1
Am erstaunlichsten fand sie hinterher, dass sie gar nicht geweint hatte. Kein bisschen. Nicht eine winzige Träne hatte sie vergossen. Und das, obwohl Theodora, genannt Theo und ihres Zeichens viel schaffende Künstlerin, doch sonst so nah am Wasser gebaut hatte. Und waren die Schleusen erst mal geöffnet, gestikulierte sie normalerweise wild herum, schmiss sich schluchzend aufs Sofa, schrieb düstere Gedichte und malte dramatische Bilder mit Farbklecksen, die Blutspritzern in einer grausigen Mordszene glichen. Nicht, dass Theo tage- oder wochenlang vor Weltschmerz zerfloss, dazu war sie nicht der Typ. Aber sie fand, mit dem Weinen war es genauso wie mit dem Drang, zur Toilette gehen zu müssen?: Wenn man nötig musste, sollte man es sich nicht verkneifen, das war ungesund.
Aber dieses Mal – nichts.
Nicht mal, als Michael, ohne sich noch einmal umzusehen, mitsamt seinen Koffern zur Tür ihres gemieteten Häuschens hinausspaziert war. Keine Träne, kein Schluchzen, kein Schniefen.
Gar nichts.
Kaltgelassen hatte sie es nicht, im Gegenteil. Natürlich war sie erschüttert. Drei Jahre lang war sie mit diesem Mann zusammen gewesen, sie hatte nicht nur London den Rücken gekehrt, sondern auch ihren Freundinnen – na ja, der einen, die sie hatte?: Imelda. Aber Imelda zählte quasi für zwanzig. Theo hatte ihr bisheriges Leben und ihr Zuhause aufgegeben, damit Michael seinen Traum leben, damit er wieder nach Cornwall ziehen konnte, denn dort war er geboren, dort waren seine Freunde, seine Familie und sein Zuhause. Dieser Mann, für den sie alles hinter sich gelassen hatte, war nun mir nichts, dir nichts aus ihrem Leben verschwunden.
Er hatte sie in dieser neuen und immer noch fremden, gewöhnungsbedürftigen Umgebung alleingelassen.
Mutterseelenallein.
Nun gut, es hatte auch Vorteile, dass sie nichts, aber auch gar nichts an diesem Ort festhielt. Sie könnte sich jederzeit verkrümeln, und vielleicht wäre es vernünftig gewesen, nach London zurückzuziehen, vom unmittelbar bevorstehenden Verkauf ihrer Drei-Zimmer-Traumwohnung in Camden zurückzutreten und sich dort wieder einzurichten, in ihrer alten Wohnung und ihrem alten Leben, genau wie früher, nur eben ohne Michael.
Aber ganz so einfach lagen die Dinge nicht, denn inzwischen schlug Theos Herz für Cornwall. Sie liebte die wilde, unfassbar malerische Küstenlandschaft, sie liebte dieses irgendwie schräge Dorf, in dem sie wohnte, mitsamt seinen merkwürdigen Bewohnern, die sie mit misstrauischer Neugier beäugten, wenn sie, farbbekleckst wie sie war, ihre Staffelei vom Hafen bis ganz oben auf die Klippen schleppte. Und sie liebte Otter Cottage, das schöne, urige Haus gleich neben dem von ihnen gemieteten Häuschen. Als es vor zwei Wochen ganz unerwartet zum Verkauf stand, hatte Theo Michael buchstäblich angefleht, es als ihr zukünftiges, dauerhaftes Zuhause in Erwägung zu ziehen.
Zum Haus gehörte ein schöner, nicht einsehbarer Garten, und die Küche war riesig. Ein Oberlicht aus buntem Glas sorgte dafür, dass in dieser Küche mittags, wenn die Sonne am höchsten stand, ein prachtvolles Farbenspiel entstand wie im Innern eines Kaleidoskops. Dazu gab es einen großzügigen Raum im Dachgeschoss mit Blick aufs Meer. Er würde ein perfektes Atelier abgeben. Theo malte wunderschöne Landschaftsaquarelle, die sich glücklicherweise sehr gut verkauften.
So gut, dass sie sich aus eigener Kraft ein Haus kaufen konnte und dabei nicht auf irgendeinen Idioten angewiesen war, der sie ohne jede Vorwarnung oder Erklärung wieder verlassen würde.
Also fackelte sie nicht lange und kaufte Otter Cottage.
Ihr neues Zuhause.
Ganz allein.
2
Jonas Larsson war eher der rationale Typ. Nicht, dass er immer nur komplett auf Nummer sicher ging, aber wenn er wichtige Entscheidungen traf, investierte er für gewöhnlich ein Quäntchen Hirnschmalz.
Er hatte in seinem Leben eigentlich erst einmal so richtig impulsiv gehandelt – nämlich als er Natalie nach nur vier Monaten Beziehung einen Heiratsantrag gemacht hatte. Und das war ein voller Erfolg gewesen.
Und darum glaubte er auch an den Erfolg seiner heutigen Impulsiventscheidung. Das Ergebnis saß neben ihm auf dem Beifahrersitz. Na ja, sitzen war nicht ganz das richtige Wort. Es stand mit den Vorderpfoten auf der Armlehne und streckte den Kopf aus dem halb geöffneten Fenster. Die Zunge schlabberte aus dem Maul, und die Ohren flatterten im Wind.
Und er lächelte. Also, der Hund. Wirklich. Ein echtes Hundelächeln. Toll.
Jonas musste auch lächeln. Gleichzeitig zeichnete sich auf seiner Stirn aber immer noch eine steile Falte ab. Sie war Zeichen seiner eigenen Verwunderung über diese Aktion.
Er war in der Mittagspause zum Hundeheim gefahren, um dort ein paar Dosen Futter und ein paar Kauspielzeuge abzugeben, die seine Großmutter Blix gesammelt hatte. Blix tat unentwegt Gutes, und diesen Monat ließ sie es dem örtlichen Hundeschutz-Verein Dorset's Destitute Dogs angedeihen.
Nachdem Jonas seine Schuldigkeit getan hatte, setzte er sich auf dem Parkplatz bei offener Autotür in seinen Wagen, aß ein Sandwich und genoss die warme Septembersonne. Da kam auf einmal ein Fellbündel ins Auto geflogen, schlug ihm das Sandwich aus der Hand und verschwand unter Jonas' Jacke. Wozu einiges gehörte, denn das fliegende Fellbündel war nicht gerade der kleinste Hund der Welt.
»?Sag mal, was . . . !???!?«, rief Jonas perplex.
An der offenen Wagentür erschien eine hypernervöse Frau.
»?Oje, tut mir wahnsinnig leid. Raus mit dir?! RAUS?!?«, befahl sie dem Hund.
Der wühlte sich nur noch weiter unter Jonas' Jacke.
Frustriert schüttelte sie den Kopf.
»?Hunde und ihr sechster Sinn . . .?« Sie warf einen Blick auf das Hundeheim. »?Wir wollen ihn nämlich hier abgeben, wissen Sie . . . das merkt er natürlich.?«
»?Ach so . . .?« Jonas wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. »?Tut mir leid?«, war alles, was ihm einfiel.
Die Frau verzog das Gesicht.
»?Uns auch, um ehrlich zu sein, dabei gehört er eigentlich nicht mir, sondern meiner Mutter. Sie hat wieder geheiratet, und ihr neuer Mann ist allergisch, er liebt Hunde abgöttisch, aber er kann sie einfach nicht ab, kriegt jedes Mal ein Gesicht wie 'ne aufgeblasene Tomate, wenn er auch nur in seine Nähe kommt. Er ist total traurig, dass er den Hund weggeben muss, und mich macht es auch ganz fertig, dass wir ihn hierlassen müssen, aber wir können ihn nicht behalten. Zwei Kinder unter drei?« – sie deutete auf den Rücksitz ihres Wagens, wo ein kreischendes Kleinkind gerade ein plärrendes Baby mit einem Kuscheltier bearbeitete – »?das passt nicht so richtig, und die beiden allein sind schon anstrengend genug.?«
»?Das sehe ich.?«
»?Meine Mutter hatte ihn bloß zu sich genommen, weil ihre Nachbarin ihn nicht behalten konnte.?« Mitleidig sah sie den Hund an, der sich nicht von Jonas' Schoß rührte. »?Armer kleiner Bursche, ist erst sechs Monate alt und hatte schon vier verschiedene Herrchen und Frauchen.?«
»?Vier???«
»?Na ja, die Nachbarin meiner Mutter, Mrs Powers, hatte ihn ja von ihrer Freundin Mrs Baker, weil die jemanden kennengelernt hat und nach Spanien gezogen ist, und davor war er im Tierheim. Meine Mutter hat ihn dann Mrs Powers abgenommen, als die nach Australien gegangen ist, zu ihrer Tochter Lauren . . . also, eigentlich hat sie da auch jemanden kennengelernt . . . Los, komm, raus mit dir . . .?« Sie schwenkte die Leine, aber ohne Erfolg.
Jonas spürte, wie der Hund sich wieder bewegte, doch unter seiner Jacke schaute lediglich ein buschiger Schwanz hervor, und der zeigte sich auch nur, weil das Tier sich tiefer in die dicke Winterjacke eingrub. Die Hundekrallen bohrten sich dabei noch fester in den Stoff seiner Jeans.
Um ihn von Jonas' Schoß hinunterzubekommen, hätte man ein Brecheisen gebraucht.
»?Wie heißt er denn???«
»?Dylan. Wie in Das Zauberkarussell, wissen Sie, diese Zeichentrickserie.?«
Als er seinen Namen hörte, bewegte sich der Hund erneut, und aus der Finsternis des Jackeninneren blinzelten zwei riesige dunkle Augen hervor und lugten zu Jonas hoch.
Der Hund zitterte wie Espenlaub und presste sich so fest an Jonas, dass dieser seinen Herzschlag spüren konnte. Rasend schnell, schneller noch als der Beat der Musik, die aus seiner Stereoanlage dröhnte. Und er hörte gerade The Prodigy.
»?Und dabei ist er so ein liebes Kerlchen, so freundlich . . . keine Ahnung, wie ihm das hier bekommen wird, aber es ist ja hoffentlich nicht für lange . . .?«, sagte sie und seufzte tief.
»?Alles ist gut, Dylan.?« Jonas schaute auf den Hund hinunter und bemühte sich, beruhigend zu klingen.
Es musste wohl geklappt haben, denn der Schwanz, der unter seinem Jackensaum hervorlugte, wedelte schwach. Und dann kamen die Worte einfach aus Jonas' Mund gepurzelt, ohne dass sein Hirn, die Vernunft oder irgendwelche Denkprozesse beteiligt gewesen wären und ohne dass er die Folgen erwogen hätte. Diese Worte, die Jonas selbst überraschten, mussten auf direktem Wege von Herzen gekommen sein.
»?Und wenn ich ihn nun nehmen würde?? Was würden Sie dazu sagen???«
Die Frau sah ausgesprochen unsicher aus.
»?Also, verstehen Sie mich jetzt bitte nicht falsch, aber ich weiß doch gar nicht, wer Sie sind . . . gut, das da ist auch nicht gerade ideal?«, sie deutete auf das Hundeheim, »?aber hier wird man ihm auf jeden Fall ein richtig gutes Zuhause suchen – nicht, dass Sie ihm kein gutes Zuhause bieten würden, wie gesagt, aber es ist doch einfach so, dass wir uns überhaupt nicht kennen . . .?« Verlegen verstummte sie, aber Jonas nickte verständnisvoll, und nachdem es ihm gelungen war, eine Hand unter dem unverrückbar an ihn gedrückten Hund hervorzuziehen, streckte er sie der Frau entgegen.
»?Jonas Larsson. Ich habe einen großen Garten, – noch – keine Kinder, und ich arbeite meistens zu Hause. In meiner Freizeit gehe ich am liebsten runter an den Strand, und ich liebe Hunde.?«
Sie runzelte die Stirn. »?Jonas Larsson?? Sie sind doch nicht etwa . . . sind Sie vielleicht irgendwie mit Blix Larsson verwandt???«
Jonas grinste. Er scherzte immer, dass seine Großmutter bekannt war wie ein bunter Hund, und vielleicht lag er damit gar nicht so ganz falsch.
»?Bin der Enkel.?« Jonas lächelte sein schönstes »?Ich bin ein normaler, anständiger Mensch, und Sie können mir absolut vertrauen?«-Lächeln und fügte hinzu?: »?Und wenn Sie mir Dylan überlassen, verspreche ich Ihnen, dass ich sein fünftes und letztes Herrchen sein werde.?«
»?Blix bringt meiner Tante Clare immer das Essen auf Rädern.?« Als die Frau lächelnd nickte, wusste Jonas, dass sie einverstanden war.
Dylan wagte sich erst aus seinem Unterschlupf hervor, nachdem die Frau sein Körbchen und einen Karton mit Näpfen und Futter in Jonas' Kofferraum umgeladen hatte und dann mit ihren beiden Schreihälsen weggefahren war.
Jonas hätte schwören können, dass Dylan irgendwie erleichtert guckte, als ihr Wagen verschwunden und außer Sichtweite war.
Er selbst guckte, wie er im Rückspiegel bemerkte, leicht schockiert und ziemlich besorgt.
Was Natalie wohl sagen würde, wenn er mit einem Hund nach Hause kam??
Jonas hoffte auf ein freudiges »?Hurra?«.
Doch in Wahrheit hatte er keine Ahnung, was sie eigentlich von Haustieren hielt. Er selbst wünschte sich schon eine ganze Weile einen Hund, aber darüber hatte er mit Natalie noch nicht gesprochen. Manchmal fragte er sich, wie gut er seine zukünftige Ehefrau eigentlich kannte. Er hatte ihr nach nur vier Monaten Beziehung einen Heiratsantrag gemacht, was ihn mindestens genauso sehr überrascht hatte wie sie.
Eine »?völlig unüberlegte Schwachsinnsaktion?«, wie Wilko, sein bester Freund, gern sagte.
Jonas musste zugeben, dass er in dem Moment zwar betrunken gewesen war, aber dennoch genau wusste, was er tat. Eigentlich hatte er ihr nur sagen wollen, wie schön sie war – und als der Mund dann aufging, kam diese Frage heraus, und urplötzlich hatte er das Gefühl, es sei die einzig richtige.
Jonas kannte Natalie über ihre Eltern, die ihn mit dem Einbau einer neuen Küche beauftragt hatten. Natalie war auf einen Kaffee zu ihrer Mutter gekommen und dann bald jeden Tag zum Kaffee erschienen, bis die Küche fertig war.
Jonas war nie bewusst gewesen, wie abschreckend sein gutes Aussehen normalerweise auf Frauen wirkte. Sie schmachteten ihn lieber aus sicherer Entfernung an, weil eine Sahneschnitte wie er sich vor Frauen sicher gar nicht retten konnte und darum entweder ein Arschloch war oder sich ausschließlich mit Frauen verabredete, die vom Aussehen her mindestens mit Cindy Crawford mithalten konnten.
Aber Natalie war da ziemlich schmerzfrei und hatte ihn umworben. Das war für Jonas eine neue, ungewöhnliche Erfahrung gewesen – eine, die ihm schmeichelte, wie er einräumen musste. Natalie war umwerfend charmant, kokett, sexy und witzig gewesen. Und sie war einfach anders. Intelligent, zielstrebig. Eine Herausforderung. Und Jonas stand auf Herausforderungen.
Den Heiratsantrag hatte er ihr gemacht, als sie ein Wochenende an der Küste von Devon verbrachten. Jonas liebte die Gegend, er war schon oft dort gewesen.
Sie hatten in einem kleinen Pub direkt am Meer zu Abend gegessen. Das Essen war gut und der Wein noch besser gewesen und der Abend insgesamt so wunderschön und intensiv, dass sie wünschten, er möge niemals enden. Als der Pub um Mitternacht schloss und sie nach draußen torkelten, schimmerte das Licht des Vollmondes auf der weiten Wasserfläche.
An diesem Strand hatte Jonas' Vater um die Hand seiner Mutter angehalten.
»?Wollen wir spazieren gehen???«, flüsterte Jonas, und Natalie nickte lächelnd. Das Lächeln entwickelte sich zu einem fröhlichen Lachen, sie nahm ausgelassen seine Hand und rannte kichernd und atemlos mit ihm zum Wasser, bis sie sich abermals lachend und vom Alkohol übermütig umarmten und auf den feuchten Sand fallen ließen.
Jonas hatte Natalie geküsst, und als er sich von ihr löste, strahlten ihre Augen so hell wie die Sterne am schwarzen Himmel über ihnen.
Und da waren die Worte einfach so aus seinem Mund gepurzelt.
»?Heirate mich.?«
Er war nicht einmal sicher, ob er sie wirklich selbst ausgesprochen hatte.
Wilko hatte später gewitzelt, Natalie habe Jonas wahrscheinlich in der Nacht davor im Hotel leise immer wieder eine Nachricht an sein Unterbewusstsein vorgespielt?: »?Du wirst mir einen Heiratsantrag machen, du wirst mir einen Heiratsantrag machen?«, hatte Wilko mit dümmlicher, vermeintlich hypnotisierender Stimme gewispert, immer wieder, bis Jonas sich gezwungen gesehen hatte, ihn auf den Fußboden der Werkstatt zu drücken und ihm den Mund mit einem breiten Streifen Kreppband zuzukleben.
»?Ich habe sie gefragt . . . es war einfach der perfekte Moment.?«
»?Ja, ein perfekter Moment für eine Schwachsinnsaktion, die Folgen für den Rest deines Lebens haben wird.?«
Seitdem war ihre Beziehung wie der Lauf hinunter zum Meer gewesen?: ein atemloser, verrückter Spurt mit nur einem Ziel vor Augen. Die Hochzeitsvorbereitungen brachen wie eine Flutwelle über Jonas herein, und er beschloss, auf ihr mitzureiten und den Wellenritt so gut es ging zu genießen.
Noch wohnten sie nicht zusammen.
Das war das Einzige, worauf Natalie nicht gedrängt hatte.
Jonas' Schwiegereltern in spe waren recht altmodisch, und Jonas vermutete, Natalies Zurückhaltung habe damit zu tun. Außerdem hatte sie immer wieder mehr als nur angedeutet, dass sie sich ein »?gemeinsames Zuhause?« wünschte, einen gemeinsamen wohnlichen Neuanfang. Das bedeutete vermutlich, dass sie nicht zu ihm in sein Cottage ziehen wollte und sie letztlich von ihm erwartete, dass er dort ausziehen würde.
Das könnte problematisch werden.
Jonas mochte sein Cottage. Es war urig. Um von einem Zimmer ins andere zu kommen, musste man immer ein paar Stufen hoch- oder runtergehen. Von seinem Bett aus konnte er das Meer sehen. Er konnte zu Fuß an den Strand gehen. Und der Pub im Ort war klasse.
Natalie wohnte in einem Neubaugebiet weiter landeinwärts. Ihre Wohnung war ein schickes Loft, und Jonas wusste, dass Natalie ein Auge auf eins der großen Einfamilienhäuser in der nächsten Straße geworfen hatte, das ihn wiederum überhaupt nicht reizte. Vielleicht sollten sie es machen wie so viele andere glückliche Paare und einfach getrennt wohnen?? Vielleicht war das ja die richtige Lebensform für sie?? Jonas mochte es, vom Mainstream abzuweichen, Uniformität war nicht sein Ding. Wenn er es sich recht überlegte, waren Natalie und er in so vielen Punkten so unterschiedlich, dass er sich fragte, wie sie das in ihrer Ehe zusammenbringen wollten.
Natalie liebte alles, was neu war – er liebte alles, was alt war. Natalie war stets tadellos gekleidet, trug insbesondere zur Arbeit immer die angesagtesten Designerklamotten – Jonas lebte in Jeans und Pullovern. Sie fuhr ein nagelneues, schnittiges BMW-Coupé, während Jonas, wenn er nicht gerade in seinem Lieferwagen Material transportierte, in einem MG Roadster herumkurvte. Der Oldtimer klapperte, wo er nicht klappern sollte, die Beifahrertür ließ sich nur öffnen, wenn es ausnahmsweise mal nicht geregnet hatte, und im Moment machte es sich auf dem Beifahrersitz ein mittelgroßer, ziemlich zottiger Hund gemütlich, der den Wuschelkopf zum Fenster rausstreckte und lächelte.
Und genau diesen Hund hatte Jonas soeben adoptiert.
In diesem Moment wünschte er sich, dass Natalie und er bei allen Unterschieden letztlich die gleiche Wellenlänge hatten, wenn es darum ging, ein behaartes Wesen in ihr Leben aufzunehmen.
3
Die Koffer erklärten zwar hinreichend, was Michael vorhatte, doch warum er auszog, erklärten sie nicht.
Einen Moment lang war er in der Tür stehen geblieben, als wolle er etwas sagen. Hatte den Mund aufgemacht. Und wieder geschlossen. Hatte sich auf die Unterlippe gebissen, bis sie weiß wurde.
Theo hatte es sich gerade für ihr ultimatives Entspannungsprogramm mit ihrer Lieblingsserie Coronation Street auf dem Sofa gemütlich machen wollen und erstarrte.
Als sie Michael nicht mehr länger ansehen konnte, hatte sie den Blick auf seine Koffer geheftet.
Michael war ihrem Blick gefolgt. Ihm war klar, dass sie das Gepäck bemerkt und seine Bedeutung erkannt hatte.
Trotzdem hatte er kein Wort herausgebracht.
Also hatten sie einfach eine gefühlte Ewigkeit lang reglos in ihren jeweiligen Stellungen verharrt.
Er hatte geschwiegen, sie hatte geschwiegen, beide hatten auf die blöden Koffer gestarrt. Auf dieselben Koffer, die er erst zwei Monate zuvor ganz begeistert gepackt hatte, um zusammen mit Theo zurück in seine alte Heimat zu ziehen.
Es war vollkommen unwirklich gewesen.
Aber das Schrägste war, dass Theo in diesen Augenblicken dachte?: Wenn er wirklich gehen will, dann soll er sich doch bitte beeilen, damit ich in Ruhe Coronation Street gucken kann.
Und da hatte er endlich gesprochen.
»?Theo.?«
Nur dieses eine Wort. Ihren Namen.
Dann wieder Schweigen.
Und ein paar Herzschläge später sogar?: »?Theo, ich . . .?«
Bei »?ich?« gelang es Theo, den Blick von den Koffern loszureißen. Sie richtete die Fernsteuerung auf den Fernseher und stellte ihn auf volle Lautstärke.
Sekunden später war Michael weg. Die plärrende Erkennungsmelodie und Theos eisiges Schweigen hatten ihn davor bewahrt, sich äußern zu müssen. Als sie endlich allein war, holte sie sich noch schnell ein Glas Wein und eine große Tafel Schokolade. Seit Michael den Blick immer gleich auf ihren Hintern gerichtet hatte, sobald sie nach etwas Süßem schielte, hatte sie sich bemüht, die Finger davonzulassen.
Als die Folge vorbei war, schenkte Theo sich den Rest aus der Weinflasche ein und sah sich einen Schmachtfetzen an, den Michael niemals hätte ertragen können. Danach ging sie ins Bett, fiel in einen tiefen Schlaf, und am Morgen wachte sie auf wie ein Seestern, Arme und Beine in alle Richtungen weit ausgestreckt.
Trotz der Ereignisse am Vorabend hielt sie sich an ihren gewohnten Tagesablauf. Aufstehen, im Atelier arbeiten, bis ihr Magen sich meldete, dann frühstücken, dann raus an die frische Luft. Sie unternahm ihren üblichen Spaziergang zum Hafen und hoffte auf diese Weise, die Benommenheit loszuwerden, die sie plagte.
Irgendwie kam ihr das Dorf heute anders vor. Doch Theo war klug genug, um zu durchschauen, dass nicht das Dorf sich verändert hatte, sondern sie. In Port Ruan war an diesem Vormittag wahrscheinlich alles genauso wie sonst – nur ihr eigenes Leben war heute völlig anders als gestern.
Am Hafen setzte sie sich auf die alte Mauer, ließ die Beine über dem Wasser baumeln, das etwa sechs Meter unter ihr schäumte, und schaute über die Flussmündung hinüber zum anderen Ufer, wo die schöne alte Hafenstadt Quinn lag.
In der Ferne konnte sie das übliche Treiben von Booten und flanierenden Touristen ausmachen. In großen Scharen erkundeten die Touris Sehenswürdigkeiten und Geschäfte und hofften, dabei einen der zahllosen Promis zu erspähen, die in Quinn ihren Zweitwohnsitz hatten.
Michael und sie hatten vorgehabt, am heutigen Abend in Quinn essen zu gehen.
»?Michael ist weg?«, sagte Theo laut. Sie hoffte, es würde irgendeine Reaktion bei ihr auslösen, wenn sie diese Worte hörte, anstatt sie bloß zu denken.
Sie wusste nicht recht, wie es ihr eigentlich ging. Sie fühlte sich zerrissen. Und irgendwie taub. Vielleicht berührte sie das alles deswegen so wenig. Vielleicht stand sie unter Schock. Oder übertrieb sie jetzt maßlos??
»?Michael ist weg.?« Theo sagte es noch einmal.
Als würde sie mit einem Finger vorsichtig einen schlafenden Hund anstupsen.
»?Michael ist weg.?«
Sie stupste etwas heftiger.
»?Michael ist weg??!?«
Sie schubste wirklich unsanft.
Doch der Hund schlummerte weiter.
Was war nur mit ihr los???
Warum reagierte sie nicht heftiger??
Schließlich hatte Michael sie ohne jegliche Erklärung einfach sitzen lassen.
Na gut, sie hatte ihm ja eigentlich auch keine Gelegenheit gegeben, viel zu sagen. Aber wie konnte denn jemand, der auch nur einen Funken Respekt vor ihr hatte, ihr erst in dem Moment, in dem die Koffer bereits gepackt waren, nonchalant mitteilen, dass seiner Meinung nach in der Beziehung etwas nicht stimme??
Und dann sagte sie es noch einmal, und dieses Mal klang es anders.
»?Michael ist weg . . . aber das Leben geht weiter.?«
Und das war's.
Das war Theos Lösung.
Beschreibung Redaktion:
(source: Bol.de)