Wilfried Kuhn Ideengeschichte der Physik Eine Analyse der Entwicklung der Physik im historischen Kontext 2. Auflage Ideengeschichte der Physik Wilfried Kuhn Ideengeschichte der Physik Eine Analyse der Entwicklung der Physik im historischen Kontext 2. Auflage Unter Mitarbeit von Oliver Schwarz WilfriedKuhn Villmar,Deutschland ISBN978-3-662-47058-9 ISBN978-3-662-47059-6(eBook) DOI10.1007/978-3-662-47059-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detailliertebibliografischeDatensindimInternetüberhttp://dnb.d-nb.deabrufbar. SpringerSpektrum ©Springer-VerlagBerlinHeidelberg2001,2016 DasWerkeinschließlichallerseinerTeileisturheberrechtlichgeschützt.JedeVerwertung,dienichtaus- drücklichvomUrheberrechtsgesetzzugelassenist,bedarfdervorherigenZustimmungdesVerlags.Das giltinsbesonderefürVervielfältigungen,Bearbeitungen,Übersetzungen,MikroverfilmungenunddieEin- speicherungundVerarbeitunginelektronischenSystemen. DieWiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. indiesem Werkbe- rechtigtauchohne besondereKennzeichnung nichtzuderAnnahme, dasssolcheNamen imSinneder Warenzeichen- undMarkenschutz-Gesetzgebung alsfreizubetrachtenwärenunddahervonjedermann benutztwerdendürften. DerVerlag,dieAutorenunddieHerausgebergehendavonaus,dassdieAngabenundInformationenin diesemWerkzumZeitpunktderVeröffentlichungvollständigundkorrektsind.WederderVerlagnoch dieAutoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit,Gewähr für den Inhalt des Werkes,etwaigeFehleroderÄußerungen. Planung:MargitMaly GedrucktaufsäurefreiemundchlorfreigebleichtemPapier. Springer-Verlag GmbH Berlin Heidelberg ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media(www.springer.com) Vorwort zur zweiten Auflage Eine Ideengeschichte der Physik – aber wozu? „Das ist ja schön, Sie wissen sogar etwas zur Entdeckungsgeschichte.“ Wie oft hat der Verfasser dieser Einleitung einen solchen Satz schon in physikalischen Schulstunden, Seminaren oder Kolloquien gehört. So gut er auch gemeint sein mag, letztlich suggeriert er, Einblicke in die Genesis der Fachdisziplin Physik wären eine pittoreske, wahrschein- lich entbehrliche Zugabe. Bei jüngeren Schulkindern verdient der Nachweis historischer Kenntnis natürlich Lob, für Abiturienten und Studierende der Physik sollte Wissen um die historischen Erkenntniswege aber nicht den Status eines im Grunde überflüssigen Sahnehäubchens besitzen, sondern wesentlich zur Bildung gehören. Wie sonst, wenn nicht an konkreten Beispielen, könnte man Achtung vor menschlicher Leistung erwer- ben, etwas über die Mühsal der Forschung lernen oder die Wissenschaften als eine der größten Schöpfungen der Menschheit begreifen? Leider fällt die Überzeugungskraft dieses einfachen Arguments in unserer derzeitigen Bildungslandschaft auf keinen fruchtbaren Boden, denn die Realität wird vor allem durch andere Einflüsse geprägt. Insider beklagen einen über Jahrzehnte hinweg anhaltenden Verlust von Lehrstühlen für Wissenschaftsgeschichte an Universitäten – bis hin zum völ- ligen Ausbluten. Nicht nur an Gymnasien wird man kräftig für einen Abschluss getrimmt – sogenannte Bildungsstandards und Kompetenzbeschreibungen sollen höchstes Niveau garantieren, doch in Wahrheit steht schon längst nicht mehr eine weitgespannte Umfas- sung vielfältiger Themenbereiche im Brennpunkt von Unterricht und Lehre. Insbesondere die Physik leidet darunter. Als weltfremd, kompliziert und unanschaulich verkannt, würde gerade sie eine Richtigstellung benötigen: Ohne Physik gäbe es die technisierte Welt, ja unsere Zivilisation, nicht so, wie wir sie kennen, kompliziert an der Physik sind allenfalls die Formeln, nicht aber ihre Grundgedanken, und physikalische Modelle dienen letztlich auch der Veranschaulichung komplexer Sachverhalte. Und vor allem: Physik zu betreiben ist ein zutiefst menschliches Unterfangen. Ein Weg, die großen Missverständnisse zur Physik zu korrigieren, wäre, sie den nachwachsenden Generationen noch mehr als bislang als Teil des dramatischen Ringens um eine bessere Zukunft zu vermitteln und als Resultat einer bemerkenswerten Eigenschaft unserer Spezies – der Neugier. Mit den in der Ide- engeschichte der Physik vereinten Darstellungen und Materialien kann man sich dieser Aufgabe stellen, handelt es sich doch durchweg um die Schilderung von Bildungsgut. Die Verwendung dieses herrlich „altmodischen“ Wortes sei hier gestattet, hebt es sich doch wohltuend von den inflationär benutzten „Bildungsinhalten“ ab. Die meisten Fachphysiker oder Physiklehrer würden bekräftigen, dass es unbedingt wünschenswert wäre, die soeben geschilderten Lehr- und Unterrichtsziele anzustreben. Anzustreben ist die Vermittlung der Entwicklungsgeschichte der eigenen Disziplin gewiss, aber – und genau dies ist die entscheidende Frage – kann man auf sie auch verzichten, ohne das Gesamtverständnis infrage zu stellen? Um die Ideengeschichte angemessen zu würdigen, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass Wilfried Kuhn sein Werk nicht nur ver- fasst hat, weil er die Erreichung allgemeiner Bildungsziele unterstützen wollte. Er hat als Didaktiker und Wissenschaftshistoriker darüber geforscht, welchen Wert das Studium der Physikgeschichte für das Verständnis der modernen Physik hat und welche Perspektiven sich aus einer erkenntnistheoretischen Reflexion des zeitlichen Wandels physikalischer Begriffe und Arbeitsweisen für eine moderne Fachdidaktik ergeben. Diese Fragestellun- gen hat er auch im Vorwort zur Ideengeschichte angesprochen, ohne sie schulmeisterhaft sogleich umfassend zu klären. Er überließ es lieber dem Leser seiner Ideengeschichte, mögliche Antworten durch eigene Lektüre herauszufiltern, zumal eindimensionale, vom physikalischen Kontext abgelöste Aussagen ohnehin nicht möglich sind. Von jeher beschäftigen sich hervorragende Vertreter der Physik mit der Frage, wie man eigentlich ihre Disziplin definieren, wie man ihre wesentlichen Merkmale be- schreiben kann. Oft wird erwähnt, dass für physikalische Entdeckungen das freie Spiel mit Begriffen wesentlich sei. Verbreitet ist die Ansicht, Physik sei eine Wissenschaft, die sich auf eine nur für sie typische Weise mit dem Studium von Systemen befas- se. Wie bei der Charakterisierung der Physik immer wieder betont wird, ist sie eine Erfahrungswissenschaft. Gewiss nicht falsch, aber auch nur als erste grob umschrei- bende Beruhigungstablette für Schulkinder und studentische Anfänger taugend, ist die Aussage, Physik sei die Wissenschaft von den Eigenschaften, den Bewegungen, Zu- ständen und Strukturen in der nichtbelebten Materie, die in Lehr- und Schulbüchern weit verbreitet ist. Obgleich all diese Kriterien die Physik gut umschreiben, sie treffen nicht allein nur auf sie zu. Auf den ersten Blick ist es für eine nach begrifflicher Klar- heit strebende Naturwissenschaft überraschend, dass selbst die Grundfrage, wie sie ei- gentlich zu definieren sei, nicht ohne Weiteres zu beantworten ist. Zielführend ist nicht einmal das Ausschlussprinzip, also die Aufzählung aller Forschungsgebiete, die nicht zur Physik gehören – etwa Chemie, Biologie oder Astronomie. Auch dieses Vorgehen hat sich historisch immer wieder überholt, indem die Physik mit ihren experimentellen Methoden und Modellvorstellungen diese Disziplinen in vielfältiger Weise durchdrang, wodurch sich häufig neue Forschungsrichtungen wie etwa die Astrophysik, die physi- kalische Chemie oder die Biophysik herausbildeten. Wenn wir in den unterschiedlichen Definitionen der Physik nach Gemeinsamkeiten suchen, dann finden wir vor allem die Tatsache, dass viele Autoren die bereits erwähnte Begrifflichkeit der Physik besonders herausstellen. Wie man ebenfalls konstatieren kann, unterliegen alle Auffassungen da- rüber, was Physik nun sei, einem beständigen historischen Wandel. Auch die Bemühun- gen, die Physik über ihre konkreten Forschungsgegenstände zu charakterisieren, sind immer nur in einem bestimmten geschichtlichen Umfeld zielführend gewesen. Mit der Weiterentwicklung der Physik kamen neue Untersuchungsgegenstände hinzu oder – ein keineswegs seltenes Phänomen – ältere Forschungsgegenstände lösten sich in größeren Kontexten auf. Die Konsequenz aus den soeben dargelegten Fakten lässt sich in einer Aussage des bekannten Physikers und Physikhistorikers Max Jammer zusammenfassen, die auch Wilfried Kuhn bei vielen Anlässen gern zitiert hat: „Was eigentlich Physik ist, kann nur historisch verstanden werden.“ [1] Eine Fachwissenschaft wird wesentlich durch ihre typischen Forschungsmethoden konstituiert. Als zentrale physikalische Methode schlechthin muss die – nach langem historischem Vorlauf – von Galileo Galilei begründete experimentelle Methode ange- sehen werden. Unter dieser Methode versteht man bekanntlich das Wechselspiel zwi- schen Theorie und Experiment, bei dem eine zuvor im Rahmen von Modellüberlegun- gen und theoretischen Vorhersagen geplante Versuchsanordnung darüber entscheiden soll, ob die prognostizierten Entitäten, Zusammenhänge oder Phänomene in der Natur tatsächlich vorhanden sind. Wir können nicht auf die erkenntnistheoretische Kritik an diesem hier ohnehin nur holzschnittartig dargelegten Konzept eingehen. Es liegt im Selbstverständnis einer Disziplin, die Naturforschung betreibt, dass Strukturen und Zu- sammenhänge in der Welt tatsächlich vorhanden sind – in welcher Art auch immer. Wie die moderne Erkenntnistheorie lehrt, haben wir bei unserer Suche nach der natürlich gegebenen Weltordnung aber nicht die Möglichkeit, ihre Zusammenhänge unmittelbar und umfassend zu erkennen, quasi auf direkte Weise zu „sehen“. Wir unterliegen den engen Grenzen, die uns Sinnesorgane und Denkapparat setzen, z. B. sind wir bei der Na- turbeschreibung auf die Verwendung von Begriffen angewiesen, unmöglich können wir das Weltgeschehen allumfassend geistig durchdringen, ja wir können nicht einmal einen einzigen Naturvorgang in seiner vollständigen Komplexität abbilden. So ist das häufig zitierte paradigmatische Beispiel des realen freien Falls eines physikalischen Körpers, bei dem die vielfältigen Gravitationseinflüsse aller Himmelskörper, die Luftreibung, der Auftrieb, die Corioliskraft, die Oberflächengestalt und die Eigenrotation des fallenden Objekts zu beachten wären (und noch unendlich mehr), sorgfältig von den Aussagen über den freien und reibungslosen Fall eines Massepunkts im konstanten Schwerefeld zu unterscheiden, die im Unterricht gelehrt werden. Und deshalb gehört zur erkennt- nistheoretischen Darlegung der experimentellen Methode vor allem die Herausstellung einer wichtigen Tatsache: Sowohl im Rahmen theoretischer Überlegungen als auch bei der Entwicklung von Versuchsanordnungen handelt es sich um Idealisierungsprozesse, die auf begrifflicher Ebene erfolgen. Als außerordentlich erfolgreich für diese Ideali- sierungen hat sich die Anwendung der Mathematik erwiesen. Über den Ausgang eines Experiments entscheidet auch der Umstand, wie gut die Physik die benutzten Begriffe und Definitionen der Natur zuvor abgelauscht hat. Ein freudiges „Hallo“ aus der Natur, verbunden mit der Erklärung, wie sie nun wirklich sei, hat noch niemand vernommen, sondern immer nur, mit etwas Glück, eine einigermaßen passende Antwort auf eine zuvor mit dem Experiment verbundene Frage. Und diese Antwort wird immer in der Sprache gegeben, die man für die Formulierung der Frage benutzt hat. Das Experiment kann „passen“, unter Umständen ist nur ein spezieller Rechenweg zu ändern, ein Para- meter zu korrigieren, und der Versuch zeigt dann das erwartete Resultat. Doch vielleicht – wenn dieses leicht korrigierende Vorgehen nicht zum Erfolg führt – muss der ge- samte Begriffsapparat umgedeutet, erweitert oder mit neuen Inhalten versehen werden. Nicht nur die Fragestellung selbst, sondern auch die gedankliche Einbettung, aus der sie entspringt, sind dann neu zu formulieren. Wie die Physikgeschichte lehrt, ist das ein extrem schmerzhafter und zuweilen recht langwieriger Prozess, den man im Rahmen der Wissenschaftstheorie durch verschiedene Modellansätze zu beschreiben versucht. Was für eine exakte Wissenschaft aber noch viel aufwühlender ist: Bis heute kennen wir keinen reproduzierbaren Weg, auf dem es möglich wäre, der Natur die physikalischen Begriffe so abzulauschen, dass wir in die Lage versetzt würden, nach Belieben bessere und umfassendere Modellvorstellungen und Theorien zu formulieren. Mit extrem gro- ßer Wahrscheinlichkeit wird man auch niemals einen solchen Weg finden. „Über die Art und Weise, wie wir Begriffe zu bilden und zu verknüpfen haben und wie wir sie den Sinneserlebnissen zuzuordnen haben, lässt sich nach meiner Ansicht a priori nicht das geringste aussagen“ – so Einstein zu dieser Problematik [2]. Ohne Newton gäbe es kei- ne Newton´schen Axiome, ohne Maxwell keine Maxwellgleichungen und ohne Einstein kein spezielles und allgemeines Relativitätsprinzip. Es bleibt der Phantasie, der Geni- alität und der Hartnäckigkeit einzelner Personen vorbehalten, diese großen Würfe zu vollziehen. Ihre Ideen beziehen solche herausragenden Persönlichkeiten dabei notwen- dig aus den jeweiligen individuellen, wissenschaftlichen und kulturellen Umfeldern, die vor allem historisch geprägt sind. Wir kommen nicht umhin, eine entscheidende Schnittstelle der Physik im Reich der freien und teilweise außerlogischen Geistes- und Sinnestätigkeit anzusiedeln. Um noch einmal Einstein zu zitieren: „Das Erfinden ist kein Werk des logischen Denkens. Wenn auch das Endprodukt an die logische Gestalt gebunden ist.“ [3] Eine Konsequenz der aus intuitivem und individuellem Denken geborenen Modell- bildungen ist, dass es häufig alternative Erklärungen von Phänomenen gibt. Die Phy- sik geht damit pragmatisch um, indem sie anstrebt, unter den möglichen Deutungen die einfachste oder zweckmäßigste zu wählen. Virtuosen des physikalischen Denkens springen zwischen den verschiedenen Begriffs- und Modellebenen hin und her, merken es vielleicht nicht einmal, wundern sich jedenfalls nicht, dass man ein und dieselbe Sache durch verschiedene Ansätze erklären kann. Das ist für die Physik gewissermaßen der Normalzustand. Einige Aspekte der Physik sind also befreiend und zutiefst mensch- lich – allerdings mit tiefgreifenden Konsequenzen für unser Denken: Obgleich wir fest davon überzeugt sind, dass sich der physikalische Erkenntnisprozess iterativ an die Rea- lität annähert (ohne hier klären zu können, was diese Aussage eigentlich bedeuten soll), müssen wir der Physik selbst eine historische Mehrdimensionalität zugestehen. Könn- te man mit einem Resetknopf die letzten 400 Jahre Physikgeschichte immer wieder „auf null“ zurücksetzen und dann im Zeitraffer ablaufen lassen, würden wir wohl jedes Mal eine andere Physik sehen, eine Physik mit anderen Begriffen, Modellen, Theorien und Experimenten, aber natürlich immer noch eine Physik, die wesentliche Aspekte der Welt beschreibt. Zu oft gab es in der Vergangenheit gute Gelegenheiten, entweder rechts oder links abzubiegen. Friedrich Hund formulierte bei der Erörterung dieses Pro- blems: „Darf man fragen; wie hätte sich die Physik entwickelt, wenn das schwächliche Siebenmonatskind Isaak Newton nicht am Leben geblieben wäre, wenn Davy nicht dem jungen Faraday eine Stelle angeboten hätte?“ [4] Diese Frage führt zu zwei Einsichten. Die erste lautet, dass nicht alles an der Physik unwiderruflich in Stein gemeißelt ist, weshalb wir besondere Anstrengungen unterneh- men müssen, um in unserem Erkenntnisstreben nicht wahllos in der Welt umherzustol- pern. Die zweite Erkenntnis lautet: Der Einzelne, im Hier und Jetzt verhaftet, hat keine andere Möglichkeit, als die historisch gewordenen Begriffe der Physik zu verwenden. Es wäre für ihn unmöglich, diese in nur einem Menschenleben allein und nur aus sich selbst heraus neu zu erschaffen. Das Gespür für diese Tatsachen entwickelt man vor allem aus einer geschichtlich untermauerten erkenntnistheoretischen Betrachtung der Physik. Doch was könnten nun die Elemente an unserer Physik sein, die nicht beliebig und zufällig sind? Das soeben beschriebene Gedankenexperiment darf eine wichtige Tatsache nicht außer Acht lassen: Jede nur denkbare Physik wäre unbedingt eine Erfahrungswissen- schaft. Auch wenn sie anders als die unsrige wäre, zum Beispiel das Gravitationsgesetz anders formulieren würde als wir es tun, hätte sie sehr wahrscheinlich das, was wir als fundamentale Naturgesetze, Prinzipien oder Strukturen kennen, auch aufgespürt. Dazu gehören Erhaltungs- und Symmetrieprinzipen, Konstanzprinzipien, die Existenz von Wechselwirkungen, Transformationseigenschaften beim Wechsel von Inertialsystemen, die Mikro- und Makrostruktur des Universums oder die Tatsache, dass man einige Phä- nomene zweckmäßig mit sich kontinuierlich in Raum und Zeit ändernden, andere wie- derum besser mit diskreten, sich sprunghaft ändernden Größen beschreiben kann. Ob wir mit dieser Einschätzung richtig liegen, ist nicht beweisbar, aber die Art und Weise, wie unsere Physik auf diese Leitthemen aufmerksam wurde, wie sie andere Leitideen als unzweckmäßig verwarf und wie sich historisch herausstellte, dass die allen Wider- legungsversuchen bisher standhaltenden Prinzipien immer wieder zielführend bei der Bemühung sind, Neues zu entdecken und zu erklären, legt doch nahe, dass wir hier auf wesentliche Eigenschaften der Natur gestoßen sind. Wer das Wesen der Physik und ihrer Erkenntnisse erfassen will, muss vor allem ihre Leitprinzipien und -ideen verstehen und dieses Verständnis wird im soeben geschilderten Sinn tiefer sein, wenn die historischen Wege, auf denen man sie aufgedeckt hat, verinnerlicht werden konnten. In seiner berühmten Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, gehalten im Jahre 1789 an der Universität Jena, definierte Fried- rich Schiller zwei Prototypen eines Gelehrten – den Brotgelehrten, der sich ängstlich um jede Erneuerung seiner Fachdisziplin herumwindet, die für ihn letztlich nur Er- werbsmittel ist, und den philosophischen Kopf, der bereit ist, persönliche Opfer zu brin- gen, hergebrachte Gedankengebäude aufzugeben, um der Wahrheit zu dienen, und der ein Ziel über alle anderen stellt – die Vollendung seines Wissens. [5] Diese beiden Prototypen bevölkern auch die heutigen Universitäten, doch man trifft sie kaum unter Physikstudierenden an. Die intellektuelle Herausforderung eines Phy- sikstudiums ist einfach zu groß, potenzielle Brotgelehrte ringen sich erfahrungsgemäß nicht dazu durch, gerade diesen Studiengang zu belegen, denn zur Realisierung ihrer Absichten gibt es bessere Möglichkeiten. Bei vielen Studierenden der Physik trifft man tatsächlich auf faustische Züge – sie wollen wissen, „was die Welt im Innersten zusam- menhält“. Doch wenn sie Pech haben, dann geraten sie in die Fänge von Ausbildern, die nur zwei Ziele verfolgen – das Trainieren ausgefeilter theoretischer Rechenkünste und das Exerzieren der Durchführung von Experimenten mit größter Präzision. Diese Fähigkeiten sind natürlich ungemein wichtig. Ohne sie kann man später nicht bestehen und die Aneignung solcher spezieller Kenntnisse ist in jeder Hinsicht wünschenswert. Doch wenn das Studium nicht mehr als dies hergibt, wird es skandalös und betrüge- risch. Skandalös, weil wir junge Menschen in die Gesellschaft entlassen, die zwar die Fähigkeit haben, Sachverhalte zu managen, die aber nicht ausreichend gelernt haben, was eigentlich zu tun ist, wenn man anstrebt, etwas Neues zu entdecken, das Unbe- kannte aufzuspüren oder einfach nur seine Tätigkeit in einen sinnvollen Gesamtzusam- menhang zu stellen. Betrügerisch, weil man dadurch die Studierenden, von diesen oft- mals gar nicht bemerkt, in dem Glauben lässt, sie wären philosophische Köpfe, derweil sie still und heimlich doch die Grundausstattung des Brotgelehrten empfangen haben. Auch die Hochschuldidaktik ist daran nicht unschuldig. Je ausgefeilter deren Methoden werden, desto besser ist sie in der Lage, die Physik als logisch durchkonstruiertes und deshalb streng deduzierbares Konstrukt zu suggerieren. Freudig erregte Studierende, die ernsthaft behaupten, sie hätten gerade aufgrund einer Analogiebetrachtung zur all- gemeinen Wellengleichung die Schrödingergleichung hergeleitet oder Referendare, die man nicht von der Selbstverblendung abbringen kann, sie hätten allen Ernstes durch ein Experiment zum äußeren lichtelektrischen Effekt mit ihren Schülern Einsteins Quan- tenpostulat entdeckt, haben den Kern dessen, was die Physik eigentlich ausmacht und wie sie funktioniert, nicht einmal ansatzweise verstanden. Sie können allenfalls mit ihr umgehen – wie Klempner im Universum. Besonders prekär wird diese Situation im Physikunterricht. Die Fachdidaktik sollte das regulierende Normativ sein, wenn es darum geht, zwischen den Ansprüchen der Pädagogik, der Lern- und Entwicklungspsychologie und der Fachphysik zu vermitteln. Doch jeder, der sich auch nur ansatzweise mit fachdidaktischen Fragestellungen befasst, lernt schnell, dass man sich unmöglich in all diese Teildisziplinen auf gleich hohem Ni- veau einarbeiten und hineindenken kann. Um einen angemessenen Ausgleich zwischen pädagogischen, psychologischen und physikalischen Zielvorstellung zu gewährleisten, bedarf es von jeder Disziplin gewisser Hilfestellungen. Aus fachwissenschaftlicher Sicht ist eine gute Kenntnis der Physikgeschichte unbedingt hilfreich, wie folgendes Beispiel belegen mag. Eine immer wieder von der Pädagogik erhobene Forderung lautet, Lernende mögen die Unterrichtsgegenstände im Alleingang untersuchen, Zusammenhänge selbst her- ausfinden, die Lehrkraft solle nur noch – wenn überhaupt – regulierend eingreifen. Es zählt vor allem das, was die Schüler selbst herausfinden. Dahinter steckt die im Prinzip korrekte Überlegung, dass man nur dann etwas lernen kann, wenn man es durch eigene Aktivität verinnerlicht. Doch so gut dieser Ansatz auch gemeint sein mag, er ist bei der Vermittlung der Physik – und nicht nur der Physik – kaum, jedenfalls nicht ausschließ- lich, durchzuhalten. Spätestens dann, wenn Lernende etwas aus Experimenten herausle- sen sollen, ohne zuvor eine theoretische Beschreibung des experimentellen Rahmens zu besitzen, wenn sie Begriffe aufdecken müssen, die durch logisches Denken allein nicht aufzustöbern sind, und wenn sie etwas interpretieren sollen, ohne dass man ihnen zuvor die dazu angemessene Sprache vermittelt hat, wird es kritisch. Es gehört zu den größten Merkwürdigkeiten mancher Lehrerausbildung, dass das einfachste Mittel verboten ist, um diese erkenntnistheoretischen Stolpersteine zu beseitigen – das Vermitteln der nicht im Alleingang erschließbaren Zusammenhänge durch die Lehrkraft. Unübertroffen ist der sogenannte stille Impuls – durch Vorzeigen eines Artefakts sollen Lernende auch noch ganz allein herausfinden, was in der nächsten Stunde so dran ist. Eine Fachdidak- tik, die hier nicht eingreift, hat zweifellos versagt. So entwickelt sich inzwischen an den Schulen ein beachtlicher Rummel, dessen Ingredienzien Posterwände, verschlun-
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