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Hanna Nagel: Ich zeichne weil es mein Leben ist PDF

121 Pages·1977·4.967 MB·German
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HannaNagel Selbstbildnis, um t 931, Feder HannaNagel Ich zeichne weil es mein Leben ist Springer-Verlag Berlin Heidelberg GmbH Herausgegeben van Irene Fischer-Nagel mit einer Einftihrung van Dr. Klaus Mugdan Bildauswahl van Irene Fischer-Nagel und Dr. Klaus Mugdan Repraduktionen: Wilhelm Riegger, Karlsruhe Gesamtherstellung: G. Braun, Karlsruhe © 1977 Springer-Verlag Berlin Heidelberg Ursprunglich erschienen bei G. Braun 1977 Safteaver reprint of the hardcover 1s t editian 1977 ISBN 978-3-7650-9012-7 ISBN 978-3-662-24611-5 (eBook) DOI 10.1007/978-3-662-24611-5 CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliathek Nagel, Hanna Hanna Nagel / hrsg. van Irene Fischer-Nagel mit e. Einf. van Klaus Mugdan. ISBN 978-3-7650-9012-7 Einführung von Klaus Mugdan Der hier vorgelegte Bildband ist keine Künstlermonogra nen bemerkenswerten Kulminationspunkt mit der Ent phie. Nur ein Teilbereich aus dem vielfältigen Werk der stehung derfünfundzwanzig Blätter zu den Preludes von 1975 im Alter von siebenundsechzig Jahren verstorbe Chopin, einer geschlossenen, vieles zusammenfassen nen Zeichnerin Hanna Nagel wird sichtbar gemacht, frei den und verdichtenden Bilderfolge inmitten des Zyklus lich ein Bereich, der sicherlich die Mitte ihres Schaffens ganzen. Es ist das Gesamtwerk der rund 500 dunklen darstellt und durch den der Rang dieser Künstlerin be Blätter, für das das zitierte Wort Hanna Nagels gilt: "Ich deutungsvoll festgelegt ist. zeichne, weil es mein Leben ist ... " Wir wissen, daß sie andere Teile ihres künstlerischen Bemühens durchaus nicht in dieser Weise verstanden hat: Unter die oben zu erst besprochene und sicherlich in einem tieferen Sinn Der Zyklus "Dunkle Blätter" bedeutsame Selbstbildniszeichnung schrieb sie später in einer Stunde des Unmuts das Wort "Fronarbeit". Es ist Sie selber hat die Blätter, von denen hier die Rede ist, ihre bekannt, daß Hanna Nagel, um leben zu können, viele "Dunklen Blätter" genannt. Es sind bekennerische, ohne mehr oder minder zufällige Aufträge übernehmen mußte. Auftrag entstandene Zeichnungen, fortlaufende Bild Sie hat für Zeitungen und Zeitschriften gearbeitet, über zeugnisse einer inneren Biographie - der seelischen Er hundert Bücher wurden von ihr illustriert. Vortreffliches ist fahrungen einer Frau, wie sie in solcher Dichte kein zwei ihr zweifellos auch auf diesem Gebiet gelungen, vor al tes Mal in der deutschen Kunst unseres Jahrhunderts zu lem, als sie sich in späteren Jahren an die geliebten finden sein dürften. Als Vierundzwanzigjährige, 1931, "schweren Russen" machen durfte. Aber es ist keine begann die Zeichnerin mit diesem ihrem großen und ei Frage, daß sie sich mit ihren "Fronarbeiten" auch ge gentlichen Zyklus, offenbar ganz spontan nicht nur den schadet hat. Die so entstandenen geläufigen Zeichnun besonderen traumdunklen Bereich, sondern auch die gen, in denen die Künstlerin manches von dem Reichtum entscheidenden formalen, gestalthaften und technischen ihrer dunklen Bildweltin kleiner Münze ausgab, haben die Ausdrucksmittel für ihr Werk entdeckend, dessen Aus Vorstellung von ihrer Kunst weithin bestimmt und zu ei maß sie bei jenem Anfang wohl kaum vorausgeahnt hat. ner bedauerlichen Verkennung ihrer Originalität und Be "Ich zeichne, weil es mein Leben ist" - so wußte sie es deutung geführt. später, und so erkennen wir sie auf dem kleinen, neben Die Bildauswahl der folgenden achtzig Tafeln will durch dem Titelblatt abgebildeten Selbstbildnis aus frühen Jah die weitgehende Beschränkung auf dunkle Blätter und ren: hingekrümmt auf ihren Zeichentisch, eine Gefan auch durch deren nahezu originalgroße farbige Wieder gene in dem dunklen Innenraum ihres Schauens, dessen gabe einer angemesseneren Vorstellung von Hanna Na Fenster vergittert ist; Gesicht und Augen sind von der gels Kunst dienen. Diese Beschränkung bedeutet kei schwer auf dem Tisch liegenden Arbeitshand weg nach nesfalls ein paUSChales Abwerten des übrigen Werkes; vorne gewandt, gebannt von dem, was sie wahrnehmen: siegehtfreilich-das wurde schon erwähnt-von derVor das Spiegelbild - Gestalt, Gesicht und Augen ihrer aussetzung aus, daß Hanna Nagels Schaffen einen selbst, die sich hier gegenübersitzt und anblickt. In einem Kernbereich besitzt, aus dem die entscheidenden Maß zweiten Selbstbildnis (auf dem Einband dieses Buches) stäbe für die Erkenntnis ihrer Kunst gewonnen werden sehen wir sie, einen Handspiegel emporhaltend, in den müssen. Hiermit wird nichts Neues gesagt. Wer immer sie hineinschaut. Die schwarze Rückseite des Spiegels sich mit dem Werk der Zeichnerin ernsthaft beschäftigt ist in faszinierender Weise zur Mitte des Bildes ge hat, ist den dunklen Blättern begegnet und hat deren Be macht, und wir sehen es nicht anders: es ist dieses fast deutung erkannt. Aber es fehlt in der Tat bisher eine ein leuchtende Schwarz, in dem sich die Schauende er drucksvolle, die thematische und formale Entwicklung kennt. dieses Lebenszyklus sichtbar machende Bildpublikation. Der Zyklus der "Dunklen Blätter" endete erst mit dem Auch das mit besonderer Einfühlungsgabe geschriebene Tag, an dem Krankheit und der nahende Tod der Zeich Hanna-Nagel-Buch von Eberhard Ruhmer aus dem Jahre nerin die Feder aus der Hand nahmen. Er hatte seine 1965 hat diese Lücke nicht geschlossen. In der Auswahl größte Dichte und Vielfalt in den ersten fünfzehn Jahren. und Anordnung der Bilder betont es - sicherlich auch Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte er ei- entspreChend der Absicht der damals noch lebenden 5 Der Versuch wurde gemacht, die Bilder dieses Bandes in zusammengehörenden und zeitlich aufeinanderfolgen den Gruppen zu ordnen. Dies konnte nur mit beträchtli chen Einschränkungen gelingen. Hanna Nagel tat alles, um eine solche Ordnung zu erschweren. Sie datierte ihre Zeichnungen in den Jahrzehnten nach dem Krieg nie mehr, auf älteren Blättern machte sie die Jahreszahlen unkenntlich. Sie "verwischte die Spuren", und sie sprach es aus: Es sollten keine Vergleiche angestellt werden zwischen ihrem frühen und späteren Werk. Sie ließ sich in dieser Hinsicht-und eigentlich bei jedem auf die Ana lyse ihres Werkes zielenden Gespräch - nicht wirklich auf Fragen ein. Entwicklung - Anstöße - Vorbilder Eigentümlich verhüllt und kaum zu ergründen in Bedingt heit und Unbedingtheit ist bereits der Anfang: die Entste hung der ersten dunklen Blätter zu Beginn der 1930er Jahre. Was vorausging - so scheint es - wird plötzliCh verlassen; und es enthielt auch kaum einen deutlichen Ansatz des Kommenden und nun Beginnenden. Wir kennen einiges von den Arbeiten der Schülerin Hub buchs in Karlsruhe, aus der Zeit also vor 1929: Bleistift zeichnungen und Radierungen vor allem, Porträts und Akte von prägnanter, harter Sachlichkeit; der Strich, auch wo er Schattierungen setzt, nie verfließend, wie mit dem Silberstift gezogen, dient ganz der Herausbildung pla stisch-klarer Form. Diese tritt in Modellstudien, wie der in Abb. 5 wiedergegebenen, metallisch-kompakt, abwei send und mit betonter Häßlichkeit in Erscheinung. Der 2 Bildnis des Vaters, 1923, Kohle Name Otto Dix fällt einem ein. Ein Wort der Zeichnerin selber gibt für diese frühe Stufe ihrer Kunst ausnahms Künstlerin selber - vor allem die Vielfalt ihres zeichneri weise einmal Auskunft - Eberhard Ruhmer hat es in sei schen Schaffens. nem Buch zitiert: "Bei Hubbuch wurde ich gehalten, das Auch in diesem Band kann nicht das ganze Werk der Einmalige, die ans Groteske grenzende Besonderheit ei dunklen Blätter, ja nicht einmal dessen größerer Teil dar ner Erscheinung in fast karikaturistischer Zuspitzung zu geboten werden. Jenes Ganze liegt auch nicht mehr griff packen." bereit in den Nachlaßmappen der Künstlerin. Etwa zwei Vergleicht man die Modellstudien in Abb. 5 und 7, so wird hundert Blätter, u.a. der Chopin-Zyklus, sind noch vor der Entwicklungssprung sichtbar, den die Übersiedlung handen. Aber vieles, darunter manche besonders wich nach Berlin im Herbst 1929 und die Wahl des neuen Leh tige Arbeit, wurde im Lauf der Jahrzehnte verkauft oder rers Emil Orlik für Hanna Nagel mit sich brachte. In Blei verschenkt, und selten ist der heutige Aufbewahrungsort stift-, Kreide-und Rötelzeichnungen tritt an die Stelle der bekannt. Trotz aller notwendigen Beschränkung darf die früheren harten Sachlichkeit eine weiche, malerische ausgewählte Bilderfolge, die mit wenigen Ausnahmen Form. Auch wo präzis-silhouettierende Umrisse die Figur dem Nachlaß entstammt, als repräsentativ bezeichnet bestimmen, wie bei dem "Sitzenden alten Mann" werden. Das Thema "Dunkle Blätter" wurde nur in drei (Abb. 9), geben flächige, gewischte Formelemente dem Fällen überschritten. Es handelt sich um die Tafeln 71-73, Bild seine eigentümlichen Strukturen. Auffällig ist die an auf denen Beispiele aus Hanna Nagels Illustrationswerk Knorpel-und Wurzelformen erinnernde Faltenzeichnung wiedergegeben sind: Bilder aus ihren Russen-Büchern, bei Tüchern und Kleidungsstücken. die freilich vom gleichen Grundklang wie die dunklen Die Federzeichnung mit kleiner und kleinster Strichset Blätter bestimmt sind; wie denn überhaupt zwischen zung, wie sie zum entSCheidenden Ausdrucksfaktor von den beiden Gestaltungsbereichen ein fruchtbares Über Hanna Nagels Kunst werden sollte, war nicht Orliks Spe gehen von Motiven und Formen zu erkennen ist. zialität. Doch scheint die Meisterschülerin sehr bald diese 6 Technik unter den Augen des Lehrers angewandt zu ha kaum etwas mit der seinen gemein, und auch ihr Zei ben. Eine der frühen Berliner Zeichnungen, eine Glieder chenstil zeigt in keiner Phase etwas von der Kubinschen puppendarstellung aus dem Akademiesaal, beweist es expressiven Erregtheit. (Abb. 11); sie ist zugleich Zeugnis einer bereits deut Der Name Rembrandts wurde von Hanna Nagel oft und lichen Eigenart und einer gewissen surrealen Tendenz mit besonderer Wärme ausgesprochen. Rembrandt war im In-der-Schwebe-Halten der Figur zwischen lebendi gewiß ein Stern über dem Weg ihrer Kunst. Sein erschei gem Menschenleib und totem Gerät. nungsträchtiges Helldunkel, seine Botschaft des Lichts Mit dem hier verwendeten Wort .. surreal" soll nicht ange hat sie tief betroffen, wenn auch ebenso gewiß ist, daß ihr, deutet werden, daß Hanna Nagel von der um 1923 in Pa Hanna Nagels, Dunkel und Licht - dieses trotz höchster ris aufgebrochenen Bewegung des Surrealismus erfaßt Leuchtkraft eigentlich nie warme Licht-von ganz anderer war, auch nicht, daß ihre Kunst mit diesem Begriff - so Art sein mußte. Das Stille, Leidoffene von Rembrandts wie er sich in der Malerei und Grafik unseres Jahrhun Menschen, das Nach-innen-Schauen, das Lauschen ih derts mit Inhalt und Leben erfüllt hat - in einem spezifi rer Augen bedeutete sicherlich Bestätigung und immer schen Sinn definiert werden könnte. Ihre Kunst zeigt sich wieder auch Anregung für die Zeichnerin, die schon in ih aber zugehörig zu jenem geistes-und kunstgeschichtli ren frühen Blättern damit begann, verhüllende Schatten chen Gesamtphänomen der letzten zweihundert Jahre, über Stirn und Augen ihrer Frauengestalten zu legen. Am in dessen Spannungsfeld auch der Surrealismus seinen unmittelbarsten haben wohl Rembrandts Federzeich Platz hat: einer Tendenz zum Irrationalen und zum Anti nungen Hanna Nagel fasziniert: mit allen Details ihrer nu rationalismus, zum Hintergründigen, Abnormen und ancenreichen Strichtechnik, deren genaues Studium der Dunkel-Symbolischen, wie sie bereits zu Anfang des Künstlerin sicherlich viel geholfen hat, sich ihrer eigenen neunzehnten Jahrhunderts in der Bewegung der Roman grafischen Gestaltungsmittel voll bewußt zu werden. tik, gegen Ende des Jahrhunderts in der des Symbolis Trotzdem sind unter den Bildern von Hanna Nagel nur mus eine besonders deutlicheAusprägung gefunden hat. wenige, bei denen, wie bei der .. Leda" (Tafel 32), von ei Hanna Nagels Eingelassensein mit dem Tiefenbereich ner eigentlichen Nähe zu Rembrandt, einem Rem des eigenen Unbewußten, mit Traum und Symbol, muß brandt-Klang, bis in Form und Ausdruck eines Men zweifellos in diesem Traditionszusammenhang gesehen schengesichts hinein, gesprochen werden könnte. werden. Und die besondere Art ihrer Bildträume, deren Die Ausdrucksform der verschatteten Augen konnte die Gebundensein an die intakte und, mehr als das, die oft Zeichnerin auch bei Goya wiederfinden, einem anderen betörend schöne Menschengestalt, ihr weiches Hell Meister des .. Dunklen", mit dem sie sich eingehend be Dunkel, ihre Melancholie, die Nähe Chopins und vieles schäftigt hat und der ihr nach ihrem eigenen Zeugnis viel andere lassen die Zeichnerin den Symbolisten des neun bedeutete. Wieweit ihr von Goya ein entscheidender An zehnten Jahrhunderts verwandter erscheinen als den stoß zum Surrealen hin gegeben wurde, läßt sich nicht Surrealisten des zwanzigsten. Doch es fehlt ein eindeuti sagen, da wiederum, wie bei Kubin, deutliche inhaltliche ger und nachweisbarer Bezug. - Woher diese Tendenz, und formale Beziehungen fehlen. Eines ist allerdings si woher der Mut zum Schauen in den dunklen Spiegel bei cher: Spanien - das .. dunkle" Spanien - war ein Land, dieser eben ihren Weg beginnenden Künstlerin im Berlin das Hanna Nagel .. mit der Seele suchte" und auch wirk des Jahres 1930? - Eine sichere Antwort läßt sich nicht lich in späteren Jahren gesehen hat. So tragen auch die finden, und man wird die Bedeutung des Phänomens Frauen ihrer Bilder mitunter spanisches Kostüm. Hanna Nagel nicht zuletzt auch in der weitgehenden Ei Hanna Nagel ist in der Berliner Akademie unter anderen genständigkeit des hier geschehenen Aufbruchs erken auch Käthe Kollwitz begegnet. Nichts scheint einander nen müssen. ferner zu sein als die Grafik dieser bei den Frauen: die Die Kunst Alfred Kubins war vielleicht ein Anstoß für die eine, damals fünfundsechzigjährig, Sachwalterin einer junge Zeichnerin, ebenso wie für den Grafiker Hans Fi kraftvoll-fühlenden, aber nach außen gewandten, für scher, der fast gleichzeitig mit ihrvon Karlsruhe nach Ber Menschlichkeit und soziale Gerechtigkeit kämpfenden lin gegangen war und den sie im Dezember 1931 heirate Kunst, die andere dagegen leise Künderin ihrer subjekti te. Zeichnungen von Hanna Nagel und Alfred Kubin ver ven, mit nach innen gekehrten Augen erlauschten Bilder einte eine Berliner Ausstellung der frühen dreißiger Jah botschaft. Freilich, auch das Frühwerk der Käthe Kollwitz re, und noch ein Tagebucheintrag der Künstlerin von war nicht unbeeinflußt gewesen von symbolistischen 1959, aus der schlimmsten Zeit ihres Trigeminusleidens, Tendenzen, das dunkle Land war ihr nicht fremd. Und zeugt von einer besonderen inneren Beziehung, die sie ganz gewiß trafen sich die beiden Künstlerinnen in ei zum Erforscher der .. anderen Seite" hatte: .. Ku bin ist mit nem: ihrem tief erlebten und bejahten Frau-Sein und ihrer 82 gestorben, und plötzlich ist mir, als müsse ich dablei Liebe zum Kind. Von daher vor allem erklärt sich eine ben, um eine Mission zu erfüllen, auch wenn ich alles ver wirkliche Anteilnahme der Älteren an der Jüngeren, ein liere." - Eine eigentliche künstlerische Nähe zu dem Berührtsein von deren Bildern und ihren menschlichen dreißig Jahre älteren Zeichner läßt sich bei Hanna Nagel Problemen. Der auf den Seiten 27 und 28 abgedruckte jedoch nicht feststellen. Ihre Phantasiewelt hat inhaltlich Brief, den Käthe Kollwitz nach der Geburt von Hanna Na- 7 Hanna Nagel erscheint in keinem der bedeutenden Aus stellungskataloge zur Dokumentation der deutschen Zei chenkunst des zwanzigsten Jahrhunderts. Die mitunter sicherlich zu hoch greifenden, zum Teil aber auch guten sachlichen Berichte über die Künstlerin in Zeitungs-und Zeitschriftenartikeln der letzten dreißig Jahre haben in dieser Hinsicht kaum eine Wirkung gehabt und auch nicht der eindringliche Mahnruf, der 1965 mit dem Ruhmer schen Buch an die Öffentlichkeit drang. Hanna Nagel ist mit ihrer Kunst, wie manche andere in Deutschland, die nach 1945 gerade dabei waren, ihr eigenstes, vom Natio nalsozialismus unterbrochenes oder verdrängtes Werk heraufzuholen - anderes zunächst als das, was in der Welt im Kommenwar-, von derZeitwoge der "abstrakten Kunst" überrollt worden. "Ich kann und kann nicht ab strakt" hat die Künstlerin unter eine kleine, betroffen ma chende Selbstbildniszeichnung geschrieben, die in Ruhmers Buch abgebildet ist. Zur Dokumenta-Kunst der sechzig er Jahre hatte sie nichts beizutragen. Wie aber steht es heute in unserem dem Surrealismus, dem Sym bolismus und phantastischen Realismus, insbesondere auch deren subtilsten Werkzeugen, dem Zeichenstift und 3 Mit den Eltern an der Konfirmation, 1921 der Zeichenfeder, besonders wieder zugewandten Jahr zehnt? Muß von diesem Heute aus nicht sichtbar werden, gels Tochter 1938 geschrieben hat, spricht für sich daß die Hanna Nagel von 1930 mit ihren Zeichnungen - selbst. Er findet seine Ergänzung in der hier ebenfalls wahren Inkunabeln des weiblichen Trau'm-Realismus - wiedergegebenen Hanna-Nagel-Zeichnung (Abb. 16), eine Einzigartige war, eine der wenigen, die ein Tor ge die in ihm erwähnt ist: einem damals schon weit zurück öffnet haben und deren Name in der Geschichte der liegenden, bekennerischen Selbstbildnis, in dem sich der Kunst einen Platz haben sollte? Lebenskonflikt der jungen Frau zwischen künstlerischer Die Zeichnerin war sich, vermutlich schon sehr bald nach Berufung und Sehnsucht nach Kindern und Familie wi Beginn ihres Weges, der Besonderheit ihres Bildschaf derspiegelt. fens bewußt. Sie hat es in einem von Ruhmer zitierten So überraschend es sein mag, es finden sich unter Hanna Brief ausgesprochen: "Für mich kommt es darauf an, die Nagels Zeichnungen vereinzelte Blätter mit unmittelba weiblichen Gefühlsnuancen zu zeichnen, auch solches, rem Kollwitz-Klang, so wie es die wenigen mit dem Rem was vielleicht noch nie eine Frau gezeichnet hat." Das brandt-Klang gibt: Sehr deutlich ist dies zum Beispiel "vielleicht" in diesem Satz darf sicherlich gestrichen inhaltlich und formal-bei dem Blatt "Die Glückliche" (Ta werden, jedenfalls für das Frühwerk, und die von der fe114). Als Käthe Kollwitz 1933 verfemt und ihre Kunst Künstlerin hier für sich formulierte, anscheinend objek verboten wurde, überließ sie einen großen Schubladen tive Aufgabe ist genauer zu verstehen: als ein im Antrieb tisch aus ihrem Akademie-Atelier der jungen Hanna Na und Vollzug ganz und gar subjektives Sich-selbst-erhel gel-für diese ein fast symbolisch bedeutsamer Vorgang, len-Müssen. Wenn Hanna Nagels Gegenstand "das denn ihr Lehrer Orlik, dessen Lieblingsschülerin sie war, Weibliche" war, so erfaßt sie es doch immer nur gleich hatte ihr einen "Auftrag" erteilt, den sie ihr Leben lang nie sam mit geschlossenen Augen, den Blick ins eigene vergessen hat: die Nachfolgerin der Käthe Kollwitz zu Sein und Erfahren gesenkt. Es gibt unter ihren dunklen werden, daran all ihre Kraft zu setzen. Blättern keines, in dem nicht sie selbst, ihre Seelen ge stalt es wäre, der Schicksal, Leid, zutiefst Erschrecken des und mitunter Glück widerfährt. Man muß sich klarmachen, daß es im gesamten Bereich Der "Auftrag" der für die Bilder aus dem Unbewußten, den Träumen, Mythen und Märchen offenen Kunst des neunzehnten Hat sie den Auftrag erfüllt? Ist sie, auf ihre ganz andere und frühen zwanzigsten Jahrhunderts nur Männer waren, Weise natürlich, die Nachfolgerin der Käthe Kollwitz, d. h. die mit dem Stift, der Feder, dem Pinsel und der Radier eine Künstlerin von ähnlicher Einzigartigkeit und ähnli nadel Zeugnis ablegten. Vieles, ganz besonders aber al chem Rang im Bereich der deutschen Kunst, geworden? les, was aus dem Tiefenbereich von Eros und Sexus, Genau das ist die Frage, die der Beantwortung bedarf und auch aus deren jahrtausendalt-christlicher Krankheitsge die mit diesem Bildband erneut gestellt wird. Der Name schichte heraufdrang, konnte sich nicht anders als einsei- 8 tig männlich manifestieren. Man denke nur an das lust Die ersten "Dunklen Blätter" - voll-negative Frauenbild - die Salome-Sphinx-Lilith Symbolsprache Eva-Visionen - der symbolistischen Kunst. Wenn Hanna Nagel von ihrer Bereitschaft spricht, zu zeichnen, was noch nie eine Frau gezeichnet hat, so weiß sie zugleich, Dabei schien der Anfang - der Einsatz mit den ersten daß sie die erste ist, die dem männlichen Tiefenrealismus dunklen Blättern um 1931 - anderes anzukünden: Da eine weibliche Variante entgegenstellt. sitzt die "Braut" (Tafel 1), eine massig schwere, freilich Stets betonte sie das Traumhafte, Unbewußte ihres helle und vom Licht merkwürdig überflackerte Gestalt, Tuns: "Ich bin wie die Erde ... ich zeichne ohne Sinn mit dem Schleier eher der Vestalin als der dem Manne und Verstand, so wie ein Baum wächst und merkt es Versprochenen, inmitten ihrer stürzenden Bilder. Der nicht ... Ich zeichne, wie andere froh sind oder betrübt. Mund ist fest verschlossen, die Augen sind seherisch Aber meistens bin ich traurig." Das Zitat enthält eine geöffnet. Diese Frau ist nicht ohne Kraft, ja Härte, sie hat zweite Aussage: Dieses Zeichnen ist Akt der Traurigkeit, etwas von emanzipatorischem Pathos. Sicherlich zeigt nicht immer, aber doch meistens - das geschaffene Werk das Blatt noch manche technische und formale Unsi bestätigt es. Zu Recht ist immer wieder von der Melan cherheit; dennoch ist die entscheidende innere Dimen cholie, der Schwermut, von der Lebens-und Todesangst sion bereits ergriffen. in Hanna Nagels Bildern gesprochen worden, und nie Das gleiche gilt von dem wahrscheinlich noch früheren mand wird daran zweifeln, daß all dies wirklich in der ei Bild "Nußknacker" (Tafel 2). Von mehreren betitelten nen Menschenseele aus Veranlagung und Erlebnis her Skizzen wissen wir, daß die Frau mit dem griechischen aus erlitten wurde. Aber in der Dimension des Gestalt Helmaufsatz, so wie sie hier erscheint, als "Penthesilea" gewordenen Werkes und auch in der des uns allen ge für Hanna Nagel Gestalt gewann. Als diese, die Königin meinsamen Jahrhundertschicksals bedeutet die Lei der Amazonen, sitzt sie hier, deutlich maskiert freilich: densaussage Hanna Nagels mehr als nur individuelles Kopf und Brust in einem Tuchpanzer, die Beine in Män Zeugnis. Hier hat sich etwas ereignet, das auch Stell nerhosen und salopp übereinandergeschlagen, in selt vertretung, Opfergang genannt werden muß. sam-spöttischem Gegenüber mit dem herzordenge- 4 Die Orlik-Klasse, 1932 9

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