\\ LESEN \\ HÖREN \\ SEHEN 2 | 2018 | nr. 214 HH II GG HH LLIIGGHHTTSS J. M. Coetzee Philip Roth Anna Mitgutsch Lesen Hören Sehen www.buecherschau.at INHALT BÜCHERSCHAU2142/18 JUNI 2018 ZEITSCHRIFT FÜR BETRIEBS UND GEWERK- SCHAFTSBIBLIOTHEKEN AUS DEM BESCHÄDIGTEN LEBEN 8 Heimo Mürzl über J. M. Coetzee APOSTEL DER UNZUCHT 14 Robert Leiner über Philip Roth MIT EINZIGARTIGEM WITZ UND JÜDISCHER UNMITTELBARKEIT 22 Marianne Sonntagbauer über Friedrich Torberg DIE FASZINATION DES UNSAGBAREN 30 Brigitte Winter über Anna Mitgutsch 4 INHALT REZENSIONEN 37 Romane, Erzählungen, Gedichte 38 Graphic Novels 73 Biografien, Briefe, Tagebücher 75 Geschichte, Kulturgeschichte 80 Politik, Gesellschaft, Wirtschaft 85 Geisteswissenschaften 89 Kunst, Musik, Film, Theater 91 Reise 93 Lebensgestaltung 94 „IM GUTEN SINNE BIN ICH TRADITIONALIST“ 97 Thomas Ballhausen im Gespräch mit Ferdinand Schmatz REZENSIONEN 102 Hörbuch 103 Film 108 Bestellschein/Register 110 214 5 IMPRESSUM IMPRESSUM Herausgeber: Österreichischer Gewerkschaftsbund, 1020 Wien, Johann-Böhm-Platz 1, Büchereiservice. Medieninhaber: Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes GmbH, 1020 Wien, Johann-Böhm-Platz 1, www.oegbverlag.at. Hersteller: Verlag des ÖGB GmbH. Verlagsort: Wien. Herstellungsort: Wien. 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Dass er den Literaturnobelpreis nicht erhalten hat (ebenso nicht wie seine Landsleute John Updike oder Thomas Pynchon), wirft wahrlich kein günstiges Licht auf die schwedische Aka- demie, doch ihn selbst wird es nicht allzu gestört haben. Robert Leiner hat für diese Ausgabe Leben und Werk des Lustschreibers Philip Roth Revue passieren lassen und einige Lektüre- tipps angebracht. Friedrich Torberg, der in diesem Jahr seinen 110. Geburtstag feiern könnte, hat ebenfalls ein großes Werk hinterlassen, dessen Texte mit einzigartigem Witz und jüdischer Unmittelbar- keit durchzogen sind. Marianne Sonntagbauer widmet diesem leidenschaftlichen, humorvol- len und engagierten Schriftsteller, der allen Ideologien misstraute, ein einfühlsames Porträt. Kaum zu glauben ist, dass die große österreichische Romanautorin Anna Mitgutsch in diesem Jahr 70 Jahre alt wird. Sie ist eine der unterschätztesten Autorinnen des Landes, die mit nicht nachlassender erzählerischer Intensität ein beeindruckendes Werk geschaffen hat, wie nicht zuletzt auch Brigitte Winter in ihrem Porträt in dieser Ausgabe feststellt. Auch der österreichische Schriftsteller Ferdinand Schmatz gehört zu den wichtigsten Dich- tern des deutschsprachigen Raums. Lesen Sie (ab der Seite 97) ein Gespräch mit dem vielseiti- gen Dichter mit dem Autor Thomas Ballhausen. Die Themen u.a.: Klang und Poetik. Eine schöne Zeit des Lesens wünscht 214 7 J. M. COETZEE AUS DEM BESCHÄDIGTEN LEBEN ODER DIE NATUR DES MENSCHEN \\ Literatur als Ort des kollektiven Gedächtnisses: Der Literatur-Nobelpreisträger J. M. Coetzee fokussiert seinen Blick auf den Alltag im Schatten der Geschichte. Ein Porträt von Heimo Mürzl. g a Verl her 8 © S. Fisc J. M. COETZEE J ohn Maxwell Coetzee zählt zu rische Imagination übersetzt und essenzielle den unerbittlichsten Chronisten Fragen stellt: Wie ist das Verhältnis zwischen menschlicher Unzulänglichkeiten Macht und Ohnmacht, wieweit verformbar und hält dem Leser einen Spiegel ist das Individuum, was machen Gewalt und vor, in den dieser nicht sehen will, Unterdrückung mit und aus Menschen und aber unbedingt sehen sollte. Verwurzelt wie überhaupt kann sich der Einzelne noch in seiner Heimat – J.M. Coetzee wurde am selbst entscheiden und auf wessen Kosten 9. Februar 1940 in Kapstadt geboren –, mit geschieht das? Und wie und wo bildet sich einem Blick auf seine südafrikanische Hei- Identität heraus? mat in ihren dunklen Schattierungen, legt er seinen Lesern im übertragenen Sinn immer wieder einen Strick um den Hals und zieht SCHULD UND SCHAM diesen immer enger. Gewalt und Ohnmacht sei auch heute für viele Menschen alltägli- In seinen autobiographischen Romanen che Lebenswirklichkeit und seine Aufgabe („Der Junge. Eine afrikanische Kindheit“, als Schriftsteller sei es, so unangenehm das „Die jungen Jahre“ und „Im Sommer des auch sein mag, „gelegentlich das Licht auf Lebens“) schildert er so eindringlich wie die dunklen Ecken der menschlichen Exis- nachdrücklich, wie die Frage der Identitäts- tenz zu richten.“ Und die Kunstform Litera- findung im Zentrum seines Heranwachsens tur sei (s)ein Mittel, die Welt zu erkennen stand. Der kleine John Maxwell wird eng- und aufgrund der Kraft und Wirkungsmacht, lisch erzogen, findet aber auf der Farm eines die großer Kunst innewohnt, die Menschen Onkels sein zweites Zuhause. Hier spricht er wirkungsvoll anzusprechen und aufzurüt- Afrikaans, die Sprache seiner burischen Vor- teln. So hat J. M. Coetzee – in der Weltlite- fahren. „Afrikaans ist wie eine gespenstische ratur wohl eine ebenso solitäre Erscheinung zweite Haut, die er überall mitnimmt und in wie sein südafrikanischer Künstlerkollege die er jederzeit schlüpfen kann, wodurch er William Kentridge in der Sparte Bildende sofort zu einer anderen Person wird, schlich- Kunst – über die Jahrzehnte ein weltberühm- ter, fröhlicher und leichtfüßiger.“ Auch das tes und 2003 mit dem Nobelpreis ausgezeich- schwierige und angespannte Verhältnis zwi- netes Erzählwerk entwickelt, in dem er auf schen Schwarzen und Weißen, zwischen meisterhafte Weise ethische Fragen in litera- Knechten und Herren spielt in seiner Kind- 214 9 J. M. COETZEE Kultur und immer wieder die Struktur von Macht sind die Themen, denen Coetzee mit großer Obsession und mit mikroskopischem Blick nachspürt. Viele seiner Bücher (u.a. „Im Herzen des Landes“ und „Warten auf die Bar- baren“) sind nichts weniger als literarische Abrechnungen mit dem Kolonialismus und dem Südafrika der Apartheid im Allgemei- nen und Rassismus, (männlicher) Gewalt und sexueller Ausbeutung im speziellen. Obwohl seine Bücher von den extremen Ver- hältnissen im Südafrika seiner jungen Jahre geprägt wurden, sind sie doch viel mehr als (Anti-)Apartheid-Romane. Sie sind Weltlitera- tur im wahrsten Wortsinn: Sie beschreiben die Welt wie sie ist, und nicht wie sie sein sollte. In ihrer Zerrissenheit, mit all ihren Widersprüchen, Ungerechtigkeiten und ih- heit und Jugend eine zentrale Rolle. All die rem Unrecht. unausgesprochenen, schwer fassbaren, aber Coetzee ist jedoch kein Autor, der seine Le- nicht zu übersehenden kleinen Ungerechtig- ser an der Hand nimmt und ihnen den Weg keiten und das bedrückend-schwere große vorgibt – den müssen sie schon selbst finden. Unrecht des Apartheid-Systems rufen ein Er unterstützt sie aber mit einer ebenso prä- (noch) diffuses Schuld- und Schamgefühl im zisen wie detailliert recherchierten Wegbe- heranwachsenden Coetzee hervor. schreibung. Dieses seelische Unwohlsein und eine un- bestimmbare Unsicherheit bestimmten den weiteren Lebensweg von J. M. Coetzee. WUCHT UND INTENSITÄT Nachdem er an der Universität von Kapstadt sein Literatur- und Mathematikstudium ab- Was das Werk von Coetzee so außergewöhn- geschlossen hatte, ging er in den Sechziger lich und herausragend macht, ist seine Indif- Jahren nach England, arbeitete dort als Pro- ferenz, das Fehlen jeder Eindeutigkeit. J. M. grammierer für IBM, suchte danach in den Coetzee beschreibt präzise und klar, wägt ab, USA sein Glück und promovierte an der Uni- bleibt korrekt und sachlich und vermeidet versity of New York über Samuel Beckett. parteiliche Rhetorik. Und ist gerade deshalb Erst 1972 kehrte Coetzee nach Südafrika zu- viel näher an der „Wahrheit“ dran und über- rück, wo er bis 2002 als Literaturprofessor an lässt es dem Urteilsvermögen der Leser, sich der Universität von Kapstadt arbeitete. Seit selbst ein Bild zu machen, die Fakten abzu- 2002 lebt er mit seiner Frau in Adelaide, Aus- wägen und einzuordnen und danach Positi- tralien und seit 2006 ist er auch australischer on zu beziehen. Coetzees Romane berichten Staatsbürger. von der Natur des Menschen und lesen sich Verrat, Hass, Gleichgültigkeit, Entfremdung meist wie literarische Nachrichten aus dem von der eigenen und Angst vor der fremden beschädigten Leben. 10
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