Gutsein im Oikos Subpolitische Tugenden in den oikonomischen Schriften der klassischen Antike Inauguraldissertation zur Erlangung des Akademischen Grades eines Dr. phil., vorgelegt dem Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz von Dipl.-Ing. Johannes Unholtz aus Heidelberg Mainz 2010 Referent: Aus datenschutzrechtlichen Gründen ohne Angabe. Korreferent: Aus datenschutzrechtlichen Gründen ohne Angabe. Tag des Prüfungskolloquiums: 5. Oktober 2010 Johannes Unholtz Gutsein im Oikos Subpolitische Tugenden in den oikonomischen Schriften der klassischen Antike Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit untersucht klassische oikonomische Texte im Hinblick auf normative Aussagen, die das Gutsein im antiken Hausverband, dem Oikos, implizieren. Da der Oikos der Polis gegenüber nachrangig gesehen wird, erhalten die in Frage kommenden Vortrefflichkeiten den Namen subpolitische Tugenden. Als Quellentexte sind Xenophons Oikonomikos, Teile der aristotelischen Politik und der Nikomachischen Ethik sowie die pseudoaristotelischen Oikonomika zu betrachten. Im ersten Schritt werden die Empfehlungen für das Verhalten im häuslichen Beziehungsgeflecht analysiert; es verbindet den Hausherrn mit seiner Ehefrau, mit den Kindern und den alten Eltern sowie mit den Sklaven. Diese Relationen, allen voran die eheliche Partnerschaft, repräsentieren partielle Praxen des Oikos, aus denen tragfähige Ansatzpunkte in Bezug auf Verhaltensstandards hervorgehen. Oberstes Ziel der Empfehlungen ist jeweils, den Erfolg des Oikos und damit das gute Leben in begrenzter Autarkie zu ermöglichen. In gleicher Weise ergiebig zeigen sich anschließend die Paränesen für die Vortrefflichkeit im öffentlichen Raum, der durch den Umgang mit Besitz sowie durch das Bürgersein in der Polis gegeben ist. Unter Beachtung spezifischer methodologischer Aspekte werden die Einzelergebnisse zu einem Kanon der subpolitischen Tugenden kompiliert, dessen fünf Vortrefflichkeiten ohne Rangunterschied nebeneinanderstehen: Fürsorge, Zusammenarbeit, Eintracht, Mäßigung und Klugheit. Mit der Fürsorge (epimeleia) zeigt sich eine umfassende Forderung; sie versteht sich als jederzeitiges Bemühtsein und Sichkümmern um etwas Anvertrautes. Die Praxis der Zusammenarbeit (synergeia), ausgeübt in unterschiedlichen Formen von Arbeitsteilung, ist Voraussetzung für das Gelingen des häuslichen Funktionsverbands. Für die Vortrefflichkeit der Mäßigung (sophrosyne) zeigen sich primär extrinsische Begründungen, die sowohl Selbstbeherrschung verlangen als auch das Maßhalten in materiellen Dingen. Durch Eintracht (homonoia) verschaffen sich die Eheleute im Oikos selbst ein hohes Gut und zugleich Stärke nach außen. Schließlich gilt die Klugheit (phronesis) als Basistugend, indem sie das für den Oikos vorteilhafte Handeln erkennen oder durch Ratholen erfahren lässt. In der zugrunde gelegten oikonomischen Literatur wird ein originäres Thema antiker praktischer Philosophie adressiert. Ihre hier vorgelegte Befragung im Hinblick auf subpolitische Tugenden spricht von daher auch transdisziplinäre Problemstellungen an, wie etwa antike Sklaverei, ökonomische Dogmengeschichte und Geschlechterdifferenz in der klassischen Antike. Inhaltsverzeichnis1 1 Einführung 1 1.1 Problembereich 1 1.2 Zielsetzung und Gang der Untersuchung 2 2 Oikos und Oikonomik 5 2.1 Die Begriffe 5 2.2 Oikonomik und praktische Philosophie 2.3 Oikonomische Schriften 8 2.3.1 Xenophons Oikonomikos 8 2.3.2 Aristotelische Beiträge 10 2.3.3 Zugeschriebene oikonomische Schriften 12 2.4 Rezeption und Überlieferung 13 3 Das Gutsein im häuslichen Beziehungsgeflecht 15 3.1 Das gelingende Verhältnis zwischen Hausherr und Ehefrau 15 3.1.1 Heirat und Ehe im klassischen Athen 15 3.1.2 Xenophons Modell von Partnerschaft 17 3.1.3 Ungleichheit und Freundschaft bei Aristoteles 29 3.1.4 Der Begriff der Achtsamkeit 41 3.1.5 Leitfaden des gelingenden Verhältnisses 47 3.2 Vom rechten Umgang mit den Sklaven 51 3.2.1 Sklaverei im Athen der klassischen Zeit 51 3.2.2 Der vorbildliche Sklavenverwalter bei Xenophon 53 3.2.3 Der „Sklave von Natur aus“ bei Aristoteles 64 3.2.4 Der Sklave in der pseudoaristotelischen Quelle 74 3.2.5 Kanon des rechten Umgangs mit den Sklaven 78 3.3.Verantwortung gegenüber den Generationen 81 3.3.1 Die Stufen des Lebens 81 3.3.2 Xenophons Generationenkontrakt 83 3.3.3 Reproduktionsaspekt bei Aristoteles 85 3.3.4 Pseudoaristotelische Quellen 90 3.3.5 Zusammenfassung 92 3.4 Der Bezug zu den Göttern 94 3.4.1 Religion im klassischen Athen 94 3.4.2 Xenophon: Ein Leben mit den Göttern 96 3.4.3 Aristoteles: Polisreligion und Gottesdistanz 100 3.4.4 Pseudoaristotelische Quellen 103 3.4.5 Zusammenfassung 105 1 Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis findet sich im Anhang. 4 Vortrefflichkeit im öffentlichen Raum 107 4.1 Das Verhältnis zu Besitz und Erwerbskunst 107 4.1.1 Xenophon 107 4.1.2 Aristoteles 126 4.1.3 Pseudoaristotelische Quellen 143 4.2 Der Hausherr als Bürger in der Polis 146 4.2.1 Dem Staate Glanz verleihen 146 4.2.2 Rechtschaffenheit und Großzügigkeit 148 4.2.3 Der Hausherr und die Freunde 152 4.3 Wissen und Beratensein 154 4.3.1 Xenophon 155 4.3.2 Aristoteles 156 4.3.3 Hesiod als Vorbild 159 5 Kompendium der Vortrefflichkeiten 162 5.1 Methodik und Paradigma 162 5.2 Fürsorge 166 5.3 Zusammenarbeit 170 5.4 Eintracht 176 5.5 Mäßigung 181 5.6 Klugheit 185 5.7 Subpolitische und kardinale Tugenden 186 6 Ergebnisse 189 7 Ausblick 194 Anhang 196 A. Ausführliches Inhaltsverzeichnis 196 B. Verwendete Textausgaben und Übersetzungen 200 C. Häufig verwendete Nachschlagewerke und Lexika 202 D. Literaturverzeichnis 203 1 Einführung 1.1 Problembereich In der griechischen Antike gilt der Oikos im Sinne von Haus, Besitz und Hausgemeinschaft als der Raum des Zusammenlebens, der jeder weiteren Gemeinschaft vorausgeht. Schon unter den Sophisten wird die Frage, wie man „sein Hauswesen am besten verwalten“1 kann, neben der Politik zu einem Hauptgegenstand eines zeitgenössischen Lehrprogramms. In der Folge reflektieren oikonomische Schriften die Kunst und Wissenschaft von der rechten Führung eines Oikos. So betrachtet der Athener und Sokratesschüler Xenophon in seinem Werk Oikonomikos die verschiedenen Beziehungen zwischen den Mitgliedern des Hauses, zu denen auch die Sklaven gehören, und gibt Empfehlungen ab für die Vortrefflichkeit des Einzelnen im häuslichen Funktionsverband. Eine Sammlung agrartechnischen Wissens vervollständigt den Anspruch des Werkes. In inhaltlicher Nähe dazu, jedoch ohne landwirtschaftlichen Bezug, stehen als pseudoaristotelische Quellen die Oikonomika, die dem Peripatos zuzurechnen sind. Aristoteles selbst stellt im ersten Buch der Politik einen theoretischen Überbau zum Verständnis vom Oikos in der Polis bereit. In der Summe liefern die in Frage kommenden Quellen Paränesen zu den häuslichen Personalrelationen sowie zum Umgang mit dem Eigentum, und sie markieren, was die Bewährung des Hausherrn in der Polis ausmacht. Erklärtes Anliegen dieser Empfehlungen ist das Wohl der Menschen im Familienverband sowie der gesicherte Fortbestand des Oikos vor dem Hintergrund der Einordnung in die geltenden politischen und gesellschaftlichen Randbedingungen. Angesichts des Spannungsbogens der ursprünglichen Nähe der drei Disziplinen Oikonomik, Ethik und Politik erscheint es nun lohnenswert, herauszufinden, in welchem Maße und mit welchem Inhalt die oikonomischen Quellen eine über das Rezepthafte hinausgehende Sammlung von Tüchtigkeiten bereitstellen, die das Gutsein im Oikos zum Ziel haben. In einer Konzeption vom Gutsein im Oikos könnten, weil Oikos als Konstituente der Polis zu verstehen ist, ursprüngliche Elemente einer subpolitischen Tugendethik auffindbar sein, die im Idealfall sogar über die Tüchtigkeit im zeitgebundenen häuslichen Verband hinausweisen. 1 Plat. Prot. 318 e (Ü.: F. Schleiermacher) In der Befassung mit den antiken oikonomischen Texten lassen sich in Bezug auf die letzten Jahrzehnte vorrangig zwei Kategorien erkennen. Auf der einen Seite zeigen sich themenzentrierte Abhandlungen, die den gesamten Quellenkomplex auf eine bestimmte Fragestellung hin durchleuchten. Solche Untersuchungen betreffen etwa die Geschichte der Sexualität1 oder die Thematik der Sklaverei2 ebenso wie die Wirkungsgeschichte der oikonomischen Texte in einer späteren Hausväterliteratur3 oder Sichtungen im Hinblick auf die antike Wirtschaftsgeschichte4. Naturgemäß erfassen diese Forschungsperspektiven die Quellen in einem zwar synoptischen, jedoch themenselektiven Ansatz. Auf der anderen Seite findet sich Forschungsliteratur, die das komplette Themenspektrum des je einzelnen Quellentextes in voller Breite reflektiert.5 Ebenso liefern Einführungen und Kommentierungen moderner Übersetzungen ausführliche Betrachtungen in der ganzen Bandbreite der jeweils textlich berührten Themen.6 Bezeichnend für diese Kategorie von Abhandlungen ist, dass Beziehungen zu jeweils anderen Quellen zwar hergestellt werden, diese jedoch naturgemäß punktuell und peripher bleiben. Offen bleibt der Ansatz einer ganzheitlichen Sichtweise auf alle und zugleich eigentlichen Lehrinhalte, die der oikonomischen Literatur als Gattung innewohnen. Eine Herausarbeitung, die umfassend, d. h. vom Umgang mit den Sklaven und Freien im Hause über den Bezug zu den Göttern bis hin zum Verhältnis zu Besitz und Erwerbskunst, die jeweils empfohlenen Haltungen quellenübergreifend darstellt, ist – soweit feststellbar – nicht zu finden. Darüber hinaus steht der Versuch aus, das Gutsein im Oikos auf wenige Maximen zu reduzieren, die durchgängig allen häuslichen Handlungs- und Verhaltensweisen normativ unterlegt werden könnten.7 1.2 Zielsetzung und Gang der Untersuchung In der vorliegenden Arbeit wird zunächst eine ganzheitliche Darstellung der Themenbereiche aus der oikonomischen Literatur angestrebt. Die Untersuchung soll des Weiteren auf zwei Fragen Antwort geben: (a) Welches sind die normativen Vorstellungen, die die oikonomische Literatur jeweils zu den ihr eigenen Themenbereichen vorhält und (b) wie kann ein 1 M. Foucault [Lüste 1989]. 2 H. Klees [Herren 1975]. 3 S. Krüger [Ursprünge 1964]. 4 B. Schefold [Dogmengeschichte 2004]. 5 So etwa für Xenophon: H. R. Breitenbach [RE 1967], der einen umfassenden und grundlegenden Einblick in das xenophontische Gesamtwerk und somit auch in das Denken und die Paränesen des Oikonomikos gibt. 6 Für die in Frage kommenden Quellen: G. Audring [Ökonomische 1992]; S. Pomeroy [Oeconomicus 1994]; E. Schütrumpf [I 1991], [II 1991], [III 1996], [IV 2005]; R. Zoepffel [Arist. Oik. 2006]. 7 F. Wagner [Frühe Ökonomik 1969] 189 f. schlägt „Kategorien früheuropäischer Ökonomik“ vor. Diese beziehen sich jedoch auf epische Quellen und sind aus diesen abgeleitet. Eine Berücksichtigung z. B. des xenophontischen Oikonomikos ist somit nicht gegeben. S. unten Kap. 5.7. 2 umfassendes Kompendium des Gutseins im Oikos aussehen, das sich als Konzentrat aus den Ergebnissen von (a) ergibt. Der Weg der Untersuchung ist durch die Fragestellungen weitgehend vorgezeichnet: Nach Begriffsklärung, Präsentation der betrachteten oikonomischen Quellen und deren Traditionsrahmen folgt das hermeneutische Herangehen an die Texte. Soweit sinnvoll, gehen den Analysen kurze Hinweise zu den zeitgenössisch vorherrschenden Verhaltensmustern und Sachlagen voraus, innerhalb derer die Paränesen stehen. Die Auslegung der ausgewählten Schriften folgt in ihrer Struktur zunächst dem vorzufindenden häuslichen Beziehungsgeflecht, das auch in den Quellen strukturgebend ist. So werden die Ausführungen zum Verhältnis der Eheleute im Oikos (3.1), zum Umgang mit den Sklaven (3.2), zur Verantwortung gegenüber den Generationen (3.3) sowie zum Götterbezug (3.4) synoptisch erfasst und zu einer ersten Verdichtung gebracht. Das synoptische Prinzip gewährleistet, dass unterschiedliche Autorenschaften durchgängig erkennbar bleiben. Bei vielschichtigen Themen erfolgt eine quellenspezifische Zusammenfassung als Zwischenschritt. Danach und in gleicher Methode richtet sich der Blick auf die Aussagen zum Verhalten des Hausherrn außerhalb des Oikos, das heißt im öffentlichen Raum, wobei insbesondere die Erwerbskunst (4.1), die Verantwortung des Bürgers in der Polis (4.2) sowie dessen Umgang mit Wissen (4.3) im Hinblick auf Normativität geprüft werden. Schon in einer frühen integrierenden Form ist damit der Fragestellung (a) der Versuch einer Beantwortung gegenübergestellt. In einer zweiten Integrationsstufe wird angestrebt, die Summe der insgesamt erhaltenen Ergebnisse auf einige wenige Kernbegriffe zu reduzieren, welche sich zu einem handhabbaren Kompendium der Vortrefflichkeiten binden lassen. Zwei Wege, diese Integration vorzunehmen, werden in (5.1) vorgestellt, gefolgt von der Präsentation der letztendlich ermittelten Konstituenten des Gutseins im Oikos, nämlich Fürsorge (5.2), Zusammenarbeit (5.3), Eintracht (5.4), Mäßigung (5.5) und Klugheit (5.6). Damit sei der Fragestellung (b) Antwort gegeben. Zum Schluss (6) findet sich eine Zusammenfassung der Ergebnisse. Es ist erkennbar, dass die vorliegende Arbeit zwar ein originäres Thema der antiken Philosophie adressiert, jedoch nicht ohne eine gewisse Transdisziplinarität geleistet werden kann. Dabei ist bestimmt zu denken an klassische Philologie und Altertumswissenschaft, fallweise auch an andere Fachgebiete. Griechische Termini erscheinen kontinuierlich eingeblendet in Text und Zitat, einerseits, um die spätere Zusammenführung in ein Kompendium erleichternd vorzubereiten und andererseits, um die Nähe zu den Quellentexten zu gewährleisten. 3 Griechische Ausdrücke werden auf einfachste Art ins Deutsche transkribiert; in Einzelfällen wird sich auch die griechische Schreibung finden. Dagegen werden die Begriffe Oikos und Polis, bis auf die Ausnahmen im nachfolgenden Kapitel, wie deutschsprachige Nomina gebraucht. Die Abkürzungen griechischer Autornamen und Werktitel orientieren sich weitgehend an den Vorschlägen in Der Kleine Pauly1. 1 Der Kleine Pauly, Lexikon der Antike in 5 Bänden, Bd. 1, München 1975, XXI – XXVI. 4
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