GRAECIA ANTIQUA PHILOLOGIA CLASSICA VOL. 11 ∙ FASC. 1. 2016 UDC 821.14+82-13 DAS „INCOMPATIBILITÄTSGESETZ“ TH. ZIELINSKIS: EINE KOLUMBISCHE ENTDECKUNG1 Michael M. Pozdnev St. Petersburg State University, 7–9, Universitetskaya nab., St. Petersburg, 199034, Russian Federation; [email protected] Univ. Trier, FB II Klassische Philologie Universitätsring 15, 54286, Trier, Deutschland; [email protected] Zielinski ’s “law of inconsistency” has been lively discussed since the early seventies, as the Homeric scholarship following the way pioneered by Parry and Lord began to focus more and more on narrative technique. Th e criticism expressed by the German-speaking scholars (H. Patzer, A. Rengakos, and R. Nünlist) has reviewed all the aspects of Zielinski’s theory, pointing out fi rstly that the sequence of events, as presented by Homer, is suffi ciently reasoned (consequently, there is no diff erence between ‘real time’ and ‘apparent time’), and secondly, that Homer actually describes simultaneous actions as simultaneous. It can be added, thirdly, that the Homeric narrator can, in fact, turn back, pick up a diff erent strand, and set forth again through the same time period. However, Zielinski rightly maintained that the Homeric treatment of such actions diff ers signifi cantly from what can be considered ‘normal.’ Indeed, even Vergil’s narrative, modeled on Homeric example, is quite diff erent in this respect. Vergil explicitly synchronizes concurrent actions using coordinate clauses, whereas Homer joins successive as well as parallel action by means of a short coordinate word, most frequently by just one stand-alone δέ. Th us, the reader of Vergil never loses the connection between concurrent events, while the audience of Homer is oft en not sure about the actual parallelism or succession of events; we have to conjecture on where and when the strands actually coincide. What Zielinski discovered, then, was not the law of succession (in fact, there is no such law), but a lack of explicitness in Homer’s spatio-temporal coordination, resulting probably from the (intended?) defi ciency in literalicity that is characteristic of the Homeric poems. Keywords: Homer, Zielinski, narratology, Zielinski ’s law, chronological inconsistency. Als Th addeus Zielinski2 die bekannte Th eorie formulierte, dass in den homerischen Epen synchrone Handlungen nicht dargestellt sind und auch nicht dargestellt werden konnten, war ihm bewusst, dass diesen Weg ein anderer gebahnt hatte: In seinem ersten, auf russisch in der Festschrift für den Moskauer Universalphilologen Th . E. Korsch veröff entlichten Beitrag 1 Ich freue mich diese Studie meinem verehrten Lehrer Herrn Prof. A. K. Gavrilov, der ausschlagge- benden Autorität in allen Fragen der Zielinski-Forschung und dem großen Meister der Philologie, zu sei- nem 75. Geburtstag schenken zu dürfen. 2 Letzteres zum Th ema „Zielinski“: Gavrilov 2013; von Albrecht 2013. © St. Petersburg State University, 2016 6 DOI: 10.21638/11701/spbu20.2016.101 zum Th ema3 greift Zielinski einleitend auf „Die Sagenpoesie der Griechen“ von Gregor Nitsch zurück4 und wirft der Homerkritik vor, dass sie „die Lachmannsche Widerspruchstheorie auf jede Art und Weise ergänzt oder widerlegt“, anstatt die Besonderheiten des alten Epos zu untersuchen, auf die Nitsch aufmerksam gemacht hatte5. Eine davon sei die Linearität der dargestellten Handlung. Zielinski behauptet, dieses Merkmal „noch nichts von Nitsch wis- send“ bemerkt zu haben. Im russischen, durch Entdeckungsgeist inspirierten Aufsatz schließt sich Zielinski dennoch am Ende methodisch der getadelten neuhumanistischen Homerkritik an. Die Schwierigkeit, auf die der homerische Sagenerzähler bei der erzählerischen Entfaltung von in der erzählten Realität gleichzeitig verlaufenden Handlungen stieß, wird nicht allzu harmonisch mit der „hundertjährigen homerischen Frage“ in Verbindung gesetzt: „Der über sein Material störungsfrei verfügende Dichter“ würde keine „fühlbare Lücke auf einem der Handlungstheater hinterlassen“; folglich ist die Ilias „das Werk eines Bearbeiters, welcher die sich auf Achilles’ Zorn beziehenden Teile des Sagenepos zusammengefügt hat“. Eine derar- tige Lösung entsprach nicht der anfänglich artikulierten Absicht, das neuentdeckte Gesetz gemäß des von Nitsch vertretenen innovativen Forschungsansatzes zu erklären. Zu diesem versucht Zielinski zurückzukommen, indem er schreibt: „Was für den Redakteur der Ilias unumgänglich war, war es auch für alle Dichter, deren Schöpfungen in sie einfl ossen“. Dies bleibt allerdings ohne Beweis, die Erörterung schließt ex abrupto mit bloßem Verweis auf Steinthal6. In der bald darauf folgenden deutschen Kurzmonographie7 geht Zielinski hinge- gen konsequent von einem psychologisch-poetologischen Standpunkt aus: Der Formulierung des „Incompatibilitätsgesetzes“ wird ein bildhaft er Exkurs in die Wahrnehmungspsychologie vorausgeschickt; die Beschreibung der „Methoden“, d. i. Verfahren, von denen der home- rische Erzähler bei parallel ablaufenden Handlungssequenzen Gebrauch macht, sowie der von Zielinski postulierten Transformationen der „wirklichen“ Handlung in die „scheinbare“ wird durchgehend von kunstpsychologischen Erwägungen begleitet. Schließlich verspricht der Verfasser, die Bedeutung seiner Entdeckung für die homerische Frage im nächsten Teil zu erörtern. Sein Rezensent, Paul Cauer, freut sich über „den glücklichen Bund von Scharfsinn und Witz, der hier eine neue, fruchtbare Betrachtungsweise geschaff en hat“, und wartet auf die versprochene Fortsetzung8. Allerdings setzte Zielinski seinen Plan nicht in die Tat um und der „Erste Teil“ blieb auch der einzige. Der Forscher war jedoch, wie aus heutiger Per- spektive ersichtlich, aus wissenschaft spragmatischen Gründen nicht imstande, das geäußerte Versprechen einzuhalten: Sein methodischer Ansatz kollidierte mit den Prinzipien der Schei- dungskritik sowie des Unitarismus seiner Zeit. Wohl deswegen fand auch Zielinskis Th eorie zu Lebzeiten fast keine Resonanz9. Die Epoche der Narrativistik kam später. 3 Zielinski 1896 [Зелинский Ф. Ф. Закон хронологической несовместимости и композиция Или- ады]; hierzu: Kleiner, Pozdnev 2013 [Клейнер С. Д., Позднев М. М. Хронологическая несовместимость Ф. Ф. Зелинского. Послезаконие], 449–451. 4 Zielinski 1896, 104; vgl. Nitsch 1852, bes. 106. Rengakos 1995, 20, Anm. 60 glaubt zu Unrecht (an- scheinend ohne über den russischen Beitrag Zielinskis Bescheid zu wissen), dass der Forscher das Buch von Nitsch etwa nicht berücksichtigt hat. Zielinski verweist weiter noch auf Bekker 1863, 130. 5 Zielinski 1896, 104; für die Debatte um die Th eorien von Nitsch s. Curtius 1854, 14–22. 6 Zielinski 1896, 121: “Если мы теперь спросим себя, с которой из существующих уже теорий происхождения гомеровских поэм лучше всего вяжется предполагаемый процесс, то придется от- ветить: с теорией Штейнталя, развитой им в статье Das Epos.” Vgl. Steinthal 1858; Kammer 1873, 3–14. 7 Zielinski 1901. 8 Cauer 1903, 50. 9 Eine der seltenen Ausnahmen bildet Belzner 1912, 24, Anm. 1. Zielinski beklagte sich darüber, dass das von ihm neuentdeckte Gesetz in den russischen Homerstudien „nur fl üchtig zitiert wird“: Zielinski Philologia Classica. 2016. Vol 11. Fasc. 1 7 Die maßgeblichen Altphilologen der Jahrhundertmitte überprüfen die Regel Zielinskis nicht, sondern setzen sie als Gemeinplatz voraus10. Édouard Delebeсque hat sie in „la loi de succession“ umbenannt11; der Begriff „Sukzessionsgesetz“ ist in der jüngeren literaturge- schichtlichen Forschung gängig geworden12. Die psychologische Begründung Zielinskis, die „serapiontische Schau“, welcher der Dichter sich hingebe13, wurde dabei allerdings durch die kulturgeschichtliche ersetzt: Nach Hermann Fränkel verfügte der homerische Mensch über keine Vorstellung von der absoluten Zeit (denn durch χρόνος wird bei Homer allein die Zeitdauer bezeichnet); daher hätte der Dichter die gleichzeitig stattfi ndenden Begebenheiten unmöglich als solche darstellen können14. Die Poetik des mündlichen Sagenerzählens haben M. Parry und A. Lord zum Zent- ralthema der Homerforschung gemacht; eine Dekade nach dem Erscheinen von „Th e Singer of Tales“15 wurde Zielinskis Gesetz von Tilman Krischer das erste Mal problematisiert16. Das „serapiontische“, oder, modern ausgedrückt, „kinematographische“ Prinzip des Schauens weist Krischer als Erklärung der Handlungslinearität bei Homer zurück: Der Dichter er- zählt im Präteritum und ist durchaus in der Lage, seine Beobachtungen zu synchronisieren. Gleichermaßen könne die Abwesenheit des absoluten Zeitbegriff s den Erzähler kaum an der chronologischen Koordination paralleler Begebenheiten hindern: Die Gleichzeitigkeits- vorstellung gehöre zu den Eigenschaft en der Vernunft und hänge genauso wenig von den mathematischen Absoluten ab, wie die sprachliche Äußerung eines Gedankens der Existenz von explizit formulierten grammatischen Regeln bedarf17. Es gebe keine objektiven Hinder- nisse, die Handlungsgleichzeitigkeit darzustellen. Folglich habe Homer die gleichlaufenden Vorgänge mit Absicht als Nacheinander arrangiert. Vier Beispiele werden von Krischer in Anlehnung an Zielinski besprochen: 1. Il. 15, 150– 234: Zeus hätte gleichzeitig (A) Iris zu Poseidon und (B) Apollon zu Hektor schicken müssen; in der homerischen Darstellung folgt aber B auf A: Die Botschaft an Poseidon ist überbracht, 1900, 169; gemeint ist dabei Shestakov 1899 [Шестаков C. O происхождении поэм Гомера. Выпуск II: О происхождении Илиады], 82. Seit der Nachkriegszeit gibt es in Russland allerdings kaum eine Darstel- lung der antiken Literatur, die das „Zielinskische Gesetz“ ignorierte. 10 U. a. Page 1955, 64–65; Bowra 1952, 313–14; Lesky 1968, 722; vgl. Hellwig, 1964, 58–60; für weitere Hinweise s. Olson 1995, 93, Anm. 8. 11 Delebeсque 1958, 9; 16 u. passim. 12 S. z. B. Nünlist 1996, 3; Scodel, 2008, 108; Reichel 2011, 22. 13 Für das „Serapiontische Prinzip“ bei E. T. A. Hoff mann sowie für die „Modellfi gur des idealen Dich- ters, der wirklich innerlich schaut, was er erzählt“, s. Kurbjuhn 2014, 655–60, hier 657, mit weiteren Lite- raturhinweisen. Die Romantheorie F. Spielhagens wird von Rengakos (1995, 9, mit Hinweis auf Steinhoff 1964, 9) als Quelle Zielinskis betrachtet. Dies bleibt dahingestellt, da zwischen beiden Th eorien weder eine terminologische noch eine inhaltliche Interferenz besteht. Dass Homer hinter den handelnden Personen „völlig und ausnahmslos verschwindet“ (so Spielhagen in seinem 1895 verfassten Weimarer Festvortrag „Die epische Poesie und Goethe“), würde einem Verfasser der „Homerischen Psychologie“ (s. Zielinski 1922) absurd vorkommen. Beiläufi g sei bemerkt, dass auch die Meinung von Patzer 1996, 16, laut welcher Zielinski sich um eine „mögliche dichterische Bedeutung“ der Handlungspersonen bei Homer „gar nicht kümmerte“, sondern lediglich die Darstellungsform der homerischen Gedichten schilderte, zu dem, was Zielinski in der „Homerischen Psychologie“ aber auch in seinen anderen Schrift en zur homerischen Poetik äußert, im off enbaren Widerspruch steht. 14 Fränkel 1931, 97–100; 1968, 1–4. 15 Die erste Ausgabe erschien bekanntlich in 1960; vgl. Mitchell, Nagy 2000, für die Handlungskoor- dination in der Odyssee s. 163–165. 16 Krischer 1971; einleitend (4–8) setzt sich der Verfasser mit der Schule von Milman Parry pointiert auseinander. 17 Ebd. 97–102; noch ausführlicher und vielseitiger wird Fränkel von Rengakos 1995, 10–15 kritisiert. 8 Philologia Classica. 2016. Vol. 11. Fasc. 1 sein Zurücktreten erreicht, Zeus spricht seine Zufriedenheit aus, erst dann folgt die Ermu- tigung Hektors durch Apollo. 2. Il. 24, 93–187, ein ähnlicher Fall: Th etis wird zu Achilles abgesandt, man wartet, bis der Held seine Reaktion äußert, erst dann fl iegt Iris zu Priamos. 3. Il. 8, 489–565; 9, 9–172: Der Kriegsrat der Trojaner und die von Agamemnon heimlich veranstaltete Versammlung der achäischen Könige müssten in der Erzählrealität am selben Abend stattgefunden haben, aber der Dichter hat das Nebeneinander in ein Nacheinander umgestaltet. 4. Od. 1, 44–93; 5, 5–43, im Wesentlichen wie Beispiel 1 und 2: Athena begleitet den Sohn des Odysseus; erst nach dem Ende der Telemachie begibt sich Hermes zu Kalypso18. Zielinski konstatiert eine „anomale Verzögerung“: Die „analysierend-desultorische Metho- de“ ist nicht anzuwenden, da man die Aufmerksamkeit auf beide sich entfaltenden Vorgänge konzentriere; also kommt die Erzählung auf einem der zwei Handlungsstränge eine Zeitlang nicht vom Fleck, die Handlung wird „herunterdrückt“. Krischer behauptet, hier sei nicht eine erzwungene Verzögerung vorhanden, sondern eine „koordinierte Verzweigung“: Es werde eine bestimmte Situation modelliert, an welcher zu erkennen sei, dass die Stränge weiterhin gleichzeitig ablaufen, obwohl sie naturgemäß in Aufeinanderfolge beschrieben werden19. Die Haupthandlung, zu welcher der Epiker, nachdem er mit der Beschreibung einer Ne- benlinie fertig ist, zurückkehren muss, entwickelt sich nach der Auff assung Krischers streng linear. Mithin wird das Gesetz Zielinskis, „an Iron Law of Narrative Sequence“ (so Olson nach Delebeсque), nicht bestritten und behält fortan bei der Mehrheit der Homerforscher den Status eines Axioms bei20. Jedoch führt gerade die Überzeugung, dass die Linearität bei Homer niemals verletzt werde, paradoxerweise zu seiner Widerlegung. Harald Patzer stellt sich das homerische Epos als „Kosmos“ vor, in dem jedes Detail die „Einheit einer für sich nur einlinig vorwärts schreitenden Ereigniskette“ unterstützt21. Patzer stellt eine Frage, die schon bei Zielinski anklang. In seinem russischen Aufsatz fasste dieser die Erwiderung zu- sammen, welche die Homerkritik gegen Nitsch richtete, indem sie „durch den Mund von Curtius fragte, woher Nitsch gewusst hätte, dass die Handlungen, die Homer nacheinander erzählt, parallel dargestellt worden sein sollten“22. Das Problem, auf das hier verwiesen wird, hat Zielinski allerdings weder in seiner russischen noch in der deutschen Abhandlung besei- tigt. Patzer ist damit völlig berechtigt, denselben Einwand zu äußern, auch ohne die Vorgän- ger zu erwähnen. Nach seiner Ansicht sind die hypothetisch parallelen Handlungen nicht nur nacheinander dargestellt, sondern sie hängen voneinander ab. 1. Zeus kann nicht von vornhe- rein wissen, ob sein launiger Bruder seiner Forderung nachgibt; also müssen er und Apollon abwarten. 2. Iris darf unmöglich zu Priamos geschickt werden, bevor der unberechenbare Achilles zugestimmt hat, die Leiche von Hektor herauszugeben: Sonst wäre der Greis einer Lebensgefahr ausgesetzt. 3. Für den geheimen Rat der Achäerführer, auf dem sich Agamem- 18 Krischer 1971, 94–6; Zielinski 1901, 432–435. 19 Krischer 1971, 128–9; Zielinski 1901, 433. 20 S. bspw. Olson 1995, 93; Rujigh 1974, 419; Whitman, Scodel 1981, 3; de Jong 1997, 322; 2007, 30; Danek, Epos 1998, 177–178; vgl. Id. Darstellung 1998, 88, wo die folgende Universalisierung des Zielin- skischen Gesetzes anzutreff en ist: „Alle Beschränkungen, Gebote und Verbote, die Zielinski defi niert hat, lassen sich als Folge einer einzigen Regel deuten, nämlich der ,Vermeidung‘ der Darstellung verdeckter Aktionen“. Es wird also wiederholt betont, dass der Dichter von dem bereits verlassenen Zeitpunkt keine neue Erzähllinie beginnen kann. 21 Patzer 1990, 166; vgl. Id. 1996, 96: „Die Darstellung gleichzeitigen Ereignisgeschehens ist bei Homer prinzipiell nicht möglich und kommt nicht vor“. 22 Zielinski 1896, 104: „…она [гомеровская критика] устами Курциуса спросила, откуда Нич знает, что действия, которые Гомер рассказывает одно за другим, должны быть представляемы как действия параллельные“; vgl. Curtius, 1854, 14. Philologia Classica. 2016. Vol 11. Fasc. 1 9 non zunächst demütig zeigt, dann über die Presbeia entschieden wird, bestünde kein Bedarf, wären nicht die Troer am Abend vor dem Wall des feindlichen Lagers geblieben und hätten tausende Lagerfeuer angezündet. 4. Die Reise des Telemachos bereitet die des Odysseus vor: Dem Sohn droht der Tod, daher darf die Rückkehr des Vaters nicht weiter verhindert wer- den; somit wird der Plan von Athene, die durch ihren Vater handeln muss, zur Vollendung gebracht23. Die Handlungsfolge sei also immer hinreichend psychologisch motiviert24; bei den expliziten Korrelationen der Ereignisse handle es sich, anders als Zielinski meint, nicht um „falsche“, sondern um durchaus korrekte, wahrnehmungserleichternde Synchronismen. Die Kritik Patzers war für die weitere Diskussion insofern produktiv, dass sie die Sinn- losigkeit der Streitigkeiten, ob nun die von Zielinski und Krischer präsumierte (A || B) oder die aus der faktischen Darstellung herauszulesende (A → B) Handlungssequenz besser begründet ist, off engelegt hat25. Dessen ungeachtet hört ein Teil der Homerforscher, Zie- linski folgend, nicht auf, „wirkliche“ und „scheinbare“ Handlung (“real time” vs. “apparent time”) voneinander zu trennen26. Dennoch kritisiert die andere, der Diskussionsgeschichte bewusstere Schule Zielinski immer eifriger, indem sie nicht allein die dargestellte Sequenz für logisch und lückenfrei erklärt, sondern zu zeigen versucht, dass Homer nicht weni- ger fähig ist, parallele Vorgänge zu erzählen, als modernere Literaten. Die Simultaneität der Stränge wird, wie die eingehende Untersuchung von Antonios Rengakos anschaulich gemacht hat, von den Handlungspersonen deutlich angekündigt27. „Während ich mich aus- rüste, betet Zeus an“ (Il. 7, 93); „ich gehe zu meinem Haus, und du, Helena, sporn Paris zum Kampf an“ (6, 363): An diesen und ähnlichen Aussagen von Aias, Hektor und den anderen Helden lässt sich ersehen, dass sich Homer diejenigen Episoden, die er nachein- ander zeigt, als gleichlaufend denkt. Dieselbe Struktur ist zu erkennen, wenn die Rede vom Autor selbst herrührt: Während die Achäer und die Troer frühstücken, sich rüsten und in den Kampf gehen (8, 53–59), mahnt Zeus die Götter (1–52); solange Patroklos die Wun- den des Eurypylos versorgt, setzt sich der stürmische Kampf dauernd fort (Il. 15, 390–394, vgl. 11, 842–912, 2). Die „analysierend-desultorische Methode“ Zielinskis scheint für Ren- gakos das Vorgehen des Epikers grundsätzlich richtig zu bestimmen. Die Haupthandlung wird detailliert ausgearbeitet („analysiert“), die Nebenhandlung(en) strichartig gezeich- net; dann „springt“ der Erzähler zum Nebenstrang, der für einige Zeit zum Hauptstrang wird. Die Punkthandlungen werden jedoch nicht bloß in andauernde Zustände verwandelt (bspw. hört Menelaos nicht auf, Paris zu suchen: 3, 448), sondern der Nebenstrang kann mit gewisser Ausführlichkeit gezeigt werden (wie das von Hekabe und den Trojannerinnen dargebrachte Opfer an Athene: 6, 286–313). Diese Handlungen sind allerdings einförmiger als der Hauptstrang: Dargestellt wird fast immer ein und derselbe fortdauernde Vorgang. Dies zeigt sich insbesondere anhand der von René Nünlist in Ergänzung zu Rengakos ange- 23 Patzer 1990, 154–172; vgl. Rengakos 1998, 62–63. Nach seiner Reise ist Telemachos bereit, gegen die Freier mit seinem Vater anzutreten; „a trip abroad where he might converse with such Trojan heroes as Nestor and Menelaus was just the thing needed to bring out those strong and manly qualities which were by right of birth the possession of the son of Odysseus“: Scott 1918, 428. 24 Somit darf man kaum behaupten (wie etwa Hoekstra 1989, 31; Seeck 1998, 138), dass die (genaue) Handlungskorrelation für Homer irrelevant und nur die Handlung schlechthin von Belang ist. 25 Vgl. Rengakos 1998, 46. 26 Stanley 1993, 154; 371; Richardson 1990, 225; Janko 1992, 150; de Jong 2007, 30; Scodel 2008, 116–117. 27 Rengakos 1995, 17–19; 23; 29–30. 10 Philologia Classica. 2016. Vol. 11. Fasc. 1 führten Beispiele28. Er weist u. a. auf das charakteristische Verzweigungsmoment hin: Eine Figur entfernt sich vom Schauplatz, wobei die anderen, „sobald sie ihn weglaufen sahen“, zu handeln beginnen. Il. 14, 428–439: Der verwundete Hektor wird vom Schlachtfeld weg- getragen, und die Achäer, ὡς οὖν ἴδον Ἕκτορα νόσφι κιόντα, fangen an, die Troer heft iger anzugreifen. Das formelhaft e νόσφι κιόντα fi ndet sich noch zweimal im gleichen Kontext: Il. 11, 284: Ἕκτωρ δ’ ὡς ἐνόησ’ Ἀγαμέμνονα νόσφι κιόντα und Od. 8, 286: (Ἄρης) ὡς ἴδεν Ἥφαιστον κλυτοτέχνην νόσφι κιόντα. Die zweite Linie, obwohl zweifelsohne parallel ge- dacht, wird nicht ausgearbeitet: Wir sehen eine reglose Gestalt in ihrem Wegtreten — eine passende Gelegenheit, sie zu verlassen. Aus den Beobachtungen von Rengakos und Nünlist folgt, dass in der homerischen Er- zählung einige kurze Szenen vorkommen, die synchron zur Stammhandlung ablaufen29. Die „Verzahnung“ wird durch kleine Hilfswörter, meistens durch μέν / δέ bzw. nur δέ, aber auch mittels αὐτάρ, (αὖθ’) ἑτέρωθεν, ὄφρα (ἦος) / τόφρα markiert. Diese Koordinationswörter müssen, in Fällen, in denen sie der Erzähllogik nach das Rückwärtsschreiten kennzeich- nen, in der ungefähren Bedeutung von ‘inzwischen’, ‘unterdessen’ und dergl. verstanden werden30. Laut Nünlist erweist sich der homerische Erzähler bei der Behandlung gleichze- itiger Ereignisse als „durchaus ‘normal’ “. Nicht anders als den übrigen Narratoren fällt ihm das Zurückgreifen auf bereits Geschehenes einfacher als die „peinlich genaue („analysier- end-desultorische“) Berücksichtigung der Chronologie“. Der Unterschied zwischen Homer und den Späteren bestehe darin, dass er nur selten und „äußerst zurückhaltend“ rückwärts springe31. Ruth Scodel formuliert das Gesetz Zielinskis mit großer Vorsicht um: „Th e narra- tor tries to avoid placing, at least overtly, two foregrounded, dramatically developed actions at the same story time“32. Eine solche Vorsicht ist vernichtender als die schärfste Kritik. Denn somit könnten Emil Zola oder N. V. Gogol in die Kategorie „homeric narrator“ geraten. Gewiss kann man mit Nünlist behaupten, dass die von Zielinski geforderte Einhal- tung der präzisen chronologischen Ponderation weder für Homer noch für die neuzeitli- chen Dichter erfüllbar ist. Ein Beispiel: Evgenij, der Held von Puschkins „Ehernem Reiter“, kommt am Abend nach Hause und macht Pläne für die Zukunft ; danach wird die katas- trophale Überschwemmung an der Neva geschildert; dann treff en wir plötzlich Evgenij auf einem „marmornen Tier“. Zielinski würde wohl eine Lücke im zweiten Vorgang vorausset- zen. Hätte aber der Dichter beschrieben, wie Evgenij von seiner Wohnung zum Neva-Kai läuft und auf den marmornen Löwen klettert, wäre die Wirkung der Überschwemmungsszene (einer der eindrucksvollsten Szenen in der russischen Literatur) geschwächt. Nicht anders bei Homer: Hektor trennt sich von Paris und geht fort, um Andromache zu sehen; er nimmt Abschied von seiner Familie; danach trifft er Paris beim Skäischen Tor wieder. Was machte Paris während der Abschieds-Szene? Freilich können wir diese Kluft leicht ausfüllen, meint Zielinski: Der Dichter habe hierfür einige Anspielungen proleptischen Charakters (6, 321; 363) gemacht. Immerhin sei hier eine Lücke in der Handlung vorhanden, welche der „un- serem Gesetz“ unterworfene Dichter nicht vermeiden könne33. Aber nach einer der hervor- 28 Nünlist 1998, 5. 29 Für die Fernverweise, die „die Sukzessivität der Handlung für einen Augenblick außer Kraft setzen“ s. Reichel 1994, 57–8. 30 Trotz der Meinung von Nünlist 1998, 8 und Steinrück 1992, 13–14; vgl. Rengakos 1995, 30. 31 Nünlist 1998, 3; 7–8. 32 Scodel 2008, 111. 33 Zielinski 1896, 109: «Пока Гектор беседует с Андромахой, Парис надевает оружие и отправляется встречать своего брата у Скейских ворот. Здесь мы имеем, таким образом, два Philologia Classica. 2016. Vol 11. Fasc. 1 11 ragendsten Szenen der Ilias (und der ganzen antiken Literatur) ist kaum zu erwarten, dass uns gezeigt wird, wie Paris sich ankleidet. ‘Geschichtliche’ Genauigkeit darf man also von der Dichtung gerade nicht verlangen. Kürzere und für die Zwecke des Künstlers belanglosere Szenen können, wie gezeigt wurde, bei Homer die Haupthandlungslinie problemlos begleiten. Aber auch längere und gewichtigere Ereignisketten werden parallelisiert. Beispiele: 1. Il. 10, 131–298 || 299–337. Wie von den alexandrinischen Kommentatoren bemerkt34, werden zur gleichen Zeit Odys- seus und Diomedes aus dem Lager der Achäer und Dolon von der trojanischen Seite losge- schickt. Ansonsten würden sie nicht aufeinander stoßen. Freilich ist die in die Nacht nach der Presbeia hineingepresste, für das Sujet unwichtige Doloneia hinsichtlich der Autorschaft verdächtig. Aber die Frage nach der Behandlung der gleichzeitigen Ereignisse hat, wie oben bemerkt, mit der ‘homerischen Frage’ keine Berührungspunkte: Ob es nun „Homer“ oder ein anderer Epiker war, der Il. 10 gedichtet hat, ist nicht von Belang: Sie dichteten nach denselben Prinzipien. 2. Od. 15, 217–300 || 301–494. Ein ähnlicher Fall: Der Erzähllogik zufolge müssen die Telemachos-Th eoklimenes-Szene am messenischen Ufer und die Gespräche, die Odysseus bei Eumaios führt, am selben Abend stattfi nden. Nur so ist es möglich, dass sich Vater und Sohn am nächsten Morgen begegnen. Etwa seit der Ankunft des Sohnes in Pylos verlaufen der Telemachos-Strang und der Odysseus-Strang synchron. 3. Od. 24, 1–204 || 22, 381–423, 501. Die zweite Nekyia liegt parallel zu den Ereignissen im Haus des Odysseus. Gewöhnlich begibt sich bei Homer die Seele in den Hades, wenn der Leib verbrannt ist. Aber die Freier sa- gen Agamemnon explizit, dass ihre Körper noch nicht begraben sind; sie bleiben im Megaron des Odysseus liegen (24, 186–187); das Begräbnis fi ndet erst viel später (417) statt. Das bedeu- tet, dass die Hinrichtung der untreuen Diener, die Reinigung des Hauses und die Penelope- Szene in der faktischen Darstellung simultan zur Hades-Reise der Freier und den Gesprächen in der Unterwelt geschehen. Ob die zweite Nekyia ursprünglich eine isolierte Rhapsodie war, ist erneut nicht von Belang, da jeder Epiker, welcher dieses Lied gedichtet haben könnte, von der Gleichzeitigkeit der dargestellten Szenen mit den Szenen im Haus des Odysseus ausgehen musste. 4. Od. 13, 125–187 || 13, 187–214, 522. Die Phäaker setzen den schlafenden Odysseus aus und begeben sich zurück nach Scheria. Ihr Schiff , obwohl unwahrscheinlich schnell, hat den Weg nach Ithaka größtenteils in der Nacht zurückgelegt: Sie landeten, als der Morgen- stern erschienen war (13, 93–95). Folglich musste auch der Rückweg etwa genauso viel Zeit in Anspruch nehmen35. Das Gespräch am Olymp, die Verwandlung des Schiff es in einen Fels durch Poseidon, die Opfer von Alkinoos und den phäakischen Ältesten folgen kettenweise aufeinander. Dann liest man, (185–187): ὣς οἱ μέν ῥ’ εὔχοντο Ποσειδάωνι ἄνακτι δήμου Φαιήκων ἡγήτορες ἠδὲ μέδοντες, ἑσταότες περὶ βωμόν. ὁ δ’ ἔγρετο δῖος ᾿Οδυσσεὺς… In der Mitte von Vers 187 springt der Dichter nach Ithaka und off ensichtlich auch in der Zeit zurück. Die Ereignisse auf Scheria und Ithaka (und auf dem Peloponnes, wo sich zu действия; рассказать оба поэт в силу нашего закона не может; поэтому он рассказывает лишь первое обстоятельство, а второе подготавливает настолько, что мы получаем возможность о нем догадаться». 34 Hierzu: Rengakos 1995, 6–7; 18; 1998, 56; 62–65; zum 2. Beispiel: Id. 2004, 281. 35 Die Vorstellung, dass Odysseus während der Ereignisse auf Scheria die ganze Zeit schläft (Tsagara- kis 2001, 364), ist demnach irrtümlich. 12 Philologia Classica. 2016. Vol. 11. Fasc. 1 dieser Zeit Telemachos befi ndet) entfalten sich also in der tatsächlichen Darstellung räum- lich und zeitlich nebeneinander. Mithin steht fest, dass Zielinskis Gesetz der Kritik nicht standhalten kann: Die Han- dlungslücken können weginterpretiert und die gewählte Darstellungsordnung gerechtfer- tigt werden; Parallelszenen kommen dann vor, wenn es dem Epiker künstlerisch opportun erscheint36; die Handlung kann zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren und den gleichen zeitlichen Abschnitt erneut durchlaufen. Wenn Homer einfach nur ungern Gleichzeitiges zeigt, unterscheidet er sich mit dieser Präferenz nicht grundsätzlich von der Literatur der Neuzeit. Hat also Zielinski nichts entdeckt? Basiert die Überzeugung des Schülers von Wil- helm Wundt37, dass die Kunstpsychologie gesetzlich geordnet werden kann, auf trivialer Unaufmerksamkeit? Ist schließlich der homerische Umgang mit den zeitlich-räumlichen Parallelvorgängen „durchaus normal“? Das sollte man nicht ohne weiteres bejahen. Denn es lässt sich an der homerischen Erzählung in der Tat gelegentlich ein gewisser Mangel spüren, welcher bei den Modernen nicht zu bemerken ist. Auf dieses Defi zit wird in der Sekundärlit- eratur hingewiesen, wo über die dürft ige Gestaltung der Übergänge gesprochen wird38. Nur muss man sie genauer bestimmen. Zwar stellt Homer unproblematisch sowohl das Nach- als auch das Nebeneinander dar, verzichtet aber, selbst wo er dadurch das Verständnis wes- entlich erleichtern oder gar ein Missverständnis vermeiden könnte, auf die explizitere Koor- dinierung der Vorgänge. Das erste Beispiel, das Zielinski in seinem Sinne deutete, worauf Nünlist aufmerksam machte, bietet Il. 13, 185–205 u. 206–209. Im chaotischen Scharmützel um die Leiche des Imbrios, eines Verbündeten der Trojaner, wurde Amphimachos, der Enkel von Poseidon, durch einen Lanzenwurf Hektors getötet. Hektor will ihm nun den Helm vom Kopf reißen, wird aber von Aias zurückgedrängt. Die Leiche des Amphimachos tragen die Achäer weg vom Kampf; die beiden Aiantes bemächtigen sich auch des Körpers von Imbrios, wonach Oiliades κεχολωμένος ᾿Αμφιμάχοιο dem toten Feind den Kopf abschlägt, ihn wie ein Ball wirft und er schließlich vor Hektors Füßen in den Staub fällt (205). Danach folgt: καὶ τότε δὴ περὶ κῆρι Ποσειδάων ἐχολώθη υἱωνοῖο πεσόντος ἐν αἰνῇ δηϊοτῆτι, βῆ δ’ ἰέναι παρά τε κλισίας καὶ νῆας ᾿Αχαιῶν ὀτρυνέων Δαναούς, Τρώεσσι δὲ κήδεα τεῦχεν. Laut Zielinski muss καὶ τότε δὴ (206) Poseidon in die Nähe der Zelte versetzten. Daran hat Nünlist zu beanstanden, dass der Dichter erst mit βῆ δ’ ἰέναι (208) darüber berichtet, dass Poseidon den Kampfplatz verlassen hat. Sollte der Gott bereits im Vers 206 zu den Zelten abziehen, dann „müsste Vers 208 vorzeitig aufgefasst werden und bliebe ein ‘Ver- stoß’ gegen das Sukzessionsgesetz“39. Doch dass καὶ τότε δὴ … ἐχολώθη den Abgang Posei- dons signalisiert, ist unwahrscheinlich. Besonders schwierig wird der Fall dadurch, dass hier in der Parallelhandlung (Poseidon-Strang) gleich zwei durch eine Kampfszene get- rennte aufeinanderfolgende Vorgänge beschrieben sind: Off enbar wurde Poseidon zornig, 36 Das betrifft bspw. die Einzelkampfschilderungen, welchen das Gesamtbild des Kampfes vorausge- schickt wird: Latacz 1977, 78–82; Rengakos 1993, 32–33. Für die weiteren Beispiele der Synchronisierung s. Schadewaldt 1966, 97–98; Apthorp 1980, 2. 37 Biographisches hierzu: Gavrilov 2012, 29; Zielinski 2012, 69; 128. 38 S. bes. Seeck 1998, 143; vgl. Scodel 2008, 112 u. o. Anm. 30. 39 Nünlist 1998, 7 mit Anm. 12; vgl. Zielinski 1901, 424. Philologia Classica. 2016. Vol 11. Fasc. 1 13 als sein Enkel fi el; er würde den Kampf aber nicht verlassen, bevor nicht geklärt wäre, ob die Rüstung und der Leichnam des Amphimachos gesichert und die Leiche des Imbrios als unmittelbare Rache für den Tod des Achäers geschändet wurde. Der Logik nach müsste also der Zorn des Gottes (206) parallel zum Tod des Amphimachos (187) liegen und der Abgang (208) auf die Enthauptung des toten Imbrios (205) folgen. Allerdings will Homer die Handlungsordnung mit einem expliziteren Koordinationshinweis nicht präzisieren, sondern sagt καὶ τότε δὴ, um die beiden Stränge zu verknoten, und beschränkt sich auf sein übliches bloßes δ’(ὲ), um die Handlung mit Poseidon auf das andere Th eater hinüber- zutragen, ungeachtet der Wahrnehmungsschwierigkeit, die er damit für seinen Rezipienten schafft und die Zielinski aufspürte: Es entsteht nämlich der falsche Eindruck, dass Poseidon die Kampfszene bis zum Ende beobachtet und erst danach über den Tod des Amphimachos in Wut gerät. Die zweite derartige Episode aus demselben Gesang hat Nünlist bemerkt40: In 13, 650– 659 stirbt Harpalion infolge einer schrecklichen, durch den Pfeil des Meriones zugefügten Wunde; seine (nicht gewöhnliche) Wunde, sein Tod sowie die Abfahrt des Wagens mit seiner Leiche nach Troja, begleitet von den Mitkämpfern und dem Vater des Verstorbenen, werden geschildert. In den Versen 660–662 springt der Dichter zu Paris über, der nun mit seinem Schuss den Tod seines ehemaligen Gastgebers rächt: τοῦ δὲ Πάρις μάλα θυμὸν ἀποκταμένοιο χολώθη· ξεῖνος γάρ οἱ ἔην πολέσιν μετὰ Παφλαγόνεσσι· τοῦ ὅ γε χωόμενος προΐει χαλκήρε’ ὀϊστόν. Paris hat, entgegen der Auff assung von Nünlist, nicht sofort nach der Verwundung Harpalions zum Bogen gegriff en. Zunächst musste er wohl nachsehen, was mit dem Ver- wundeten und mit seiner Leiche getan wird. Homer hat die erste (passive) Reaktion des Paris, seinen Schmerz und Zorn, mittels τοῦ δὲ… ἀποκταμένοιο χολώθη zusammengepresst und die zweite, auf das Abfahren des Wagens folgende (aktive) Reaktion durch τοῦ ὅ γε χωόμενος unmittelbar daran angeknüpft , abermals ohne zu berücksichtigen, dass mithin das Ganze so aussieht, als ob der Zorn des Paris erst hervorbreche, nachdem er das Abfahren des traurigen Zuges bezeugt hat. Der mangelhaft e Koordinationsausdruck, m. a. W. das „äußerste Zurückhalten“, wel- ches Homer von den „normalen“ Erzählern unterscheidet und seinen modernen Lesern die Lektüre manchmal erschwert41, fällt auch bei der Verzahnung längerer Parallelvorgänge auf. Das lässt sich u. a. anhand der oben bereits angeführten drei Beispiele von Od. 15, 24 und 13 veranschaulichen: 1. Zweifelsohne verlaufen die Telemachie und die eigentliche Odyssee synchron zueinander42. Aber ab wann? Der Dichter hat uns wenig geholfen, dieses ‘Ver- zahnungsmoment zu erblicken. Mit 14, 439–440: ἡ μὲν ἔπειτα / ἐς Λακεδαίμονα δῖαν ἔβη μετὰ παῖδ’ ᾿Οδυσῆος wird die Schwierigkeit nicht aufgehoben. Wir müssen logischerweise annehmen, dass Athene ihren Liebling am ersten Tag, den Odysseus bei Eumaios verbrachte, beschützte, ihn, erst als er sich schlafen legte, verließ und sich zu seinem Sohn begab. Aber der falsche Eindruck, dass sie sich nach dem Gespräch mit Odysseus gleich nach Sparta 40 Ibid.; vgl. Scodel 2008, 122. 41 Mit vollem Recht spricht in diesem Zusammenhang Seeck 1998, 143 von einer „zeitlichen Doppeldeutigkeit“. 42 Dadurch wird der lange Aufenthalt von Telemachos in Sparta verursacht: Apthorp 1980, 10. 14 Philologia Classica. 2016. Vol. 11. Fasc. 1 aufmachte, wird durch nichts (auch nicht durch ἔπειτα) ausgeräumt. 2. Die zweite Nekyia liegt parallel zu den sonstigen Ereignissen des 22. und 23. Gesangs der Odyssee. Aber wann genau fi ndet sie statt? Nach dem Abschluss des 23. Gesang sagt der Dichter rücksichtslos: ῾Ερμῆς δὲ ψυχὰς Κυλλήνιος ἐξεκαλεῖτο / ἀνδρῶν μνηστήρων· (24, 1–2). Also spielt sich die Hades-Szene simultan zu der vorherigen langen Penelope-Szene ab? Und was geschah mit den Seelen der Freier gleich nach dem Tod? Hatte Hermes keine Zeit für sie? Oder ist der Dichter mit diesem δὲ etwas weiter in die Vergangenheit, zu den Ereignissen des 22. Gesangs zurückgekehrt? 3. Odysseus erwachte an der Küste von Ithaka etwa zur gleichen Zeit, als das Schiff der Phäaken zurück nach Scheria fuhr. Doch wenn nach der Massenszene der Opfer- ung auf Scheria ὁ δ’ ἔγρετο δῖος ᾿Οδυσσεὺς steht, so wird der Leser in Verlegenheit gebracht. Schlief vielleicht Odysseus länger oder fuhr das phäakische Schiff schneller, als zu vermuten ist? Die oppositive Partikel genügt abermals nicht, man braucht einen präziseren Hinweis. Vielleicht ist das Epos bei der erzählerischen Gestaltung der Handlungsnähte per se wenig fl exibel. Apollonios von Rhodos jedoch versteht es, obwohl er nach homerischem Muster schafft (und ihm in vielem nachsteht), die Zeitabfolge begreifl icher zu machen. Die Handlung der Argonautika ist wesentlich einheitlicher als die der homerischen Epen; Paral- lelvorgänge gibt es selten; sie sind nicht handlungsprägend43. Wenn der Dichter verschie- dene Handlungsstränge darstellt und den Leser in Raum und Zeit zurückversetzt, fi ndet er dafür bessere Hilfsmittel. Zwei Beispiele: 1. Nach dem Gespräch im Palast des Aietes kehren Jason und seine Begleiter zu ihrem Schiff zurück und besprechen, wie der Held den Auft rag des Königs erfüllen könnte; sie rudern dann das Schiff aus der sumpfi gen Flussmündung heraus und vertäuen es an dem off enen Ufer. Anknüpfend steht αὐτίκα δ’ Αἰήτης ἀγορὴν ποιήσατο Κόλχων (3, 576); im Weiteren wird die Rede des Königs wiedergegeben. Hier be- deutet αὐτίκα nichts anderes, als dass Aietes sofort nach dem Abgang Jasons den Rat der Kolcher einberufen hat44. 2. Medea begibt sich zu den Argonauten, sie und Jason stehlen das Vlies, tragen es auf das Schiff ; das Schiff wird fl ussabwärts fortgerudert. Dann wechselt die Kulisse: ἤδη δ’ Αἰήτῃ ὑπερήνορι πᾶσί τε Κόλχοις / Μηδείης περίπυστος ἔρως καὶ ἔργ’ ἐτέτυκτο (4, 212–213); die Kolcher machen sich bereit, die Flüchtigen zu verfolgen. Mit ἤδη wird ungefähr auf den Zeitpunkt zurückgegriff en, als das Vlies gestohlen wurde. Festzustel- len ist, dass sich Apollonios mehr um den Synchronisierungsausdruck kümmert als Homer. Er wiederholt bspw. dreimal, dass das Schiff der Söhne von Phrixos kurz nach der Abfahrt unterging: Somit ist klar, dass die Argonauten sie unmittelbar vor der Ankunft nach Kolchis gerettet haben (2, 1189–1191; 3, 319–320; 340–343). Bei Vergil wechseln die Stränge oft ; dabei bringt er die Handlungskoordination präziser zum Ausdruck. Er macht es auch viel natürlicher als Apollonios, geschweige denn Homer. Die Koordinierung der Ereignisse wird am häufi gsten durch einen Korrelativsatz verwirk- licht, der die Vorgänge zeitlich und räumlich genau situiert. Z. B. geht der Dichter nach der Schilderung der Leichenspiele zu Ehren von Anchises zum Schiff sbrand über, den die tro- 43 Wie es bei Homer der Fall ist: Rengakos 2004, 296. 44 Vgl. Hunter 2002, 159 (mit Verweis auf Fusillo 1985, 2): „Aietes’ assembly follows straight on from his dismissal of the embassy in 438. Th ree simultaneous actions are described: Medea’s emotions (443–471), planning by the Argonauts (472–575) and Aietes’ plans (576–608). Such complexity is quite un-Homeric“. Rengakos 2004, 297 sieht hier sogar vier gleichzeitige Handlungen (inkl. die der Chalkiope: 3, 449–50; 609–615), die „sehr kunstvoll ineinander verstaсhelt werden“. Homer ist (Hunter entgegen) durchaus fähig mehrere simultane Handlungen zu schildern. Was aber tatsächlich bei Apollonios „nicht Homerisch“ anmutet, ist die Unzweideutigkeit der Parallelität: Die gleichzeitigen Vorgänge werden derart in die Erzählung eingesetzt, dass dem Leser ihre Gleichzeitigkeit off ensichtlich ist. Philologia Classica. 2016. Vol 11. Fasc. 1 15
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