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Inzest: Kulturelles Verbot und natürliche Scheu PDF

204 Pages·1991·6.147 MB·German
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J6rg Klein Inzest: Kulturelles Verbot und natiirliche Scheu Studien zur Sozialwissenschaft Band 102 Westdeutscher Verlag Jorg Klein Inzest: Kulturelles Verbot und natiirliche Scheu Westdeutscher Verlag CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Klein, Jiirg: Inzest: kulturelles Verbot und natiirliche Scheu I JOrg Klein. - Opladen: Westdt. VerI., 1991 (Studien zur Sozialwissenschaft; Bd. 102) ISBN 978-3-531-12229-8 ISBN 978-3-322-93612-7 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-93612-7 NE:GT Der Westdeutsche Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann International. Aile Rechte vorbehalten © 1991 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Das Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich ge schtitzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheber rechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzuliissig und straf bar. Das gilt insbesondere fUr VervielfaItigungen, Ubersetzungen, Mikroverflmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elek tronischen Systemen. Umschlaggestaltung: studio fUr visuelle kommunikation, Dtisseldorf ISBN 978-3-531-12229-8 Inhalt Einleitung 7 I. Inventur der Thesen zum kulturellen Inzestverbot und zur natiirlichen Inzestscheu 13 1. Soziologische Positionen 14 1.1 Funktionen des Inzestverbots 16 1. These: Eifersucht (16) - 2. These: Rollenverwir rung (17) - 3. These: Reifung (20) - 4. These: Allianz (21) - 5. These: Soziale Erbhygiene (26) - 6. These: Frauenraub, Okologie des Friihmenschen und Al tenfiirsorge (28) 1.2 Wirkungsweise des Inzestverbots 36 1. These: Odipuskomplex und Tabuverbot (36) - 2. These: BewuBte Erhhygiene (42) 2. Biologische Positionen 43 2.1 Wirkmechanismen der biologischen Inzestvermeidung 44 1. These: Vertrautheit von Kindheit an (44) - 2. The- se: Mutter und Sohn (72) - 3. These: Alters unterschied (74) - 4. These: Inzestvermeidung bei Tieren (76) 2.2 Funktionen der biologischen Inzestvermeidung 85 1. These: Natiirliche Erbhygiene (85) - 2. These: Ge netische Variabilitat (92) 5 II. Zur Soziologie des Inzestverbots 97 1. Ist das Inzestverbot universal? 99 Welche UniversalWitsthese? (99) - Falschmeldun gen (100) - Dynastischer und magischer Inzest (101) - Inzestehen im agyptischen Reich der romi schen Periode und in Alt-Iran (105) - Das Indiz des Inzestverbots (112) - Fazit (115) 2. Wie stark sind die Inzestwiinsche des Menschen? 118 Die Existenz des Verbots (118) - Traume (119) - Poe tische Fiktionen (125) - Das Vorkommen des In zests (140) 3. Warum existiert das Inzestverbot? 156 Die falsche Pramisse (156) - Hat das Inzestverbot eine inzestverhindemde Wirkung? (157) - Die 50- ziologischen Funktionsthesen (160) - Sexueller MiBbrauch (184) - Verhaltenserwartungen und Sinnverlust (185) - Abscheu (188) Literaturverzeichnis 193 Personenregister 201 Sachregister 203 6 Einleitung Diese Arbeit handelt von zahlreichen Gedanken, Thesen, Theorien und Spekulationen, deren Gemeinsarnkeit darin besteht, daiS sie Ant worten auf die Frage zu geben versuchen, warum die groiSe Uberzahl der Menschen keinen Inzest praktiziert, welche Krafte dabei wirksam sind und welcher Sinn sich dahinter verbirgt. Die Diskussion urn: die Hintergriinde der menschlichen Inzest scheu wird unter Anthropologen, Ethnologen, Psychologen und Soziologen seit etwa hundert Jahren intensiv und sehr kontrovers gefiihrt. Von Anfang an existierten in dieser Diskussion zwei Haupt richtungen. Nach der ersten besitzt der Mensch eine starke Inzest neigung, ja verfUgt hier iiber seine starkste sexuelle Leidenschaft iiberhaupt. Da der Inzest jedoch die Grundstrukturen der Gesell schaft bedrohe - wobei die Ansichten, inwiefem er dies tue, zum Tell erheblich voneinander abweichen - miisse er streng verboten sein. Die andere Richtung besagt, daiS der Mensch als Ergebnis der natiirli chen Selektion eine instinktive Abneigung gegen den Inzest in sich tragt, well Fortpflanzung durch Inzest biologische Nachteile mit sich bringt. Das Inzestverbot soll hiemach neben dieser natiirlichen Scheu existieren und sich von vornherein nur gegen eine kleine Zahl von AuiSenseitem richten. Die herausragenden Verfechter der ersten Richtung sind der Be griinder der Psychoanalyse Sigmund Freud, die Ethnologin Brenda z. Seligman, die Ethnologen Bronislaw Malinowski, Reo Fortune, Leslie A. White, Claude Levi-Strauss und George P. Murdock und der Soziologe Talcott Parsons. Sigmund Freud trat vor aHem fUr die These yom starken Inzestwunsch des Menschen ein. Die anderen Theoretiker berufen sich immer wieder auf ihn, wenden sich aber hauptsachlich der Frage zu, warum dem starken Inzestverlangen des Menschen in allen Kulturen, wie man glaubt, ein strenges Verbot ent gegenstehe. Bei der Beantwortung dieser Frage gehen die Meinungen 7 zwar stark auseinander, doch ist man sich einig darin, dag die Funk tion oder die Funktionen des Inzestverbots von grundlegender Be deutung fur den Bestand der menschlichen Gesellschaft seien, ja daiS das Inzestverbot die eigentliche Grundregel der Gesellschaft dar stelle. Wahrend der Iangsten Zeit der Inzestdiskussion gab es hier nur sehr wenige Gegenstimmen. Die wissenschaftliche Welt ergriff Partei fur Freud und fur die eine oder andere der auf Freud aufbauenden soziologisch-ethnologischen Theorien des Inzestverbots. Doch stellte bereits Ende des 19. Jahrhunderts der finnische Anthropologe Ed ward Westermarck die These auf, daiS ein angeborener Widerwille gegen den geschlechtlichen Verkehr zwischen Personen existiert, die von friiher Jugend auf eng beisammen leben. Die These erlangte schnell Beriihmtheit, wurde allerdings fast einmiitig abgelehnt, ja mit heftiger und haufig polemischer Kritik zurUckgewiesen. Trotzdem hielt Westermarck in den nachfolgenden Jahrzehnten seines Lebens an seiner These fest, verteidigte sie und haute sie aus. Eine deutliche Trendwende hin zur Position Westermarcks findet seit den 70er Jahren unseres Jahrhunderts statt. Der Hauptgrund diirfte darin liegen, diese Position jetzt erstrnals mit starken Be d~ legen abgesichert und auch theoretisch vertieft werden konnte. Hier sind insbesondere die Beitrage von Joseph Shepher, Arthur P. Wolf und Norbert Bischof zu nennen. Die Tatsache, daiS Westermarck selbst noch keinen schlagenden Be leg fur seine These anfuhren konnte, vermag die fast einhellige Ab lehnung seiner Gedanken zum Inzest jedoch nicht zu erklaren; denn die Gegenpartei, die fur die These von der starken Inzestneigung des Menschen eintrat, konnte fur sich auch keine iiberzeugenden Belege geltend machen. Die ZUrUckweisung der Ideen Westermarcks mufS ideologisch erklart werden: Es paiSte nicht zum Menschenbild der Sozialwissenschaftler, dag das soziale Verhalten der Menschen in seinen konkreten Ausformungen und damit auch Strukturen der 8 Gesellschaft maiSgeblich von der Natur des Menschen bestimmt sein konnen. Zudem hatte man das Inzestverbot dazu auserkoren, die Grundregel der menschlichen Gesellschaft zu sein, so daiS sich Westerrnarcks Kritik direkt gegen das Fundament soziologischer Theorieri rich tete. In neuerer Zeit wird noch von einer anderen Seite als der Wester marcks Kritik an der psychoanalytischen These vom starken Inzest wunsch des Menschen getibt, oder genauer: Kritik daran, daiS die Tochter starke Inzestwiinsche gegeniiber ihren Vatern hegten. Es handelt sich urn Studien von Psychologen, Therapeuten und Sozial padagogen iiber den realen Vater-Tochter-Inzest, die zurn Ergebnis haben, daiS hier die Tochter regelrnaiSig Opfer physischer und psy chischer Gewalt ihrer Vater sind. Man klagt das Unrecht an, daiS die sen Tochtern geschieht, reflektiert aber nicht weiter dariiber, warum die Tochter selbst kein Inzestbegehren haben, ja tiberhaupt kein ein ziger Fall dieser Art gefunden werden konnte. (Es wird allenfalls der Grund angegeben, daiS viele der To chter fur sexuelle Erfahrungen noch viel zu jung waren. Doch reagieren auch aIle diejenigen Tochter mit Widerwillen und schwerem psychischem Leid, die bei der Anna herung ihrer Vater bereits die Geschlechtsreife erreicht hatten.) Nach meinem Eindruck ist trotz vorhandener und deutlich zuneh mender Kritik der psychoanalytisch-soziologische Erklarungsansatz bei all jenen, die sich als Wissenschaftler oder als Laien schon einmal mit dem Inzestthema befaiSt haben, insbesondere aber unter Sozial wissenschaftlern, immer noch der dorninierende. In meiner Arbeit verfolge ich zwei Ziele. Zum ersten solI ein Uber bUck tiber die bisherige Inzestliteratur gegeben werden. Die Vielzahl der Einzelpositionen innerhalb der Inzestdiskussion - auch die bei den IIHauptrichtungen" unterteilen sich in viele Einzelthemen, zu denen haufig zahlreiche verschiedene Positionen eingenornrnen wer den - verlangt im ersten Schritt eine geordnete Darstellung und 9 Systematisierung. Ich gebe hier einen rein darstellenden Forschungs bericht, ohne Wertung und Diskussion der einzelnen Thesen. Zurn anderen beabsichtige ich, die verschiedenen Positionen aus zudiskutieren, wobei ich schwergewichtig, da ich selbst Sozio loge bin, jene Positionen diskutiere, die fUr eine Theorie des Inzestverbots Relevanz besitzen. Es geht hier urn drei Hauptthemen: die Frage nach der Starke der menschlichen Inzestwiinsche, die Frage nach der Verbreitung des Inzestverbots unter den Kulturen der Welt und die Frage nach den Existenzgriinden des Inzestverbots. Ich hoffe, meine Arbeit tragt dazu bei, daB auch innerhalb der Sozialwissenschaften die biologische Theorie von der narurlichen Inzestscheu des Menschen, fUr die ich hier eintrete, an Zustimmung gewinnt. Das Inzestthema wird damit nicht etwa aus den Sozial wissenschaften ausgegliedert. SchlieBlich bleibt das Thema des Inzestverbots, das eine kulturelle Norm ist. Eine interdisziplinare Herangehensweise wird jedoch unumganglich. Jede wissenschaftliche Arbeit uber den Inzest und das Inzestverbot sollte deutlich machen, welcher Definition des Inzests sie folgt. Fur den Zweck meiner Arbeit definiere ich den Inzest als heterosexuellen Geschlechtsverkehr zwischen blutsverwandten Eltem und Kindem und zwischen blutsverwandten Geschwistem. Es gibt zahlreiche hiervon abweichende Definitionen. 1m Hinblick auf die sexuellen Aktivitaten versteht man unter Inzest ofter nicht nur heterosexuellen Geschlechtsverkehr, sondem verschiedene weite re, wenn nicht jegliche sexuellen Handlungen einschlieBlich homo sexueller Handlungen (zuweilen auch solche Handlungen, bei denen kein Korperkontakt stattfindet, wie zum Beispiel das sexuell moti vierte EntbloBen von Geschlechtsteilen). Haufig wird auch der Kreis der Person en, welche Inzest begehen konnen, weiter gefaBt. Insbeson dere werden dann sexuelle Kontakte zwischen Stiefeltem und -kin dem und zwischen Stiefgeschwistem ebenfalls als Inzest betrachtet. 10

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