zur großen Aufgabe jugendlicher Identitätsarbeit dazu. Ich möchte dies in Anlehnung an Foucault (2004) die sokratische Frage in den Identi- tätsprozessen Jugendlicher nennen. Dieser Sorge um das eigene Selbst gehen Jugendliche in ihren kulturellen ästhetischen Handlungspraxen nach, wie ich später in diesem Buch ausführen werde. Eine Gesellschaft, die sich nicht oder zu wenig mit solchen jugendlichen Gegenentwürfen auseinandersetzt und Jugendliche nur auf die Verpflichtung der Bewahrung des Vorgefundenen einschwört, gibt gleichzeitig ihre Innovationsbe- reitschaft auf. Jugendlicher Veränderungswille drückt sich nicht im luftleeren Raum aus und ist im Übrigen immer weniger das Verdienst von institutionalisierten Bildungsprozessen. Solche jugendlichen Gegenentwürfe entstehen zuvorderst im jugendkulturellen Raum und auf gleicher Augenhöhe im Kontext jugendlicher Peers. Denn hier darf sich ein Begehren frei von gesellschaftlichen Sachzwängen entfalten. Ein Begehren, das den tiefen Grund jugendkultureller und ästhetischer Praktiken bildet. Gleichzeitig ist es die Grundvoraussetzung für diesen Verände- rungs- und Gestaltungswillen Jugendlicher. Jugendkulturen funktionieren als Kampfplätze und Diskursarenen, in denen dieser Veränderungswille artikulierbar wird. Hier werden Entwürfe des eigenen richtigen Lebens und die Visionen einer besseren Welt frei vom gesellschaftlichen Zensor verhandelt, ausprobiert, entwor- fen und wieder verworfen. Da ist viel Bewegung drin! Man könnte sagen, Jugendli- che bringen sich mit ihren Kulturen im gesellschaftlichen Getriebe in Stellung. Es wäre zu kurz gedacht, anzunehmen, Jugendliche würden sich in ihren Jugendkultu- ren nur als bunte Paradiesvögel präsentieren wollen, die ihre Teilnahme am gesell- schaftspolitischen Diskurs gegen pure Selbstbezogenheit eingetauscht haben – insbesondere die Medien perpetuieren auf eine unerträgliche Weise immer wieder solche Bilder. Jugendkulturen funktionierten seit je her als Widerstands- und Protestkulturen, ja auch heute noch, nur folgt die aktuelle Jugendgeneration anderen Strukturlogiken, als die Jugendgenerationen vor ihnen. Widerstand und Protest artikuliert sich heute weniger auf den Strassen und Paraden und noch weniger auf brennenden Barrika- den. Auch zeigen aktuelle Jugendstudien, dass Jugendliche im deutschsprachigen Raum immer mehr die kleinen Ordnungen suchen und alte Werte für sich neu entdecken (vgl. Zinnecker 2005). Auch sind in der aktuellen Jugendgeneration die Eltern wieder zu Vorbildern geworden. In der verknöcherten Gesellschaft der ausgehenden 1950er und beginnenden 1960er ist dies – jugendkulturell gesehen – 10