Intervention als soziale Praxis Werner Distler Intervention als soziale Praxis Interaktionserfahrungen im Alltag des Statebuilding am Beispiel der Internationalen Polizeimission im Kosovo Werner Distler Marburg, Deutschland Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie, vor- gelegt dem Fachbereich Gesellschaft swissenschaft en und Philosophie der Philipps-Uni- versität Marburg (Dissertationsort Marburg). ISBN 978-3-658-06845-5 ISBN 978-3-658-06846-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-06846-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio- nalbibliografi e; detaillierte bibliografi sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufb ar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zu- stimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Über- setzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in die- sem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu be- trachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürft en. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist eine Marke von Springer DE. Springer DE ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.springer-vs.de Danksagung Besonderer Dank gilt meinen Eltern, Mehri und Friedemann Distler, und meiner Frau Layla Distler. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Für ihre Unterstützung meiner Arbeit möchte ich Karl-Heinz Gleich, Peter Fran- ke, Klaus Ritter, Klaus Reinhardt, der Leitung des deutschen Polizeikontingents im Kosovo, Sahadete Limani-Beqa, Jakob Biazza, Ruth Schneider, dem Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Pristina, Barbara und Götz Roggenkamp, Katrin Travouillon, Sina Kowalewski, Friederike Mieth, Julia Viebach, Kathleen Rot- her, Dominik Pfeiffer, Michael Daxner und schließlich meinen Betreuern, Ma- thias Bös und besonders Thorsten Bonacker, danken. Inhaltsverzeichnis VII Inhaltsverzeichnis IX 1 Einleitung 1 2 Strategische Interaktion und Interaktion im Interventionsalltag. Verortung in der Debatte über Interventionen und Statebuilding 13 2.1 Möglichkeiten und Grenzen von Interventionen 13 2.2 Strategische Interaktion: Politische Entscheidungen, Interessen, Herrschaft 16 2.3 Zwischenbetrachtung: Die Analyse Strategischer Interaktionen reicht nicht aus 20 2.4 Interaktion im Interventionsalltag 21 2.5 Zusammenfassung: Forschungsinteresse 37 3 Theoretischer Rahmen: Relationale Strukturen und Interaktion 39 3.1 Soziale Strukturen als Relationale Strukturen 40 3.2 Wissen und Relationale Strukturen 42 3.3 Das Selbst, der Andere und die soziale Umwelt als Ausdruck sozialer Beziehungen 43 3.4 Räumliche und zeitliche Dimensionen relationaler Strukturen 46 3.5 Relationale Macht 48 3.6 Routinen und Kreativität 51 3.7 Interaktion in der Intervention als ein interkulturelles Problem? 53 3.8 Zusammenfassung: Forschungsfrage und Forschungsgegenstand 55 4 Methode 57 4.1 Design und Vorgehen der Forschung 57 4.2 Interviewmethode und Fragen 61 4.3 Auswertung und Texterstellung 67 4.4 Der Zugang zum Feld 77 VIII Inhaltsverzeichnis 5 Kosovo: Konflikt und Intervention 83 5.1 Hintergrund der Intervention: Der Konflikt im Kosovo 83 5.2 Politische und soziale Entwicklung seit 1999 92 5.2.1 Strategische Interaktion und politische Entwicklung 1999-2012 94 5.2.2 Interventionsalltag und gesellschaftliche Transformationen 101 5.2.3 Zusammenfassung 109 5.3. Die internationale Polizeimission im Kosovo 109 5.3.1 Organisation, Aufgaben und Zusammensetzung der Polizeimission 111 5.3.2 Einschätzungen der Mission 115 5.3.3 Zusammenfassung 121 6. Alltag der Intervention 123 6.1 Die Konstitution des Selbst 123 6.1.1 Der Intervenierende (1): Motivation, Vorwissen, Interaktionssituationen 123 6.1.2 Der Intervenierende (2): Selbstreflexionen über Wahrnehmungen und Erwartungshaltungen im Alltag 139 6.2 Die Konstitution der Anderen 174 6.2.1 Die Anderen (1): Die lokalen Akteure 174 6.2.2 Die Anderen (2): Die Internationalen 194 6.3 Die Konstitution der Umwelt - Mission und Land 206 6.3.1 Reflexionen über den Sinn (und Unsinn) der Mission 206 6.3.2 Transformation vom Ereignis zum Wissensfundus: Die Erfahrungen mit Gewalt und Unordnung im März 2004 226 7. Zusammenfassung: Intervention als soziale Praxis 235 Literaturverzeichnis 255 Anhang A: Auflistung der ausgewerteten Interviews 268 Anhang B: Zusammensetzung der UNMIK Police, August 2007 269 Ab k ürzungsverzeichnis IX Abkürzungsverzeichnis AG IPM Arbeitsgemeinschaft Internationale Polizeimissionen CCIU Central Criminal Investigation Unit ECLO European Commission Liaison Office EULEX European Union Rule of Law-Mission EV Erstverwender FRY Federal Republic of Yugoslavia ICO International Civilian Office ICR International Civilian Representative IPO International Police Officer ISAF International Security Assistance Force KP Kosovo Police KPS Kosovo Police Service LA Language Assistent MINUSTAH Mission des Nations Unies pour la stabilisation en Haïti MPU Missing Persons Unit OIOS United Nations Office of Internal Oversight Services OK Organisierte Kriminalität OSCE Organisation for Security and Cooperation in Europe OMIK OSCE Mission in Kosovo PTC Police Training Center PISG Provisional Institutions for Self-Government PZI Problemzentriertes Interview SPU Special Police Unit SOPs Standard Operating Procedures SRSG Special Representative of the Secretary General TPIU Trafficking and Prostitution Investigation Unit UNDP United Nations Development Programme UNESCO United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization UNHCR United Nations High Commissioner for Refugees UNMIK United Nations Mission in Kosovo USAID United States Agency for International Development UÇK Ushtria Çlirimtare e Kosovës WV Wiederverwender ZIF Zentrum für Internationale Friedenseinsätze 1. Einleitung „Ich kenne das Kosovo seit über zehn Jahren, und nach meiner Meinung haben wir in dieser Zeit kaum etwas erreicht. (…) Am meisten enttäuscht bin ich von der Polizei. (…) Nach meinem Eindruck ist die Korruption unter den kosovarischen Po- lizisten recht hoch. Wenn man mit einem gestohlenen Auto erwischt wird, so wurde mir berichtet, besticht man den Beamten – und die Sache ist erledigt. An die großen Verbrecher kommt man sowieso nicht heran. (…) Diese Netzwerke schützt eine Mauer des Schweigens, die wir Polizisten nicht durchdringen können. In Wahrheit wissen wir nicht mal annähernd, was hier los ist. (…) Das Kosovo ist ein Land, in dem Jahrhunderte alte Traditionen fortbestehen, und ein Teil dieser Kultur ist die Blutrache. Uns Mitteleuropäern ist es nicht gelungen, die Kosovaren von einem neuen, unserem westlichen Rechts- und Wertesystem zu überzeugen. (…) Ich be- fürchte, die Kosovaren werden uns aussitzen. So wie die Taliban auf den Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan warten. Doch keiner der Verantwortlichen der Eulex-Mission meldet die Wahrheit nach Brüssel. Sie schicken aus dem Kosovo nur geschönte Berichte, sogenannte Okay-Reportings. Vielleicht müssen sie das auch machen, um ihren Posten zu behalten und weiterhin in Auslandsmissionen arbeiten zu können. Aber dem Kosovo hilft das nicht.“ (Der Spiegel 45/2012: 102) Diese Zitate entstammen einem im November 2012 im Magazin Der Spiegel erschienen anonymen Erfahrungsbericht eines deutschen Polizisten über die Bilanz der internationalen Missionen im Kosovo, insbesondere der Polizeimissi- on der United Nations Mission in Kosovo (UNMIK) von 1999 bis 2008 und der Rechtsstaats- und Polizeimission der Europäischen Union (EULEX) seit 2008. Die andauernden Interventionen im Kosovo, nun bereits im fünfzehnten Jahr, gehören zu den umfangreichsten Peacebuilding- und Statebuilding- Interventionen der vergangenen Jahrzehnte. Die Polizeimissionen, deren Ange- höriger der anonyme Autor war, gehören und gehörten ebenso zu den umfang- reichsten Missionen ihrer Art, an ihrem Höhepunkt in den frühen Jahren der Intervention mit über viertausend Polizistinnen und Polizisten aus über vierzig Nationen. Im Gegensatz zu dem im Zitat ebenfalls genannten Afghanistan, ist die Sicherheitslage im Kosovo seit langem stabil, im Land verschwinden die sichtba- ren Überreste des Krieges von 1999. Viele internationale Akteure der Missionen W. Distler, Intervention als soziale Praxis, DOI 10.1007/978-3-658-06846-2_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 2 Einleitung im Kosovo, ob zivile Mitarbeiter von Internationalen Organisationen, Polizeian- gehörige oder Mitglieder der Entwicklungsgemeinschaft, leben seit 1999 über das gesamte Land verteilt zwischen der Bevölkerung. Umso verstörender wirken die Vergleiche zwischen Kosovo und Afghanistan und die kritische Bilanz des anonymen Autors. Der Bericht bemüht neben Korruption der Polizei und Orga- nisierter Kriminalität besonders Vorstellungen über die Identität der Bevölke- rung im Kosovo, um das Versagen der Intervention zu begründen: Das tradierte Verhalten der Bevölkerung, der ‚Anderen‘, sei verantwortlich für die Probleme der Mission. Die Kritik richtet sich aber auch offen gegen die Mission selbst, wenn berichtet wird, dass die Realität geschönt dargestellt wird. Der gesamte Erfahrungsbericht zeugt von Enttäuschung und fehlendem Verständnis, von Distanz zur eigenen Mission und auch zu der einheimischen Bevölkerung des Landes, trotz jahrelanger eigener Präsenz dort. Mit dieser kritischen Bilanz steht der anonyme Polizist nicht allein: Die Ar- gumente spiegeln sich in einem Aufsatz von Albin Kurti wider, einem koso- varischen Politiker und langjährigen Aktivist gegen die internationalen Präsen- zen im Kosovo: “Years of dwelling in Kosova have now turned thousands of interna- tionals into ‘local internationals’, a different species from their com- patriots back home. Years of international rule have turned local poli- ticians and NGOs into ‘international locals’, a species that differs from their compatriots in Kosova. The ‘local internationals’ and the ‘international locals’ are kept together by a happy marriage of interest, providing the system’s internal cohesion. Instead of working for the rights of the people, they talk about the needs of the communities; in- stead of fighting for justice, freedom and equality, they encourage ad- vocacy and lobbying; instead of protests and demonstrations (where dissatisfied people get together in a public physical sphere) they pro- mote campaigns (with billboards and TV ads in a public virtual sphere, which people watch alone). The overcrowding of ‘local inter- nationals’ and ‘international locals’ in Kosova means less society and less politics. It means more technical assistance and consultancy, more conferences and seminars with more PowerPoint presentations, more policemen, prosecutors and judges, more jeeps, more extended week- ends in Thessalonica or Dubrovnik, more offices, more working lunches, more coffee breaks, more parties (...)” (Kurti 2011: 92) Kurti beschreibt die Folgen gemeinsamer Sozialisationsprozesse: Interventions- spezifische Gruppen sind entstanden, deren Handeln nur vor dem Hintergrund
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