Gramsci lesen Einstiege in die Gefängnishefte Herausgegeben von Florian Becker, Mario Candeias, Janek Niggemann und Anne Steckner Argument Kritische Wissenschaft ist immer auch ein kollektiver Prozess. Die Diskus sionen im Lesekreis »Gramsci lesen« bei der Rosa-Luxemburg-Stiltung waren uns wichtige Anregungen für die Überarbeitung der Texrauswah). Für ihre wertvolle Unterstützung bei der Arbeit an der Gebrauchsanleitung, den Stichworten und am Manuskript danken wir unseren Freunden und Genossinnen Manuela Bergmann, Roland Bollmann, Susanne Braun, Julia Duck und Jana Seppelt. Für die Finanzierung des Projekts bedanken wir uns beim Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar Deutsche Originalausgabe © Argument Verlag 2013 Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg Telefon 040/4018000 - Fax 040/40180020 www.argument.de Umschlaggestaltung und Satz: Martin Grundmann Druck: freiburger graphische betriebe Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier ISBN 978-3-88619-356-1 Erste Auflage 2013 Inhalt Gramsci lesen - Überlegungen zur Aneignung der Gefängnishefte (1) Warum Gramsci lesen? Wieso machen die Menschen da mit? Gramsci und Hegemonie.................. 5 Der >ganze< Gramsci: Analyse, Kritik und Praxis........................................ 7 Rosinen picken mit Gramsci: einseitige Frontstellungen............................ 9 Anknüpfen und weiterentwickeln, nicht rausreißen...................................11 (2) Zur Auswahl und Zusammenstellung der Paragraphen: eine Art Gebrauchsanleitung Wie Gramsci lesen? Brücken in die Gefängnishefte ..................................13 Gramsci lesen 1: allein oder in einer selbstorganisierten Lesegruppe............14 Gramsci lesen 2: das thematische Seminar...............................................15 Gramsci lesen 3: das einführende Wochenendseminar...............................15 Literatur.....................................................................................................17 Anmerkungen der Herausgeberlnnen.............................................................18 Ausgewählte Paragraphen aus den Gefängnisheften (1) Herrschaft und Führung Brücke in die Paragraphen: das Stichwort.................................................19 Gramsci im Original...............................................................................20 (2) Ökonomismuskritik: Zum Verhältnis von Struktur und Superstrukturen Brücke in die Paragraphen: das Stichwort....................................... 36 Karl Marx: Vorwort von Zur Kritik der Politischen Ökonomie (1859) 38 Gramsci im Original...............................................................................4° (3) Integraler Staat Brücke in die Paragraphen: das Slichwort 68 Gramsci im Original ^ (4) (Organische) Intellektuelle Brücke in die Paragraphen: das Stichworl 89 Gramsci im Original............ ^ (5) Ideologie und Alltagsverstand Brücke in die Paragraphen: das Stichworl 110 Gramsci im Original 112 (6) Erziehung und Bildung Brücke in die Paragraphen: das Slichwort . .140 Gramsci im Original.......... 142 (7) Kunst und Kultur Brücke in die Paragraphen: das Stichwort .161 Gramsci im Original................................................................................163 (8) Marxismus als Philosophie der Praxis Brücke in die Paragraphen: das Stichwort.................................................179 Karl Marx: Thesen über Feuerbach {1845).................................................181 Gramsci im Original................................................................................183 (9) Politik der Subalternen, Spontaneität und Führung Brücke in die Paragraphen: das Stichwort.................................................210 Gramsci im Original................................................................................212 (10) Moderner Fürst und gesellschaftliche Partei Brücke in die Paragraphen: das Stichwort .............................................239 Gramsci im Original ...........................241 (11) Fordismus - Produktions- und Lebensweise Brücke in die Paragraphen: das Stichworl .............................................273 Gramsci im Original ............................................................................275 (12) Organische Krise und passive Revolution Brücke in die Paragraphen: das Stichwort .............................................303 Gramsci im Original ............................................................................3°4 5 Gramsci lesen - Überlegungen zur Aneignung der Gefängnishefte (1) Warum Gramsci lesen? In Krisenzeiten erfährt auch die Kritik am Kapitalismus neue Konjunktur. Im Feuilleton großer Zeitungen wird Marx wieder als wichtiger Denker der notorischen Krisen des Kapitalismus port rätiert. Überhaupt: Es wird wieder von Kapitalismus gesprochen - auch wenn damit vor allem die »entfesselten Finanzmärkte« gemeint sind und weniger die kapitalistische Produktionsweise als ganze und in ihrem Zusammenhang zu Politik und Staat. Linke Kritik am neo- liberalcn Finanzkapitalismus wird teilweise aufgenommen, zugleich werden die Alternativen unsichtbar gemacht und verschwiegen. Wieso machen die Menschen da mit? Gramsci und Hegemonie Im Alltag, in der politischen Arbeit oder in Diskussionen mit Freun den, Arbeitskolleginnen oder Verwandten machen wir als gesell schaftskritisch denkende Menschen oft die Erfahrung, dass angesichts von Krisen, Hunger, wachsender Ungleichheit zwischen Arm und Reich oder Klimakrise der neoliberale Kapitalismus zwar verstärkt kritisiert wird, die herrschende Ordnung dennoch bei vielen auf Zustimmung stößt. Etwas anderes scheint nicht vorstellbar, wenn gleich viele bestimmten kapitalismuskritischen Positionen zustim men. Laut Umfragen und Studien glauben immer weniger Menschen an die gesellschaftliche Konsensformel der sogenannten sozialen Marktwirtschaft. Diese war in der Zeit des Nachkriegskapiulismus zur realen Erfahrung geworden: als Verbindung einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit »sozialer Gerechtigkeit«, also steigendem Wohlstand auch für die unteren Klassen und Auf stiegsperspektiven für ihre Kinder. Mit dem neoliberalen Klassen kampf >von oben<, dem Angriff auf die Arbeits- und Lebensbedin gungen großer Teile der Lohnabhängigen, auf öffentliche Leistungen und soziale Sicherungssysteme löste sich die in breiten Teilen der Bevölkerung verankerte aktive Zustimmung zur grundsätzlichen EntwickJungsrichtung der Gesellschaft nach und nach auf. Insbeson dere Einschnitte wie die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze haben Veränderungen im Alltagsbewusstsein nach sich gezogen. 6 Giuwisa lesen Doch inmitten der wirtschaftlichen und sozialen Krise in Europa werden die Agenda-Reformen und das vielbcschworene »Export- modcll Deutschland« als Erfolg präsentiert. Schließlich sieht es in den sogenannten Krisenstaaten in Süd- und Osteuropa ja viel schlimmer aus, so der Diskurs. Auf diese Weise wird Zustimmung zu einer Politik organisiert, die sich als alternativlos darstcllt. Das funktioniert auch über Spaltungen und Konkurrenzen·, zwischen Leiharbeitern und Stammbelegschaften, »Mittel«- und »Unter schicht«, Migrantinnen und »Deutschen«, »deutschen Steuerzah lern« und »faulen Griechen«. Zugleich werden vielfältige Risse in der herrschenden Ordnung sichtbar: von steigenden Mieten und Lebenshaltungskosten über Niedriglöhne, die nicht zum Leben reichen, bis zu den wieder kehrenden Konflikten um die Unterfinanzierung wichtiger gesell schaftlicher Bereiche wie Bildung, Kindererziehung, Pflege und Gesundheitsversorgung. Es bricht sich immer wieder Kritik Bahn. Zugleich gelingt es, die Beherrschten zu spalten und (wenn auch prekäre) Zustimmung zum Bestehenden zu organisieren. So kommt es, dass viele Menschen zwar kapitalismuskritischen Positionen grundsätzlich zustimmen - dies aber häufig mit einem fatalistischen Achselzucken tun: »Was können wir schon ändern?« In den Worten des italienischen Marxisten Antonio Gramsci ent spricht dies zwar keinem »aktiven Konsens« mehr, aber immer noch einem »passiven Konsens«. Das meint eine vor allem praktische Zustimmung durch achselzuckende Hinnahme im Alltagshandeln. Die Einschätzung, nichts ändern zu können, ist auf eine gewisse Art realistisch. Die Verhältnisse ändern sich nicht einfach zum Guten. Doch gar nicht an ihrer Veränderung zu arbeiten führt in die Per- spektivlosigkeit. Um über diese Erfahrungen im Arbeitsalltag, im Freundeskreis oder in der politischen Arbeit nachzudenken und zu diskutieren, braucht es nicht gleich einen Gramsci-Lesekreis. Die Beschäftigung mit Gramsci kann aber helfen, gesellschaftliche Ver hältnisse in ihren Zusammenhängen und die Kämpfe darum besser zu verstehen und zu kritisieren. Mit Gramsci Gesellschaft zu denken motiviert auch, das Gefühl der eigenen Ohnmacht in gemeinsames politisches Engagement zu wenden. Die Diskussionen im Alltag, die Deutungskämpfe um die Krise in den Medien, die Art, wie Kritik in den herrschenden Diskurs aufge nommen wird, und die Widersprüche im Alltags verstand können mit Gramsci als Kampfe um Hegemonie begriffen werden. Hegemonie Überlegungen zur Aneignung der Gefängnishefte 7 ist der zentrale Begriff in Gramscis Gefängnisnotizen: Wir stoßen in linken Diskussionen immer wieder darauf, oft ohne dass klar wäre, was genau gemeint ist. Ein Kerngedanke Gramscis zur Hegemonie ist, dass Herrschaft in bürgerlichen Gesellschaften nicht in erster Linie auf gewaltsamer Unterdrückung beruht, sondern auf emer Kombination von Zwang und Konsens. Die freiwillige Zustimmung von Teilen der Beherrschten zu ihrer Beherrschung muss organisiert werden. Der Konsens ist gelebtes, praktisches Einverständnis. An dieser Stelle kann keine Definition von Hegemonie stehen. Auch die ganze Reichweite des Hegemonie-Begriffs können wir hier nicht entfalten. Die Frage, was Hegemonie im Sinne Gramscis ist, zieht sich wie ein roter Faden, ein Leitmotiv, durch die Ge fängnishefte. Hierzu gibt es mittlerweile eine Reihe guter Ein führungstexte. Ziel dieser Zusammenstellung von Textstellen aus den Gefängnisheften ist, Gramsci im Original zu entdecken und kritisch anzueignen, nicht eine bestimmte Lesart stark zu machen. Wir wollen dazu anregen, die Gefängnishefte nicht als Klassiker zu lesen, sondern Gramsci als Teil eines pluralen Erbes marxistischer Gesellschafcstheorie zu verstehen. Es geht uns um den praktischen »Gebrauchswert« von Gramscis Überlegungen für fundierte Gesell schaftskritik und für Fragen emanzipatorischer Politik. Der >ganze< Gramsci: Analyse, Kritik und Praxis Unsere Herangehensweise ans »Gramsci lesen« versucht, an seinem Verständnis des Marxismus als kritischer Theorie der Gesellschaft und als Orientierung auf ihre grundlegende Veränderung anzuknüp fen. Für Gramsci war die doppelte Niederlage der sozialistischen Arbeiterbewegung in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen - die Niederlage der Aufstände und Rätebewegungen nach dem Modell der russischen Oktoberrevolution in den westlichen Län dern sowie die folgende Niederlage gegen den Faschismus - auch eine tiefgreifende Krise des Marxismus. Dieser war vor allem in den Versionen der II. Internationale und des Dialektischen Materialis mus immer mehr zu einem dogmatischen Gebilde von Lehrsätzen erstarrt. Der Ökonomismus (die Vorstellung, dass die Ökonomie die gesellschaftlichen Dynamiken vollständig bestimmt und Politik, Kultur und Ideologie nur Reflexe der ökonomischen Entwicklung sind) und der Klassenreduktionismus (die Anrufung der Arbeiter klasse als einheitliches revolutionäres Subjekt und die damit verbun 8 Gramsci lesen dene Vernachlässigung von Widcrsprüchen und Spaltungen entlang anderer Machtvcrhältnisse, z.B. Rassismus oder Patriarchat) hatten den Materialismus nach Marx seines kritischen Stachels beraubt. Gramsci versuchte sich an einer Neu-Begründung des Marxismus, die sich auf die gesellschaftliche Praxis der Menschen richtet, auf ihr Handeln in bestimmten Verhältnissen, die er als umkämpfte »Kräf teverhältnisse« begreift. Gramsci entwickelte seine fragmentarisch gebliebenen Überlegungen in einer Konstellation der Krise des libe ralen Kapitalismus, der Niederlage der Linken und der beginnenden Durchsetzung einer neuen kapitalistischen Produktions- und Le bensweise Ende der 1920er Jahre. Gegenwärtig erleben wir erneut eine >große Krise«, die tiefste seit der Großen Depression der 1930er Jahre. Die neoliberale Ideologie ist erschüttert, der Zwang tritt offen zutage, insbesondere in Südeuropa. Autoritäre Maßnahmen werden überall verstärkt. Und wieder scheint es einer in den vergangenen 40 Jahren in der Defensive befindlichen und zunehmend gespaltenen Linken nicht zu gelingen, sich neu zu orientieren und zu organisie ren, wirkungsvoll in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einzugreifen und Alternativen deutlich zu machen. Gramsci erklärt uns natürlich nicht die gegenwärtige Krise und gibt keine direkten Antworten für die Kämpfe unserer Zeit. Um diese aber zu verstehen, lohnt es, Gramscis Überlegungen neu zu entdecken, seine Problem- und Fragestellungen aufzugreifen. Sie können helfen, Klarheit in die Verwobenheit von vielfältigen Kri senerscheinungen, gesellschaftlichen Umbrüchen und Blockaden zu bringen und den Blick auf die Verhältnisse strategisch zu wenden, um handlungsfähig zu werden. Denn mit der vielgestaltigen Krise des gegenwärtigen Kapitalismus und einer brüchig gewordenen neoliberalen Hegemonie werden neue Herrschaftsprojekte entwi ckelt. Ebenso entwickeln sich neue soziale Kampfe - von der Ara- bellion über Occupy, die Bewegung für »wirkliche Demokratie« in Südeuropa und darüber hinaus bis nach Chile. Sie verschieben das Terrain der Kämpfe durch Bewegung >von unten«. Gramsci heute zu lesen bedeutet also auch, seine Anregungen für kritische Gesellschaftstheorie nicht vom kommunistischen Politiker und politischen Strategen zu trennen. Gramscis Hegemonietheorie beinhaltet immer eine Doppelperspektive: Es geht nicht nur um die Analyse der Herrschaftssicherung >von oben«, sondern immer auch darum, wie sich in den Kämpfen der Subalternen eine freiere Gesellschaft »von unten« bilden kann. Heute wird an diese Doppel Überlegungen zur Aneignung der Gefängnishefte 9 perspektive auf unterschiedliche und produktive Weise angeknüpft, um neue Strategien für eine emanzipatorische, sozialistische Trans formation zu entwickeln. Kurz: Es geht uns darum, den >ganzen< Gramsci zu entdecken. Der fragmentarische Charakter seines Werkes, das unter den Be dingungen der Haft entstanden ist, erschwert mit über 2.061 Seiten Mosaikstückcn unterschiedlicher Notizen einen systematischen Zugang. Die Aneignung der thematischen Vielfalt und Breite von Gramscis Überlegungen war auch schwierig: Es fehlte eine kritische Gesamtausgabe der Gefängnishefte. Lange Zeit war nur der >halbe< Gramsci zu haben. Seit 1991 gibt es nun eine vollständige Überset zung ins Deutsche. Diese kritische Gesamtausgabe wurde von Klaus Bochmann, Wolfgang E Haug und anderen gemeinsam erarbeitet und liegt mittlerweile auch als Taschenbuchausgabe vor. Rosinen picken mit Gramsci: einseitige Frontstellungen Zuweilen leistete die Aneignung des >halben< Gramsci einem ver kürzten oder einseitigen Verständnis seines Denkens Vorschub. Ein kurzer Blick in die Rezeptionsgeschichte liefert einen Ein druck davon: Die ersten Auswahlbände von Gramscis Genossen und späterem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Italiens (KPI), Palmiro Togliatti, später auch von Christian Riechers in Westdeutschland, stellten einzelne Textpassagen der Gefängnis hefte thematisch zusammen. Damit wurde einerseits der Zugang und eine verstärkte Rezeption erleichtert, zugleich aber eine Art geschlossenes Gesamtwerk Gramscis suggeriert. In den 1950er und 1960er Jahren wurden aus der thematischen Bandbreite der Gefäng nisnotizen vor allem jene Themen hervorgehoben, die Togliatti als Gramscis Nachfolger an der Spitze der KPI stark machte. Er stellte Gramsci in die Tradition Lenins, präsentierte ihn als Vordenker der kommunistischen Partei, als Strategen eines Klassenbündnisses gegen den Faschismus sowie als Teil des kulturellen Erbes Italiens, der die populäre und nationale Kultur (also Fragen der Folklore, Literatur, Sprache und Kunstkritik) als wichtigen Kampfplatz für die Linke entdeckt habe. Diese Aspekte waren auch Schwerpunkte der in der DDR entstandenen Auswahlbände. In den 1960er und 1970er Jahren wurde Gramscis Erbe zum um kämpften Bezugspunkt für ganz unterschiedliche Strömungen und Strategien der Linken (vor allem in Italien, aber auch darüber hin 10 Gramsci lesen aus). Unter den Bedingungen der prekären Nachkriegsdemokratie und der starken Verankerung des Katholizismus in Italien betonte die KPI den Kampf um Hegemonie innerhalb des bürgerlichen Staates und strebte eine breite Verankerung der Partei in der Zivil gesellschaft an (bspw. durch Kulturvereine, Volksfeste, kommunale Aktivitäten und Gewerkschaftsarbeit). Mit Berufung auf Gramsci wurde ein von der Sowjetunion unabhängiger Kurs eingcschlagen. Auch die anderen kommunistischen Parteien Westeuropas verfolg ten diesen »Eurokommunismus«. Nun suchte die KPI angesichts des starken Anti-Kommunismus des Kalten Krieges und der Gefahr einer autoritären Entwicklung in Italien - ebenfalls mit Anleihen bei Gramsci - das Bündnis mit den Christdemokraten (»historischer Kompromiss«). Diese Konstellation trug dazu bei, dass die auto nome Arbeiterbewegung Italiens aufgrund ihrer heftigen Konflikte mit der KPI Gramsci als Reformisten einstufte. Eine weitere Frontstellung, die durch einseitige Lesarten geprägt war, verlief etwa entlang der Frage, ob Gramsci vor allem als Kultur theoretiker und Hegemonie als »kulturelle Hegemonie« verstanden werden sollte. Während ihm von manchen Marxisten vorgeworfen wurde, ein idealistischer Kulturtheoretiker zu sein, der die Öko nomie vernachlässige, knüpften die Vordenker der britischen Cul- tural Studies (wie z.B. E.P. Thompson, Stuart Hall und Raymond Williams) an Gramscis Überlegungen zu Kultur an: nämlich als ma terielle Weise zu denken, zu fühlen und zu leben. Hier waren Fragen der Alltagskulrur eng verbunden mit der Analyse der Veränderungen kapitalistischer Gesellschaften, auch in ihrer Verschiedenheit, wie an den Befreiungskämpfen in den Kolonien gezeigt wurde. Auch wenn die bei Gramsci betonte widersprüchliche Einheit der Gesellschaft (von Produktions- und Lebensweise, von Ökonomie, Kultur und Politik) später in Teilen der Cultural Studies einseitig zur Kultur hin aufgelöst wurde, war für sie doch die Frage der sozialistischen Strategie unter den Bedingungen einer veränderten Alltagskultur der Ausgangspunkt für eine Neuaufnahme von Gramscis Denken. Postmarxistische Lesarten verengten den Hegemoniebegriff dann zu einer allgemeinen Theorie diskursiver Prozesse (der Sprache, Kommunikation und Bedeutungsbildung). Damit gerieten Fragen nach Ökonomisch-politisch-kultureller Praxis, nach Herrschaftsaus übung und Kämpfen im Kapitalismus aus dem Blickfeld. Vor diesem Hintergrund heißt Gramsci lesen für uns vor allem, nicht einzelne Zitat-Rosinen herauszupicken oder die Gefängnis