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Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands : Wie die Gegenwart die Vergangenheit beeinflusst PDF

44 Pages·2020·0.973 MB·German
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SWP-Studie Susan Stewart Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands Wie die Gegenwart die Vergangenheit beeinflusst Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 22 November 2020, Berlin Kurzfassung Die derzeitige russische Führung legt großen Wert darauf, die über Jahrhunderte hinweg bestehende Kontinuität der russischen und sowje- ∎ tischen Geschichte zu betonen. Historische Brüche sind in der offiziellen russischen Darstellung der eigenen Geschichte unerwünscht und negativ konnotiert. ∎ Gepflegt wird eine Kultur des Sieges, vor allem aufgrund der sowjetischen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, der in Russland »Großer Vaterlän- ∎ discher Krieg« genannt wird. Die russische Führung setzt historische Inhalte selektiv ein, um das Regime und seine Handlungen gegenüber der russischen Bevölkerung ∎ sowie externen Akteuren zu legitimieren. Der Wahrheitsgehalt historischer Botschaften ist zweitrangig im Ver- gleich zu der Frage, wie sie sich für Zwecke der politischen Legitimation ∎ gebrauchen lassen. Historische Inhalte werden insbesondere dazu genutzt, eine Verknüpfung zu heutigen politischen Entwicklungen herzustellen, zum Beispiel ∎ in der Ukraine. SWP-Studie Susan Stewart Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands Wie die Gegenwart die Vergangenheit beeinflusst Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit SWP-Studie 22 November 2020, Berlin Alle Rechte vorbehalten. Abdruck oder vergleichbare Verwendung von Arbeiten der Stiftung Wissenschaft und Politik ist auch in Aus- zügen nur mit vorheriger schriftlicher Genehmigung gestattet. SWP-Studien unterliegen einem Verfahren der Begut- achtung durch Fachkolle- ginnen und -kollegen und durch die Institutsleitung (peer review), sie werden zudem einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https:// www.swp-berlin.org/ueber- uns/qualitaetssicherung/. SWP-Studien geben die Auffassung der Autoren und Autorinnen wieder. © Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin, 2020 SWP Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Ludwigkirchplatz 3–4 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Fax +49 30 880 07-200 www.swp-berlin.org [email protected] ISSN 1611-6372 doi: 10.18449/2020S22 Inhalt 5 Problemstellung und Empfehlungen 7 Geschichtspolitik: Definition und Schwerpunkte 9 Umgang mit Kontinuität: Die ideale Geschichte ist ununterbrochen 9 Der Kontinuitätsdiskurs auf der rhetorischen Ebene 11 Betonung der Kontinuität auf der Handlungsebene 12 Die Verknüpfung von historischen Persönlichkeiten und dem fortdauernden Staat 14 Zwischenfazit 16 Umgang mit Brüchen: Unerwünscht und vom Ausland unterstützt 16 Die Revolutionen von 1917 18 Der Bürgerkrieg 1918–1921 und die gesellschaftliche Versöhnung 20 Revolutionäre Brüche und ausländische Einmischung 21 Zwischenfazit 23 Umgang mit Siegen: Krieg als Identitätsstifter 23 Offizielle Feierlichkeiten zum Gedenken an den Sieg 26 »Falsifizierung der Geschichte« 30 Einstellungen zu Josef Stalin 31 Stellenwert der Leningrader Blockade 32 Zwischenfazit 34 Schlussfolgerungen und Empfehlungen 37 Anhang 37 Relevante Akteure im Bereich der Geschichtspolitik 40 Abkürzungen Dr. Susan Stewart ist Leiterin (a. i.) der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Problemstellung und Empfehlungen Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands: Wie die Gegenwart die Vergangenheit beeinflusst Die letzten Jahre haben deutlich vor Augen geführt, dass und wie die politische Elite in Russland auf his- torische Themen zurückgreift. Der vorläufige Höhe- punkt dieser Bezugnahme auf geschichtliche Ereig- nisse wurde für den 9. Mai 2020 erwartet, da an dem Tag der Sieg über das nationalsozialistische Deutsch- land mit der traditionellen Militärparade zum 75. Mal gefeiert werden sollte. Zwar hat das Coronavirus die Verschiebung der Feier erzwungen, so dass sie erst am 24. Juni stattfinden konnte; aber die Hast Putins, die Parade nachzuholen, unterstreicht, wie wichtig der Rückgriff auf Geschichtsthemen für die russische Füh- rung ist. Außerdem demonstriert diese Entwicklung die Tendenz, solche Themen mit aktuellen innen- politischen Ereignissen zu verknüpfen. In diesem Fall leitete die Parade eine Woche ein, in der über wesent- liche Änderungen der russischen Verfassung abge- stimmt wurde, die unter anderem ermöglichen, dass Putin 2024 erneut für das Präsidentenamt kandidiert. Gleichzeitig ist das Thema Zweiter Weltkrieg eng mit der russischen Außenpolitik verbunden. Auf dem Gipfel der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) im Dezember 2019 hielt Putin eine Rede, in der er vor allem Polen die Schuld am Beginn dieses Krieges zu- schrieb. Diese Rede hat eine Phase eingeleitet, in der sich die Beziehungen zu Polen aufgrund von Unter- schieden im historischen Diskurs rasant verschlech- tert haben. Zudem kann sie als Reaktion auf die Resolution des Europäischen Parlaments vom Septem- ber 2019 gelesen werden, die den Hitler-Stalin-Pakt verurteilt und sowohl kommunistische Regime als auch den Nationalsozialismus als totalitär bezeichnet und damit auf eine Stufe stellt. Mit seiner Rede ver- suchte Putin die Staatsoberhäupter der anderen ehemaligen Sowjetrepubliken für seine Geschichts- deutung zu gewinnen und gleichzeitig gegen vor- herrschende Interpretationen innerhalb der Euro- päischen Union (EU) vorzugehen. Im offiziellen russischen Diskurs über Geschichts- fragen sind vornehmlich drei Botschaften erkennbar: Erstens wird die russische und sowjetische Geschichte als ein langer Fluss von Ereignissen und Entwick- SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 5 Problemstellung und Empfehlungen lungen gesehen, der als einheitliches Ganzes zu ver- stehen ist und eine hohe Kohärenz aufweist. Zweitens werden Brüche in diesem Fluss negativ konnotiert. Insbesondere revolutionäre Ereignisse werden als schädlich und von externen Akteuren angestoßen dar- gestellt. Drittens wird Russland als eine Siegernation beschrieben. Dabei dient namentlich der Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« 1941–1945 als sinn- stiftend für den Zusammenhalt des russischen Volkes und dessen Identifikation mit dem russischen Staat. Wie mit diesen Botschaften umgegangen wird, zeigt, dass die Behandlung der Geschichte für die russische Führung innen- wie außenpolitische Funk- tionen erfüllt. Innenpolitisch soll sie die Legitimität des Regimes stärken und die Bevölkerung um das Regime konsolidieren. Außenpolitisch soll die Beschäf- tigung mit historischen Themen unterschiedliche Narrative unterstützen. Zu diesen gehören die Cha- rakterisierung Russlands als Großmacht sowie das Störpotenzial ausländischer Akteure, denen die Hauptverantwortung für Brüche in der russischen Geschichte zugeschrieben wird. Schließlich werden diese Botschaften häufig mit der aktuellen Politik verknüpft. Das heißt, Diskurse über historische Entwicklungen werden benutzt, um aktuelle politische Narrative zu untermauern. Dies gilt vor allem für die Entwicklung in der Ukraine, aber auch für die Beziehungen zu Polen und anderen EU-Mitgliedstaaten. In diesem Sinne dient die Ge- schichte als Instrument, das für heutige politische Zwecke einsetzbar ist. SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 6 Geschichtspolitik: Definition und Schwerpunkte Geschichtspolitik: Definition und Schwerpunkte* Im deutschen Sprachraum ist der Begriff »Geschichts- Idee kaum aufgegriffen. Diejenigen, die in Wissen- politik« gut etabliert, wenn auch nicht frei von Kon- schaft und Praxis mit dem Phänomen zu tun haben, troversen. Er umfasst laut dem deutschen Historiker nutzen in der Regel den Begriff »politika pamjati« und Professor für Kulturgeschichte Stefan Troebst (Erinnerungspolitik bzw. politics of memory). Das zum einen ein Forschungsfeld, zum anderen ein heißt, sie fassen es als vielgestaltig und facettenreich Politikfeld, das gekennzeichnet ist durch den Umgang auf; es beschränkt sich nicht nur auf die Handlungen politischer Akteure mit »historischen« Ereignissen, des Staates, sondern bezieht in der Regel auch private Orten und Persönlichkeiten, mit Ausstellungen zur Rituale oder zivilgesellschaftliche Veranstaltungen Geschichte, Gedenktagen und Ähnlichem. Dabei lasse mit ein. sich ein »qualitativer Unterschied zwischen demo- Insofern als sich diese Analyse auf die offizielle kratisch verfassten Gesellschaften […] und autoritär Geschichtspolitik konzentriert, liegt ihr Schwerpunkt bis diktatorisch verfassten Gesellschaften« aus- auf staatlichen Akteuren und auf solchen, die vom machen: In ersteren wirkten staatliche wie nichtstaat- Staat ins Leben gerufen bzw. von ihm unterstützt liche geschichtspolitische Akteure, in letzteren »[hat] werden.3 Die Akteure, die sich in Opposition zur offi- der Staat das Monopol auf Geschichtspolitik inne«.1 ziellen Geschichtspolitik befinden, stehen nicht im In Russland werden für das Phänomen, das in Fokus der Analyse. In diesem Sinne bildet in der Tat dieser Studie untersucht wird, verschiedene Begriffe »istoričeskaja politika« im Verständnis Aleksej Millers debattiert, sowohl von Wissenschaftlerinnen und das Zentrum der Untersuchung. Wissenschaftlern als auch von Aktivisten und Aktivis- Ein Blick auf den russischen Kontext zeigt, dass tinnen. Der russische Historiker Aleksej Miller hat historische Inhalte in vielen Politikfeldern präsent versucht, den Terminus »istoričeskaja politika« und relevant sind. Diese Studie analysiert ihrer drei: (Geschichtspolitik) in den russischen Diskurs einzu- die Bildungspolitik, die Kulturpolitik und die Außen- führen, um vor allem auf den offiziellen Umgang politik. Die Verknüpfungen zwischen Geschichte mit Geschichte hinzuweisen.2 Allerdings wurde diese und Außenpolitik sind zum Beispiel bei der völker- rechtswidrigen Annexion der Halbinsel Krim sowie bei den russischen Aussagen zu Polens Rolle im * Ich möchte Felix Krawatzek für seine sehr hilfreichen Zweiten Weltkrieg offensichtlich geworden. Dass Kommentare zu einer früheren Fassung des Textes herzlich Bildung(-spolitik) von grundlegender Bedeutung ist für danken. Auch Anastasia Vishnevskaya-Mann und Julia die Vermittlung historischer Sachverhalte, etwa Mierau bin ich für ihre Hilfe bei der Recherche und der durch Geschichtsunterricht, leuchtet ein. Es geht aber Formatierung des Manuskripts sehr dankbar. Zitate aus gleichermaßen um den Umgang mit Geschichts- englischsprachigen und russischsprachigen Quellen hat die Autorin übersetzt. wissenschaft und ihren Vertreterinnen und Vertre- 1 Stefan Troebst, »Geschichtspolitik«, 4.8.2014, <https:// tern. Kulturpolitik ist bei einer Analyse der Geschichts- docupedia.de/zg/Geschichtspolitik> (Zugriff am 24.10.2020). politik zu berücksichtigen, weil sie unterschiedliche Neben einer Geschichte des Begriffs findet sich hier eine Aktivitäten wie die Errichtung von Denkmälern, die hilfreiche Auseinandersetzung mit dem Begriff inklusive Gestaltung von Feiertagen und die Finanzierung von einschlägiger Literatur. Kunstformen zu historischen Themen beinhaltet. 2 Siehe zum Beispiel Aleksej Miller, »Rossija: vlast’ i istorija« [Russland: Macht und Geschichte], Polit.ru, 25.11.2009, <https://polit.ru/article/2009/11/25/miller/print/> 3 Detaillierte Informationen zu den hier behandelten (Zugriff am 24.10.2020). Akteuren sind im Anhang zu finden (S. 37ff.). SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 7 Geschichtspolitik: Definition und Schwerpunkte Ausgangspunkt der Analyse dieser drei Politik- felder ist die Frage, wie mit der Idee von historischer Kontinuität umgegangen wird, wie mit Brüchen in der Geschichte bzw. mit Siegen. Hierbei wird sowohl die Rhetorik führender russischer Politikerinnen und Politiker untersucht als auch Handlungen, die historische Inhalte vermitteln. Die geschilderten Beispiele stehen stellvertretend für allgemeine Ten- denzen in der russischen Geschichtspolitik. Auf dieser Grundlage wird der zentralen Frage dieser Studie nachgegangen: Welche Funktionen erfüllt die Geschichte für die russische Führung? Schließlich kann beurteilt werden, welchen Platz die Geschichts- politik in dem breiteren Rahmen der Innen- und Außenpolitik im heutigen Russland einnimmt. Der Untersuchungszeitraum umfasst die letzten sechs Jahre, da die Annexion der Krim durch Russ- land und seine Unterstützung der Besetzung von Teilen des Donbas eine Zäsur bilden, die auch für den Umgang mit historischen Fragen wichtige Implikatio- nen hat. In einigen Fällen wird zudem auf frühere Zeiträume rekurriert, wenn dies für die Erläuterung eines bestimmten Phänomens oder Trends sinnvoll erscheint. Im Folgenden werden drei Botschaften näher betrachtet, die staatliche Akteure in Bezug auf die Geschichtsdeutung vermitteln. Sie betreffen die russische Geschichte in ihrer Gesamtheit sowie zwei herausragende Ereignisse, nämlich die Oktoberrevo- lution als Beispiel für einen Bruch im Fluss der russischen Geschichte sowie den Sieg im Zweiten Weltkrieg. Der Umgang mit diesen beiden Ereignissen ist bezeichnend für den Stellenwert von Brüchen bzw. Siegen in der russischen Geschichtspolitik. In allen drei Fällen wird herausgearbeitet, wie histori- sche Inhalte als Instrument eingesetzt werden, um derzeitige innen- wie außenpolitische Zwecke zu erreichen. SWP Berlin Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands November 2020 8

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