Gert-Joachim Glaeßner . Herrschaft durch Kader Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliehe Forschung der Freien Universität Berlin ehemals Schriften des Instituts für politische Wissenschaft Band 28 Gert-Joachim Glaeßner Herrschaft durch Kader Leitung der Gesellschaft und Kaderpolitik in der DDR am Beispiel des Staatsapparates Westdeutscher Verlag CIP-KurztitelauCnahme der Deutschen Bibliothek G1atssnet, Gm-JOIChim HerrschaCt durch Kader: Ltitung d. GtstllschaCt u. Kaderpolitik in d. DDR Im Beispiel d. Staatsapparatts. - 1. Auf!. - WitsbadeD: Westdeutschtr Verlag, 1977. (Schriften des ZeDtraiinstituts für Sotialwisstn schaftliche Forschung dtr Freien Univtrsitit Berlin; Bd. 28) ISBN 978-3-531-11431-6 ISBN 978-3-322-85715-6 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-85715-6 D 188 Cl 1977 Wtstdeutschtr Verlag GmbH, Opladen Satz: H. E. HenninJfl', Wiesbaden Alle Rechte vorbehalten. Auch die fotomechanische Vel'Vielfli.itigung dts Werkes (Fotokopie, Mikrokopie) oder von Teilen daraus bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. ISBN 978-3-531-11431-6 Vorbemerkung Diese Arbeit ist im Rahmen eines Forschungsvorhabens entstanden, das unter dem Arbeitstitel "Fachwissen in der Politik. Studien zum Wandel des Herrschafts- und Gesellschaftssystems in der DDR seit 1963" im Arbeitsbereich DDR-Forschung und -Archiv des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Univer sität Berlin durchgeführt wird. Im Arbeitsbericht des Instituts wird die Problemstel lung dieses Projekts folgendermaßen beschrieben: Das "Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (NÖS) 1963, das tiefgreifende Reformen nicht nur des Wirtschaftssystems in der DDR einleitete und über die Zwischenstufe des "Ökonomischen Systems des Sozia lismus" (ÖSS) bis zum VIII. Parteitag der SED Programmatik und Gesellschaftspoli tik der SED bestimmte, beruhte nicht zuletzt auf einer Neuinterpretation der Rolle der Wissenschaft für den politischen, ökonomischen und sozialen Prozeß. In der zu dieser Zeit entwickelten Konzeption der "wissenschaftlich-technischen Revolution" fand diese Bewertung der Wissenschaft als Produktivkraft ihren Ausdruck. Ein Er gebnis dieser neuen Sichtweise war es, daß eine Reihe bis dahin als "bürgerlich" abgelehnter Disziplinen wie z. B. die Kybernetik, Systemtheorie, Soziologie, Orga nisationswissenschaft rezipiert und damit die Begrenzungen der bis dahin gültigen Fassung des Marxismus-Leninismus teilweise aufgegeben wurden. Die Öffnung für neue Wissenschaften, die weitgehende Freisetzung der angewandten Naturwissen schaften von ideologischen Hemmnissen schien darüber hinaus auch einen qualita tiven Sprung in der eigenen gesellschaftspolitischen Entwicklung zu ermöglichen, von dem die Erfüllung bisher uneingelöster Zukunftserwartungen - z. B. die Auf hebung der Arbeitsteilung in geistige und körperliche Arbeit, das Ein- und über holen kapitalistischer Industriegesellschaften sowohl in der Höhe der Arbeitspro duktivität als auch im Lebensstandard - erwartet wurde. Weiter bedeutete die Zulassung und Pflege solcher Wissenschaftszweige, die vor allem Leitungsprobleme zum Gegenstand ihrer Analysen machten, daß die Organisationsstrukturen in allen politisch-gesellschaftlichen Bereichen einem Wandlungsprozeß unterworfen wurden, der nicht mehr ausdrücklich und unvermittelt aus der Sicherung der ideologisch begründeten Führungsrolle der Partei abzuleiten war. Die Verwissenschaftlichung der Führungstätigkeit selbst sowie die Anwendung wissenschaftlicher Verfahren in Produktion, Verteilung und Planung stellte neue Anforderungen an die Qualifika tion der Inhaber von Leitungspositionen, der Kader. Zwar mußte das gesamte Bil dungssystem den gewachsenen und sich ständig verändernden Anforderungen an gepaßt werden, aber die Akzentsetzung auf "Wissenschaft" machte vor allem ein neues Aus- und Weiterbildungssystem für die Leitungskader notwendig. Die Erwar- 6 Vorbemerkung tung, daß in Zukunft wirtschaftliches und damit auch gesellschaftliches Wachstum vor allem von der Überführung neuer Forschungsergebnisse in die Produktion ab hängen würde, stellte die Frage nach effizienteren Formen der Forschungsorganisa tion, der Forschungsplanung und der Koordination zwischen den Forschungsinsti tutionen und Produktionsstätten. Die staatlichen Leitungsorgane standen einem sich rasch verändernden, immer komplexer und zugleich differenzierter werdenden Aufgabenfeld gegenüber, auf das sich die Entscheidungsorganisation einstellen mußte. Neben der Qualifikation der Staatsfunktionäre, der Anpassung der Organisationsstrukturen, der Neuverteilung und Abgrenzung von Kompetenzen galt es auch, Wege zu finden, Sach- und Fach wissen außerhalb des Staatsapparates im engeren Sinne für die Vorbereitung, Fin dung und Durchführung von Entscheidungen beratend einzubeziehen, ohne daß damit die Verantwortlichkeiten und der Führungsanspruch in der Substanz verän dert werden sollten. Das Forschungsprojekt .. Fachwissen in der Politik" setzt sich das Ziel, diesem notwendig konfliktreichen Prozeß in einigen exemplarischen Bereichen nachzu gehen, um die Konfliktfelder näher bestimmen zu können. Diese resultieren vor allem aus den Gegensätzen zwischen tradierten und ideologisch sanktionierten For men der Herrschaftsausübung mit den Eigengesetzlichkeiten einer zugleich positiv gewollten ökonomisch effizienten und auf dem letzten Stand der Technik befind lichen Produktionsorganisation sowie den sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die soziale Struktur, auf Einstellungen und Verhalten gesellschaftlicher Gruppen und Schichten. Obwohl der VIII. Parteitag der SED 1971 erneut einen Einschnitt in der Ge schichte der DDR markierte, einen Teil der Reformen rückgängig machte und vor allem die Hoffnungen auf die wissenschaftlich-technische Revolution sehr viel weiter in die Zukunft verlegt wurden, kann gerade in der seitdem zu konstatieren den Forcierung der sozialpolitischen Bemühungen und in dem Versuch, Sozialpoli tik zur .. Sozialplanung" auszuweiten sowie darin, den Lebensstandard durch eine stärkere Berücksichtigung der unmittelbaren Bedürfnisse der Gesellschaftsmitglieder zu heben, die Bestätigung dafür gesehen werden, daß der beschleunigte technische Fortschritt auch in politisch-gesellschaftlichen Systemen wie dem der DDR Pro bleme aufwirft, die noch keineswegs gelöst sind. Andererseits ist in den Jahren nach 1971 ebenso deutlich geworden, daß die Reduzierung der Erwartungen nicht eine generelle Abkehr von der Wachstumsorientiertheit und den Zivilisationsmustern hochindustrialisierter Gesellschaften bedeutete und wohl auch nicht mehr bedeuten konnte. Zahlreiche Anregungen konnte ich den im Rahmen dieses Projekts entstandenen Einzelstudien über die Entwicklung der ideologisch-programmatischen Konzeption der .. wissenschaftlich-technischen Revolution" (Hartrnut Zimmermann), die Rezep tion der Organisationswissenschaften (Erhard Stölting), die Organisations-und Ent scheidungsprozesse im zentralen Staatsapparat (Gero Neugebauer) und über Pro bleme der Kaderpolitik im Wirtschaftsapparat (Irmhild Rudolph) entnehmen. Die teils kontroverse, aber stets solidarische Diskussion mit diesen Kollegen, ferner mit Vorbemerkung 7 Günter Erbe, Hasko Hüning, Jürgen Straßburger und Walter Völkel zwang mich, meine Thesen und Schlußfolgerungen immer wieder zu überprüfen. Hartmut Zimmermann hat diese Arbeit von Anfang an kritisch begleitet und mir in vielen Gesprächen wesentliche Anregungen und Hinweise gegeben. Ohne seine freundschaftliche Hilfe und stete produktive "Verunsicherung" wäre sie nicht zu stande gekommen. Für die langjährige enge Zusammenarbeit, konstruktive Kritik und vor allem aber persönliches Verständnis bin ich Irmhild Rudolph verbunden. Prof. Martin Jänicke und Prof. Ossip K. Flechtheim danke ich für ihre gutachter liche Stellungnahme. Beim Aufsuchen und Bereitstellen der unterschiedlichen Quellenmaterialien haben mich in der Bibliothek (Leitung Ursula Thilo) Ursula Anders und Renate Heinrich, im DDR-Archiv Gisela Weichert und Gunter Götzke in jeder Weise unter stützt. Mein Dank gilt nicht zuletzt Frauke Burian für die hervorragende Zusammen arbeit bei der Redaktion, Ursula Böhme und Hildegard Euchler für ihre Mühe beim Niederschreiben der verschiedenen Textfassungen, Ursula Böhme darüber hinaus für die Mitarbeit bei der Erstellung des Registers. Berlin, Frühjahr 1977 Gert-J oachim Glaeßner Inhalt Vorbemerkung . . . 5 Abkürz ungsverzeichnis 13 Einleitung: Gegenstand der Untersuchung 15 Teil I: Gesellschaftliche Transformation und Leitung in der Konzeption des Marxismus-Leninismus .................... 22 1. Zum Problem bürokratischer Herrschaft im Sozialismus 22 2. Die Kader als Avantgarde. Zur Kaderpolitik der leninistischen Partei 37 2.1. Die Leninsche Konzeption der Avantgardepartei ......... 37 2.2. Kaderpolitik als Mittel zur Herrschaftsausübung der leninistischen Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.2.1. Arbeitsprinzipien des Parteiapparates .......... 57 2.2.2. Von der Kontrolle zur Leitung (Neue ökonomische Politik). 61 2.2.3. Sozialismus in einem Land ............... 65 2.2.4. Ontologisierung der Avantgardekonzeption ....... 69 2.3. Prinzipien stalinistischer Kaderpolitik und Entwicklung des Kader- begriffs ............................ 73 Teil II: Die Leitung der Gesellschaft. Zur Herrschaftskonzeption der SED 79 1. Zur Rezeption des stalinistischen Transformationsmodells durch die SED ...... 81 1.1. Die Ausgangssituation 81 1.2. Die Partei neuen Typus 88 1.3. Die Aufgaben und Funktion der Kader 93 2. Staatliche Leitung und Kaderpolitik in der Übergangsperiode 101 2.1. Halbheiten bei der Überwindung des Stalinismus 101 2.1.1. Die Folgen des XX. Parteitages der KPdSU . . . . . 104 2.1.2. Leitungsprobleme aus der Sicht des "Revisionismus" 106 2.1.3. Einige Folgen der Revisionismusdebatte 109 2.2. Neue Aufgaben staatlicher Leitung 112 10 Inhalt 2.2.1. Eine erste Reform der Leitungsstrukturen (25. Tagung des ZK der SED 1955) ................ 112 2.2.2. Ansätze zu einem "Linkskurs" 1957 114 2.2.3. Reform der Struktur des Staatsapparates 1958 116 2.2.4. Der Siebenjahrplan und Probleme der Leitung im Staatsapparat 118 2.2.5. Zum Verhältnis von Partei und Staatsapparat (Beschluß des Polit- büros und des Ministerrates vom 14. Juli 1960) 120 2.3. Kaderpolitik im Staatsapparat ....... 122 3. Leitung im Konzept ökonomischer Reformen 132 3.1. Das Neue Ökonomische System (NÖS) . . . . 132 3.1.1. Zum Verhältnis v@n Politik und Ökonomie im NÖS 135 3.1.2. Auswirkungen auf die politischen Strukturen 140 3.2. Das Ökonomische System des Sozialismus (ÖSS). . 145 3.2.1. Die Konzeption des ÖSS ............ 145 3.2.2. Konsequenzen des ÖSS für die Planungs-und Leitungsprozesse 147 4. Entwicklungstendenzen nach dem VIII. Parteitag der SED 151 TeilIll: Leitung als Wissenschaft 155 1. Probleme wissenschaftlicher Leitung des Staates und des Staats- apparates ..................... . 156 1.1. Zum Verhältnis von Staat, Recht und Politik in der DDR 156 1.2. Aufgaben und Funktionen des Staates . . . . . . . . . 163 1.3. Die Staats-und Rechtswissenschaft als Leitungswissenschaft 176 1.4. Tendenzen und Ergebnisse der Diskussion ...... . 189 2. Entwicklung und Funktion der Leitungswissenschaft ... . 192 2.1. Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . 192 2.2. Entwicklung der Leitungswissenschaft in der DDR 198 2.2.1. Sozialistische Wirtschaftsführung ....... . 198 2.2.2. Marxistisch-leninistische Organisationswissenschaft 200 2.2.3. Operationsforschung . . . . . . . . . . . . . 203 2.3. Organisationswissenschaft und staatliche Leitung 205 2.4. Kritik an der Leitungswissenschaft .. . . . . . 208 Teil IV; Wissenschaftliche Leitung und Kaderpolitik 218 1. Der Kader als Leiter und Fachmann ........ . 221 1.1. Neufassung des Kaderbegriffs ........... . 221 1.2. Zur politischen und fachlichen Qualifikation der Kader 225 1.3. Qualifikations-und Leistungsanforderungen ..... 231 Inhalt 11 2. Methoden der Kaderrekrutierung 237 2.1. Die Funktion der Nomenklatur 239 2.2. Auswahlverfahren 245 2.3. Planung des Kaderbedarfs 253 3. Das Qualifizierungssystem 256 3.1. Struktur-und Funktionsprinzipien 256 3.2. Aufgabenverteilung in der Kaderqualifizierung 258 3.3. Institutionelle Struktur des Weiterbildungssystems des Staatsappa- rates .................... 261 3.4. Die Akademie für Staats-und Rechtswissenschaft 267 3.4.1. Struktur ....... 267 3.4.2. Lehre......... 270 3.4.2.1. Führungskaderlehrgänge 270 3.4.2.2. Zweijahresstudium . . . 271 3.4.2.3. Hochschulausbildung für Staatskader 273 3.4.2.4. Das organisierte Selbststudium 274 3.4.3. Die Stellung der Akademie in der Forschungsorganisation 275 3.5. Bildungseinrichtungen für Kader der mittleren Leistungsebene 279 3.5.1. Die Fachschule für Staatswissenschaft "Edwin Hoernle" 279 3.5.2. Die Betriebsakademien der Räte der Bezirke 281 3.5.3. Die Betriebsakademien der Räte der Kreise 282 4. Ergebnisse der Kaderpolitik ...... 283 Schluß betrachtungen ..................... 288 Exkurs I: Entstehung des Kaderapparates der SED . . . . . . . . . . . . 291 Exkurs II: Geschichte der Weiterbildungsinstitutionen des Staatsapparates 301 1. Entwicklung der Grundzüge eines Weiterbildungssystems (1945-1958) 301 1.1. Zur Funktion der Parteischulung 301 1.2. Bildungseinrichtungen des Staatsapparates 304 1. 3. Die "Staatspolitische Schulung" 31 0 2. Auswirkungen der Babelsberger Konferenz für die Aus- und Weiter- bildung leitender Kader an der DASR ......... 312 3. Die Leitung der Wirtschaft als Problem der Weiterbildung . . .. 320 4. Qualifizierung im Zeichen des NÖS .............. 324 4.1. Reform der Organisationsstruktur und neue Aufgaben der DASR 327
Description: